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Zur Achtung vor dem Leben
Maßstäbe für Gentechnik und
Fortpflanzungsmedizin.
Kundgebung der Synode der EKD (Berlin
1987)
(in: EKD-Texte Nr. 20/1987)
I.
Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat auf ihrer Tagung vom 1.
bis 6. November 1987 in Berlin neuere Entwicklungen auf den Gebieten der
Gentechnik und der Fortpflanzungsmedizin als ihr Schwerpunktthema gewählt.
Diese Entwicklungen wecken Hoffnungen und Ängste. Viele sehen weitreichende
Möglichkeiten zur Erfüllung eines Kindeswunsches, bei der Behandlung von
Krankheiten, zur Verbesserung der Nahrungsmittelerzeugung oder im Umweltschutz.
Andere werten solche Erwartungen als einen Fortschrittsglauben, den sie nicht
länger teilen kön-nen; sie ziehen in Zweifel, daß die Gefahrenpotentiale
bereits ausreichend erkannt sind, und fordern, daß - auch durch den Gesetzgeber
- der Forschung und ihrer technischen Anwendung klare Grenzen gezogen werden.
Die Kompliziertheit der Sachfragen führt aber weithin auch zu einer großen
Unsicherheit, wie die Bedeutung der sich abzeichnenden Entwicklungen und die
Größe des Risikos wirklich einzuschätzen seien.
Angesichts solcher Hoffnungen, Ängste und Unsicherheiten fragen Christen nach
einer Orientierung aus ihrem Glauben an Gott, der das Leben liebt und von uns
die Achtung vor dem Leben fordert:
"Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von dem, was du gemacht
hast; denn du hast ja nichts bereitet, gegen das du Haß gehabt hättest. Wie
könnte etwas bleiben, was du nicht wolltest? Oder wie könnte erhalten wer-den,
was du nicht gerufen hättest? Du schonst aber alles; denn es gehört dir, Herr,
du Freund des Lebens, und dein unvergänglicher Geist ist in allem"
(Weisheit Salomos 11, 24 - 12, 1).
Die Synode hat sich nur mit einigen wichtigen Aspekten des Problemfeldes
befaßt. Sie ist sich darin einig, daß der Glaube an Gott den Schöpfer, den
Erlöser und den Vollender die Kirche und ihre Glieder dazu verpflichtet,
öffent-lich zur Sache zu sprechen und die Gewissen zu schärfen. Die Heilige
Schrift und der Glaube der Christen geben Grundlagen für ethische
Schlußfolgerungen, selbst wenn sich nicht für jede Einzelfrage eine Antwort
unmittelbar aus ihnen ableiten läßt. Die Synode ist überzeugt, daß den
Schlußfolgerungen nicht nur Christen zustimmen können. Die ethische
Urteilsbildung auf den Gebieten der Gentechnik und der Fortpflanzungsmedizin
ist um so dringlicher, als in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation die
Eigendynamik neuer Entwicklungen, der Machbarkeitsglau-be und kommerzielle
Interessen stärker sind als die Orientierung an grundlegenden Werten. In der
Welt von Wis-senschaft und Technik führt die Ethik oft ein Schattendasein.
II.
Bevor die Heilige Schrift vom Leben und Sterben des Menschen, von Gesundheit und
Krankheit oder vom Gelin-gen und Mißlingen seines Lebens spricht, sagt sie, wer
der Mensch ist. Er ist Teil aller Kreatur, aber zugleich als Mann und als Frau
Gottes Ebenbild. Indem er sich als Gottes Gegenüber weiß, kann er
Wertorientierungen begrün-den und Maßstäbe finden. Die Bezogenheit auf Gott
findet gerade auch im Gebet ihren Ausdruck: im Lob der Schöpfung und in der
Bitte um Wegweisung.
Die Synode hat das Schwerpunktthema unter die Überschrift gestellt: "Ich
glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen". Sie erinnert
mit diesem Satz aus Martin Luthers Auslegung des christlichen Glaubens an den
Ursprung alles Lebens in Gott, an den darin gründenden Wert alles Geschaffenen
und an die ausdrückliche Zuwen-dung Gottes in Jesus Christus zu jedem einzelnen
Menschen:
1. Alles Geschaffene kommt von Gott, lebt aus ihm und ist bestimmt zu seinem
Lob. Es hat darum einen eigenen Wert und Sinn und ist nicht bloße
Verfügungsmasse in der Hand des Menschen. Der Mensch schadet sich am Ende
selbst, wenn er die Ehrfurcht vor der Fülle, Ordnung und Schönheit des Lebens
verliert. Es gibt nicht nur Sünde in unseren mitmenschlichen Beziehungen,
sondern auch Sünde gegenüber dem Lebensrecht und Eigenwert der Kreatur
insgesamt.
2. Dem Menschen des wissenschaftlich-technischen Zeitalters ist seine besondere
Stellung unter den Geschöpfen Gottes nachdrücklich erfahrbar geworden: "Du
hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herr-lichkeit hast du
ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht Über deiner Hände Werk, alles hast
du unter seine Füße getan" (Psalm 8). Weltgestaltung gehört zum Wesen und
Auftrag des Menschen, auch die Entwicklung neuer medizinischer Verfahren und
die Gentechnik. Der Zuwachs an Wissen und Können und die natürlichen Lebensbedingungen
stehen nicht im Widerspruch zueinander, solange der Mensch den rechten Gebrauch
von seinen Möglichkeiten macht. Heute handelt er mehr und mehr, bevor der
rechte Gebrauch geklärt ist. Der Mensch steht in der Versuchung, die Erfolge
und den Nutzen von Wissenschaft und Technik zu Lasten der übri-gen Schöpfung
durchzusetzen und der mitgeschöpflichen Welt ihr Daseinsrecht zu rauben.
3. Diese Entwicklung richtet sich gegen den Menschen selbst. Je höher er
steigt, desto tiefer kann er fallen. Das vom Menschen in der Atomtechnik
geschaffene ungeheure Vernichtungspotential findet seine Parallele in der von
der Gentechnik ermöglichten enormen Fähigkeit zur Manipulation sowohl des
Menschen selbst wie der üb-rigen Schöpfung. Der Mensch errichtet damit eine
Herrschaft seiner eigenen wissenschaftlichen Möglichkeiten - schwer
durchschaubar, aber von größter Tragweite auch für kommende Generationen. Damit
wird Kontrolle immer schwieriger.
4. Die Würde des Menschen ergibt sich nicht nur aus seiner Sonderstellung unter
den Kreaturen, sondern vor allem aus der besonderen Zuwendung der Liebe Gottes
zu jedem einzelnen. Diese Einzigkeit jedes Menschen unter Gott ist seine
Menschenwürde. Alles kommt letztlich und entscheidend darauf an, daß einer
wahrhaft von sich sagen und bekennen kann: "Ich glaube, daß Gott mich und
mein Leben will" und daß er dann auch in der Be-grenzung mit anderen jedes
Menschenleben als würdig und wertvoll, als unersetzbar und also als notwendig
er-kennt und achtet. Gott will, daß im Lebensraum, den er jedem Menschen
einräumt, mit unserer Liebe seine Lie-be geschieht. Eine so bestimmte Würde des
Menschen ist nicht teilbar und nicht aberkennbar. Jeder Mensch, wie immer er
ist, jung oder alt, gesund oder krank, schwarz oder weiß hat die gleiche Würde.
Niemand hat über Wert oder Unwert eines anderen Menschenlebens zu befinden.
5. Dies gilt auch für das ungeborene menschliche Leben von seinem frühesten
Entwicklungsstadium an. Gottes Liebe zu jedem einzelnen Menschenkind beginnt
nicht erst mit der Geburt. Im werdenden menschlichen Leben ist mit der
Vereinigung von Eizelle und Samenzelle eine künftige Person angelegt.
III.
Diese Einsichten führen im Blick auf die Fragen der Gentechnik und
Fortpflanzungsmedizin zu einer Reihe von Schlußfolgerungen:
1. Die Synode erkennt und anerkennt auch in Forschung, Technik und ärztlicher
Kunst gute Schöpfungsgaben Got-tes. Sie erinnert aber an die Versuchung zur
Hybris und die zerstörerischen Kräfte, die allem menschlichen Stre-ben und
Trachten innewohnen. Die Freiheit eines Forschers erweist sich nicht nur im
Ausschöpfen seiner Mög-lichkeiten, sondern verwirklicht sich ebenso in der
Selbstbeschränkung angesichts des Eigenwertes alles Geschaffenen und der
unbedingten Würde jedes einzelnen Menschenlebens. Forschung, Technik und
Medizin dür-fen nicht alles tun, was ihnen an Möglichkeiten in die Hand gegeben
ist. Sie bedürfen der Ethik. Ein Beitrag da-zu ist die Tätigkeit von
Ethikkommissionen, in denen unmittelbar Beteiligte und Nichtbeteiligte
miteinander im Gespräch bleiben.
2. Die Gentechnik wird häufig als eine Schlüsseltechnologie der Zukunft
bewertet. Die Synode wendet sich nicht grundsätzlich gegen das politische und
wirtschaftliche Interesse, eine mögliche Wachstumsbranche zu fördern und zu
entwickeln. Sie gibt jedoch zu bedenken, daß eben dieses Interesse objektiv
eine Versuchung darstellt, um ökonomischer Vorteile willen ethische
Gesichtspunkte zu vernachlässigen. Die Absicht, wirtschaftliches Wachstum zu
sichern und neue Arbeitsplätze zu schaffen, ist für sich genommen noch nicht
ethisch gut.
3. In der Anwendung der Gentechnik stecken erhebliche Gefahren. Dies gilt
insbesondere für die Freisetzung von Lebewesen mit neukombinierten
Eigenschaften und für die Möglichkeit des Mißbrauchs zu militärischen Zwe-cken.
Im Unterschied zu der langsam fortschreitenden Evolution des Lebens verlaufen
die durch die Gentechnik ausgelösten Veränderungen unverhältnismäßig schnell.
Sie lassen schwerwiegende Rückwirkungen auf den Ar-tenbestand, die Vielfalt des
Genpools und das ökologische Gleichgewicht befürchten. Eine begleitende
Risiko-analyse, die Umwelt- und Sozialverträglichkeit neuer Entwicklungen
prüft, muß Transparenz für die Öffentlich-keit herstellen und mit einer
wirksamen staatlichen Aufsicht verbunden sein.
4. Die Achtung vor dem Leben verlangt, daß der Eigenwert von Pflanzen und
Tieren bei ihrer Nutzung durch den Menschen nicht weiter mißachtet wird. Der
Mensch hat kein Recht, durch den Mißbrauch gentechnischer Mög-lichkeiten mit
der Neukombination von Arten zu experimentieren und vorhandene Arten in ihrem
Bestand zu ge-fährden.
5. Die Synode erinnert daran, daß der Rat der Evangelischen Kirche in
Deutschland im November 1985 unter dem Titel "Von der Würde werdenden
Lebens" eine Handreichung zu den Fragen der extrakorporalen Befruchtung,
Fremdschwangerschaft und genetischen Beratung herausgegeben hat. Auf dieser
Grundlage erklärt sie:
a) Kinder sind Gabe und Aufgabe. Sie brauchen eine behütete Kindheit. Aber es
gibt keinen Anspruch auf Kin-der. Wenn mit Mitteln der extrakorporalen
Befruchtung ein Kindeswunsch verwirklicht werden soll, der sonst unerfüllt
bliebe, ist auch zu bedenken, ob das Wohl des Kindes gesichert sein wird. Die
Synode appelliert an den Gesetzgeber, auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin
rechtliche Regelungen zu treffen, die das Wohl des Kindes berücksichtigen.
b) Gewichtige Gründe sprechen gegen die extrakorporale Befruchtung. Aber die
Not der ungewollten Kinderlo-sigkeit darf nicht gering geschätzt werden. Der
Wunsch nach einem Kind rechtfertigt jedoch noch nicht jede medizinische
Maßnahme. Darum rät die Synode vom Verfahren der extrakorporalen Befruchtung
ab.
c) Heterologe Insemination, Samenspende und Eispende können zu Spannungen in
den Beziehungen der Eltern zueinander und zum Kind führen; dadurch würde die
familiäre Geborgenheit des Kindes gefährdet. Eine Verwendung von Samenzellen
oder Eizellen Dritter zur Überwindung der Unfruchtbarkeit muß darum
nach-drücklich abgelehnt werden.
d) Das Wohl des Kindes erfordert es im Normalfall, daß die Frau, die es
aufzieht, auch seine genetische und leibliche Mutter ist. Es kann zum Schicksal
werden, daß die leiblichen Eltern das Kind nicht erziehen können. Die
absichtlich herbeigeführte Aufteilung der Mutterschaft zwischen der Frau, von
der das Kind genetisch abstammt und die es aufziehen will, und jener, die es
austrägt und zur Welt bringt, verstößt gegen das An-recht des Kindes auf
einheitliche Elternschaft. Ersatzmutterschaft - ob gegen Entgelt
(Mietmutterschaft) oder als Freundes- oder Verwandtenhilfe (Leihmutterschaft) -
muß gesetzlich verboten werden. Abreden dieser Art sind sittenwidrig.
e) Nach christlicher Überzeugung ist eine liebevolle Familie der beste Rahmen
für das Heranwachsen von Kin-dern. Die Manipulation von Zeugung, Empfängnis und
Schwangerschaft gefährdet Bindung und Bestand von Ehe und Familie.
f) Das Recht, sich genetisch nicht erforschen zu lassen, gehört zur
Menschenwürde. Ebensowenig darf zu hu-mangenetischer Beratung und Diagnostik
verpflichtet oder genötigt werden; sie kann immer nur freiwillig sein. Die
Möglichkeiten der Genomanalyse geben den gegenwärtigen Ängsten vor der
Schaffung des "gläser-nen Menschen" zusätzliche Nahrung. Insbesondere
wo öffentliche und private Arbeitgeber oder Versicherun-gen das Instrument der
Genomanalyse benutzen sollten, ohne daß Arbeitnehmer oder Versicherte die
recht-lich garantierte Freiheit haben, sich genetisch nicht erforschen zu
lassen, ergäbe sich die schwerwiegende Ge-fahr der Benachteiligung oder
Ausgrenzung von Individuen oder Gruppen.
g) Humangenetische Beratung soll gewährleisten, daß das Lebensrecht auch eines
behinderten Kindes geachtet und mit der pränatalen Diagnostik nicht automatisch
die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch im Falle einer
festgestellten Fehlbildung verbunden wird. Wenn feststeht, daß ein Kind mit
einer Krankheit oder Fehlbildung erwartet wird, muß die Beratung verdeutlichen,
daß es sich bei den beiden Alternativen, ein krankes Kind anzunehmen und
auszutragen oder die Schwangerschaft abzubrechen, um einen kaum lösbaren
Konflikt handelt. Es kann kein Ziel sein, Leid unbedingt zu vermeiden; Leid
kann auch stärken oder ungeahn-te Kräfte wecken. Zu beachten ist, daß die
individuelle Entscheidung einer betroffenen Familie auch abhän-gig ist von der
Einstellung zu Behinderten in der Gesellschaft insgesamt. Eine Gesellschaft,
die Behinderte nicht integriert, verschärft den Konflikt in der
humangenetischen Beratung. Die Mitarbeiter in der humange-netischen Beratung
brauchen in ihrer verantwortungsvollen Aufgabe, Menschen in Krisensituationen
zu be-gleiten, zusätzliche Angebote in der Aus-, Fort- und Weiterbildung.
h) Gen-Transfer und andere Eingriffe in menschliche Keimbahnzellen, die in
Zukunft technisch möglich werden könnten, sind aus ethischen Gründen nicht
vertretbar. Angesichts der gegenwärtigen Einsicht in Risiken, Vor-aussetzungen
und Folgen solcher Eingriffe muß es als äußerst fraglich gelten, ob zu
irgendeinem Zeitpunkt eine auch nur begrenzte Revision dieses Urteils möglich
sein wird.
i) Gezielte Eingriffe an menschlichen Embryonen, die ihre Vernichtung in Kauf
nehmen, sind ethisch nicht ver-tretbar. Die Synode erklärt ausdrücklich, daß
die "verbrauchende" oder experimentelle Forschung an Embry-onen eine
wesentliche Grenze überschritten hat. Sie kann vor "verbrauchender"
Forschung an sogenannten überzähligen Embryonen, der Erzeugung von Embryonen zu
Forschungszwecken - und seien die For-schungsziele noch so hochrangig - sowie
dem "Verbrauch" von Embryonen zur pränatalen Diagnostik nur dringend
warnen und fordert entsprechende gesetzliche Regelungen.
j) Achtung vor der Würde und Individualität des Menschen müssen bei jeder
Entscheidung den obersten Grundsatz bilden. Menschliches Leben darf darum nicht
nach einem fremden, planenden, menschenzüchteri-schen Willen hergestellt
werden. Klonen sowie Chimären- und Hybridbildung verletzen in tiefgehender
Wei-se sowohl die vorgegebene Gestalt des Lebens als auch seine Unverfügbarkeit
und Individualität.
6. Gerade wenn ein umfassender und uneingeschränkter Schutz für menschliche
Embryonen gefordert wird, erhebt sich um so dringlicher die Frage, was daraus
für das Problem des Schwangerschaftsabbruchs folgt. Die Synode sieht es als
eine positive Entwicklung an, daß die aktuelle Diskussion über Gentechnik und
Fortpflanzungsmedi-zin zu einer neuen Aufmerksamkeit und Wachsamkeit gegenüber
der belastenden Praxis der Schwangerschaftsabbrüche und ihrer bedrückend hohen
Zahl beigetragen hat. Der Schutz des ungebrochenen Lebens ist un-teilbar. Ein
Embryo ist ein menschliches Wesen mit eigener Identität und eigenem Wert. Eine
Abtreibung - in welchem Stadium auch immer - ist Tötung menschlichen Lebens.
Der Schutz des Embryo in vitro (außerhalb des Körpers) und der Schutz des
Embryo in vivo (im Mutterleib) stehen ethisch in einem unauflöslichen
Zusammenhang. Angesichts der gegenwärtigen Bemühungen um einen gesetzlichen
Embryonenschutz muß das Bewußtsein in Kirche und Öffentlichkeit weiter
verstärkt werden, daß es sich in den straffrei gestellten Fällen des
Schwangerschaftsabbruchs nicht um eine prinzipielle Einschränkung des Schutzes
für das ungeborene Leben und somit nicht um ein Recht zur Abtreibung handelt,
sondern um das notwendig unvollkommene Bemühen, nicht auflösbare
Konfliktsituationen zu regeln. Das weiterreichende Ziel muß es freilich sein,
schon dem Vorfeld der ungewollten Schwangerschaften, vor allem der Erziehung zu
verantwortlicher Partnerschaft und Sexualität, die Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Auch sollten stärker als bisher auf Gemeinde- und Nachbarschaftsebene wirk-same
Hilfen für Menschen angeboten werden, für die das Ja zum Kind durch viele
Umstände erschwert ist. Auf diesem Feld steht die Glaubwürdigkeit der Kirche
auf dem Spiel.
IV.
Die Synode erinnert alle Christen, die als Eltern, Ärzte, Wissenschaftler oder
Politiker Entscheidungen über das Leben zu treffen haben, an die Kraft des
Gebets: Laßt uns Gott bitten um Orientierung für unseren Weg, um Ver-trauen in
die Treue Gottes zu seiner Schöpfung und um die Gewißheit der Vergebung, wo wir
versagen und schul-dig werden. Wir alle stehen unter der Zusage und dem Gebot
der Liebe Christi.
Berlin-Spandau, den 6. November 1987
Der Präses der Synode
der Evangelischen Kirche in Deutschland
gez. Schmude
Anhang
Von der Würde werdenden Lebens.
Extrakorporale Befruchtung,
Fremdschwangerschaft
und genetische Beratung.
Eine Handreichung der
Evangelischen Kirche in Deutschland
zur
ethischen Urteilsbildung
Die medizinische Forschung hat auch im Blick auf die menschliche
Fortpflanzung in letzter Zeit weitreichende neue Erkenntnisse gewonnen. Diese
können und sollen dem Menschen dienen. Zum einen soll unfruchtbaren Ehepaaren
die Erfüllung eines Kinderwunsches ermöglicht werden; zum andern soll die
Geburt von Kindern mit schweren Erbleiden möglichst vermieden oder eine
Therapie von Behinderungen ermöglicht werden.
Neben diesem Ziel, einzelnen Menschen zu helfen, gibt es freilich auch ein rein
theoretisches Forschungsinteresse. Die Erforschung früher Phasen der
menschlichen Entwicklung gewährt Einblick in die Entstehung menschlichen Lebens.
Damit eröffnen sich zugleich Möglichkeiten und Gelegenheiten zu Manipulationen
am Anfang des Lebens, woraus heute noch nicht absehbare Gefahren erwachsen.
Wünsche im Blick auf das eigene Kind, therapeutische Zielsetzungen und das
Interesse der Forschung können in Gegensatz zur christlichen Ethik geraten.
Evangelische Stellungnahmen aus Anlaß der Reform des Strafrechts zum
Schwangerschaftsabbruch (§ 218 StGB) haben immer vorausgesetzt, daß ethische
Verantwortung für das menschli-che Leben mit dem Zeitpunkt der Zeugung beginnt,
und deshalb einen angemessenen Schutz des werdenden menschlichen Lebens als
eines hohen Rechtsgutes verlangt.
So werfen die neuen Möglichkeiten medizinischer Eingriffe am Anfang des Lebens
ethische Grundfragen auf, de-nen die Kirche nicht ausweichen darf - um der
Betroffenen und der Verantwortung für das Leben willen.
1. Grund-Sätze
1.1 Menschliches Leben ist eine Gabe Gottes und hat eine besondere Würde. Diese
Gabe, die in Gottes Liebe ihren Ursprung hat, will in Liebe angenommen und
weitergegeben werden; menschliches Leben ist durch die Liebe und zur Liebe
bestimmt. Mann und Frau sind so geschaffen, daß aus ihrer Liebe in -
leib-seelischer Ganzheit neues Leben hervorgehen kann. Bei einer Befruchtung
außerhalb des Mutterleibes wird die Entste-hung menschlichen Lebens von Mann
und Frau an einen medizinisch-technischen Vorgang gebunden. Dabei besteht die
Gefahr, daß das Werden menschlichen Lebens in Spannung gerät zu seiner
Bestimmung durch die Liebe und zur Liebe.
1.2 Zeugung und Geburt gehören nach christlichem Verständnis in den
Zusammenhang von Liebe und Ehe. Dies gilt, obwohl es auch in der Ehe Zeugung
ohne Liebe und Schwangerschaft außerhalb der Ehe gibt. Der Zu-sammenhang von
Liebe, Zeugung und Geburt wird aufgelöst, wenn der Akt der Zeugung durch
medizinische Eingriffe ersetzt wird. Dies kann zu heute noch nicht absehbaren
Folgen führen.
1.3 Kinderlosigkeit ist für viele ein hartes Schicksal, aber auch eine Chance
für ein anders erfülltes und sinnvol-les Leben. Es gibt keinen Anspruch auf
Kinder. Kinder sind Gabe und Aufgabe. Sie brauchen eine behütete Kindheit. Ihr
Anrecht darauf wird verletzt, wenn eine Frau ohne Mann leben, aber ein Kind
bekommen will, so daß dieses ohne Vater aufwachsen müßte, statt in einer
Geborgenheit, wie sie normalerweise Ehe und Fa-milie bieten. Kinder haben auch
ein Anrecht darauf, daß die leibliche Mutter zugleich die genetische ist.
Kin-der müssen erfahren können, wer ihre leiblichen Eltern sind; eine
Befruchtung mit Samen anonymer Spender versucht dies zu unterbinden.
1.4 Die Erfüllung eines individuellen Kinderwunsches durch eine extrakorporale
Befruchtung bindet in den me-dizinischen Einrichtungen erhebliche finanzielle
Mittel. Diese Mittel stehen zur Behebung von anderer Not nicht mehr zur Verfügung.
1.5 Im werdenden menschlichen Leben ist von dem Augenblick an, in dem sich
Samen und Ei vereinen, eine künftige Person angelegt. Schon der Embryo ist zum
unverwechselbaren Individuum bestimmt. Auch im Sta-dium der ersten Zellteilung
besitzt er schon die gleiche ethische Qualität wie ein Fetus in der
vorgerückten Schwangerschaft.
1.6 Genetische Beratung darf sich immer nur auf den Einzelfall beziehen. Sie
muß jeweils die besonderen per-sönlichen und sozialen Umstände berücksichtigen
und hat davon auszugehen, daß auch schon ungeborenem menschlichem Leben
Individualität eignet.
1.7 Eine genetische Untersuchung, bei der das Erbgut analysiert wird, kann zur
Erkennung von Krankheitsrisiken hilfreich sein. Solche Untersuchungen dürfen
jedoch nur freiwillig und unter Wahrung strengster Verschwie-genheit erfolgen.
Denn zur Menschenwürde gehört das Recht, sich nicht genetisch erforschen zu
lassen
1.8 Das Genom (Erbgut) prägt biologisch die Individualität eines Menschen. Die
Menschenwürde gebietet, daß diese nicht manipuliert wird. Die Freiheit des
Menschen beruht auch darauf, daß ihm die individuellen Anla-gen nicht durch
Eingriffe anderer Menschen zugeteilt worden sind. Ein Gen-Transfer und andere
Eingriffe in die Keimbahnzellen, die in Zukunft technisch möglich werden
könnten, sind deshalb aus ethischen Gründen nicht vertretbar. Heute kann noch
nicht abgesehen werden, ob eine Modifikation dieser Ablehnung mit der
therapeutischen Begründung, durch Gen-Transfer oder ähnliche Eingriffe könnten
Erbkrankheiten vermieden werden, in Zukunft möglich werden wird. Die Forschung
nach dieser Möglichkeit muß durch ständige kriti-sche Fragen nach der ethischen
Verantwortbarkeit begleitet werden.
1.9 Die Freiheit eines Forschers verwirklicht sich auch in der Selbstbeschränkung,
zumal wo ethische Grenzen berührt werden. Freiheit der Forschung hat ihre
Grenze an der Würde des menschlichen Lebens. Deshalb muß z. B. davor gewarnt
werden, wissenschaftliche und finanzielle Kapazitäten auf eine ethisch nicht
vertret-bare Forschung an menschlichen Embryonen festzulegen.
2. Extrakorporale Befruchtung
2.1 Kommt eine Befruchtung auf natürlichem Wege nicht zustande, so besteht
medizinisch-technisch die Mög-lichkeit, eine Eizelle operativ zu entnehmen, sie
in einem Gefäß mit einer Samenzelle verschmelzen zu lassen
("In-Vitro-Fertilisation") und den sich entwickelnden Embryo in die
Gebärmutterhöhle einzupflanzen ("Emb-ryo-Transfer").
2.2 Bevor eine extrakorporale Befruchtung als therapeutische Maßnahme in
Erwägung gezogen wird, müssen zuvor alle anderen Möglichkeiten, den
Kinderwunsch eines Ehepaares zu erfüllen, geklärt worden sein. Die Eheleute
sollten auch die Möglichkeit einer Adoption oder des Verzichts auf Kinder in
Betracht ziehen. Es darf keine Verpflichtung des Arztes zur extrakorporalen
Befruchtung geben.
2.3 Bei Zeugung und Geburt eines Kindes beeinflussen sich leibliche und
seelische Vorgänge wechselseitig. In einem erheblichen Teil der Fälle ist
Sterilität des Mannes oder der Frau auch psychisch bedingt. Die psychi-schen
Ursachen würden durch eine extrakorporale Befruchtung nicht behoben, sondern
nur technisch über-spielt.
2.4 Das abgeschätzte Risiko für angeborene Fehlbildungen liegt bei der
extrakorporalen Befruchtung nicht höher als bei natürlicher Zeugung. Allerdings
ist derzeit die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung zweieiiger Zwil-linge.
bei denen ein erhöhtes Fehlbildungsrisiko besteht, größer.
2.5 Es ist noch unerforscht, ob es langfristige somatische oder
psychosomatische Folgewirkungen hat, wenn der Embryo die ersten Lehenstage in
einem Gefäß verbringt statt im Mutterleib; das Risiko ist nicht
auszuschlie-ßen.
2.6 Die Vernichtung überzähliger Embryonen bei extrakorporalen Befruchtungen
steht in unauflöslichem Wider-spruch zu dem Schutz des werdenden menschlichen
Lebens. So entsteht bei extrakorporalen Befruchtungen ein ethischer Konflikt,
dessen Austrag hohes Verantwortungsbewußtsein erfordert.
2.7 Der medizinische Eingriff mutet eine größere Verantwortungslast zu als die
natürliche Zeugung. Gewichtige Gründe lassen zu genereller Zurückhaltung raten:
Bei einer extrakorporalen Befruchtung geht der Zusam-menhang des Werdens
menschlichen Lebens mit der leib-seelischen Ganzheit des Zeugungsvorgangs
verlo-ren. Nur begrenzt läßt sich sicherstellen, daß der Kinderwunsch dem
vorrangigen Recht des Kindes in zurei-chendem Umfang Rechnung trägt.
Überzählige Embryonen müssen sterben. Achtung vor der Würde und In-dividualität
des Menschen müssen bei jeder Entscheidung den obersten Grundsatz bilden.
2.8 Der Wunsch auch einer alleinstehenden Frau, Mutter zu werden, ist
verständlich. Sie sollte aber, wenn sie eine extrakorporale Befruchtung in
Erwägung zieht, bedenken, daß ihr Kind ohne Vater aufwachsen würde. Nach
christlicher Überzeugung ist die liebevolle Familie der beste Rahmen für eine
Kindheit, wie sie der Be-stimmung des menschlichen Lebens durch die Liebe und
zu ihr entspricht.
2.9 Es müssen durch Richtlinien hohe ethische Standards für die Durchführung
der extrakorporalen Befruchtung festgelegt werden, die Kontrollmöglichkeiten
gewährleisten und Mißbrauch wie Experimente an Embryonen oder die Beteiligung
von Ei oder Samen Dritter ausschließen. Die vom 88. Deutschen Ärztetag im Mai
1985 beschlossenen "Richtlinien zur Durchführung von
In-Vitro-Fertilisation und Embryo-Transfer als Behandlungsmethode der
menschlichen Sterilität" und die entsprechenden Ergänzungen der
Berufsordnung der Ärzte sind insofern zu begrenzen. Solche Richtlinien dürfen
nicht durch nur formale Handhabung um ihren Sinn gebracht werden. Therapeutische
Eingriffe in die menschliche Keimbahn setzen wesentliche Verbesse-rungen der
In-Vitro-Fertilisation voraus. Dies würde ausgedehnte Experimente auch an
menschlichen Emb-ryonen notwendig machen; sie aber sind ethisch nicht
vertretbar.
3. Heterologe Insemination und Eispende
3.1 Kinderlosigkeit kann durch die Zeugungsunfähigkeit des Mannes oder durch
die Sterilität der Frau bedingt sein. Medizinisch-technisch kann zu einer
Befruchtung entweder der Samen eines fremden Mannes oder das Ei einer fremden
Frau benutzt werden.
3.2 Die von einer Kommission der Evangelischen Kirche in Deutschland 1971
erarbeitete Denkschrift zu Fragen der Sexualethik führte aus (Ziffer 59):
"Wenn wegen Zeugungsunfähigkeit des Mannes seine Frau von ihm kein Kind
empfangen kann, wird heute gelegentlich die Übertragung fremden Samens auf die
Ehefrau emp-fohlen, sofern dringender Kinderwunsch besteht (sogen. 'heterologe
Insemination').
Aber selbst wenn im Zeitpunkt der Beantragung solcher Maßnahme zwischen
dem kranken (sc. zeugungsun-fähigen) Ehemann und seiner Frau Übereinstimmung
besteht, kann danach das Verhältnis der Eheleute ge-stört und ein so
empfangenes Kind besonderen Belastungen ausgesetzt werden. Auch juristische und
erbbio-logische Probleme sind heute noch nicht völlig geklärt.
Die Übertragung ehefremden Samens auf die Ehefrau ist nach christlichem
Verständnis der Ehe - auch wenn der Spender unbekannt bleibt und völliges
Einverständnis zwischen den Eheleuten besteht - ein Einbruch in die Ehe und
damit eine Verletzung der Ausschließlichkeit ehelicher Beziehungen. Aus diesem
Grunde kann die Übertragung fremden Samens auf die Ehefrau ethisch nicht gleich
behandelt werden wie die instrumentel-le Besamung mit dem Samen des
Ehemannes."
3.3 Weil für das bestimmungsgemäße Werden menschlichen Lebens die Liebe
der Eltern im Akt der Zeugung wesentlich ist, gelten die Vorbehalte, die gegen
die extrakorporale Befruchtung erhoben wurden, auch gegen die heterologe
Insemination.
3.4 Die genetische Abstammung ist ein Bestandteil der persönlichen Identität.
Deshalb besteht bei heterologer Befruchtung ein Unterschied, ob der Spender
anonym bleibt oder bekannt ist. Eine schicksalhafte Unkenntnis der Herkunft ist
mit einer bewußt herbeigeführten ethisch nicht vergleichbar. Eltern schulden ihrem
Kind Aufklärung über seine genetische Herkunft. Dies kann sogar aus
medizinischen Gründen lebenswichtig wer-den.
3.5 Wenn der Vater des Kindes nicht der Ehemann und der Familienvater ist, kann
dies zu Spannungen in den Beziehungen der Eltern zueinander und zum Kind
führen; dadurch würde die familiäre Geborgenheit des Kindes gefährdet.
3.6 Eine heterologe extrakorporale Befruchtung ist ethisch auszuschließen; zu
den Einwänden gegenüber einer heterologen Insemination und Eispende kommen die
Vorbehalte gegenüber der extrakorporalen Befruchtung hinzu.
4. Ersatzmutterschaft
4.1 Neue medizinische Techniken machen es möglich, einen Embryo nicht von der
Frau austragen zu lassen, von der das Ei stammt. Ist eine Frau nicht zur
Schwangerschaft fähig, so kann nach der Befruchtung der Embryo in die
Gebärmutterhöhle einer anderen Frau eingepflanzt werden. Es hat inzwischen
mehrere Fälle solcher Fremdschwangerschaften gegeben.
4.2 Nach unserer Rechtsordnung ist die gebärende Mutter die leibliche Mutter.
Dies soll dem Schutz von Mutter und Kind dienen. Auch in ethischer Sicht hätte
im Falle einer Ersatzmutterschaft die leibliche Mutter, die in der
Schwangerschaft mit dem Kind intensiv verbunden wurde, Vorrang vor der
genetischen.
4.3 Schwangerschaft und das zu gebärende Kind dürfen nicht zur Ware gemacht
werden. Die Mutterschaft darf nicht vermietet werden. Zudem besteht die Gefahr,
daß sozial schwache Frauen ausgebeutet werden, indem sie die Gesundheitsrisiken
und die seelischen Belastungen einer Fremdschwangerschaft gegen Entgelt auf
sich nehmen.
4.4 Aber auch unter der Voraussetzung, daß die Ersatzmutterschaft nicht
entlohnt wird, sondern etwa als Freun-des- oder Verwandtenhilfe geschieht,
bestehen unüberwindliche ethische Bedenken. Der gelegentliche Hin-weis darauf,
daß das Alte Testament stellvertretende Elternschaft kennt, geht fehl; die
Strukturen von Ehe und Familie haben sich fortentwickelt. Auch ein Vergleich
mit der Adoption ist nicht stichhaltig, weil deren Sinn darin besteht, einem
Kind fehlende Elternschaft zu gewähren. Hingegen führt die Ersatzmutterschaft
ei-ne Trennung von leiblicher und sozialer Elternschaft willentlich ein und
verursacht so eine Verunsicherung des Kindes über sein Herkommen.
4.5 Das legitime Interesse des Kindes verlangt normalerweise eine einheitliche
(genetische, leibliche und aufzie-hende) Mutter- bzw. Elternschaft. Es kann zum
Schicksal werden, daß die leiblichen Eltern das Kind nicht erziehen können. Die
Aufspaltung der Mutterschaft, in die sich dann die Frau, von der das Kind
genetisch ab-stammt und die es aufziehen wird, und jene, die es austrägt und
zur Welt bringt, teilen, verstößt gegen das Anrecht des Kindes auf einheitliche
Elternschaft.
Die Beziehung zwischen Mutter und Kind während der Schwangerschaft übt
einen wichtigen Einfluß auf die werdende Persönlichkeit des im Mutterleib
heranwachsenden Kindes aus. Deshalb sollte dieser Einfluß mög-lichst positiv
gestaltet sein. Dazu gehört die leib-seelische Bindung zwischen Mutter und
Kind; ebenso gehört dazu, daß die Mutter die Zeugung in der Liebe zum Vater des
Kindes bejaht. Auch für die Annahme des Kindes durch die Eltern spielt das
Erlebnis der Schwangerschaft eine Rolle. Dies gilt insbesondere, wenn ein
be-hindertes Kind zur Welt kommt. Bei der Ersatzmutterschaft entsteht in einem
solchen Fall ein besonders schwerwiegendes Problem.
5. Genetische Beratung und pränatale Diagnostik
5.1 Nicht alle angeborenen Fehlbildungen oder Krankheiten sind Erbkrankheiten;
viele beruhen auf vorgeburtli-chen Schädigungen. Der heutige Erkenntnisstand
der Humangenetik läßt es zu, zahlreiche Krankheiten und Fehlbildungen als
erblich zu identifizieren. Bei den meisten Erbkrankheiten kann man aus dem
Vererbungs-muster jedoch nur eine Wahrscheinlichkeitsberechnung für die
Wiederholung einer bestimmten Krankheit ab-leiten. Während der Schwangerschaft
gelingt es mit unterschiedlichen Untersuchungsmethoden, einige erbli-che und
nichterbliche Krankheiten und Fehlbildungen zu diagnostizieren. In der
Angewandten Humangenetik wird einzelnen Betroffenen und Familien genetische
Beratung angeboten. Diese kann das für alle Eltern gel-tende Risiko genetisch
bedingter oder auch während der Schwangerschaft entstandener Störungen oder
Auf-fälligkeiten von Neugeborenen (etwa 2% bis 4% der Fälle) nicht aufheben.
Manche Schädigungen können auch nach der Geburt noch medizinisch behandelt
werden. Die Möglichkeiten der vorgeburtlichen Diagnos-tik, insbesondere der
Voraussagen von Krankheiten, stellen vor weitreichende Entscheidungen, die
gemein-sam von den Eltern, den beteiligten Ärzten und Mitarbeitern ethisch
verantwortet werden müssen.
5.2 Allen erblich belasteten Personen und Familien ist humangenetische Beratung
und Diagnostik zu empfehlen. Eine solche Beratung darf jedoch nicht verlangt
werden; sie kann immer nur freiwillig sein. Auch dürfen bei krankhaftem Befund
nicht automatisch bestimmte Konsequenzen gezogen werden. Humangenetische
Famili-enberatung darf nicht dem Ziel dienen, den Bestand an Erbfaktoren einer
Bevölkerung zu verbessern.
5.3 Humangenetische Beratung vor einer Schwangerschaft kann dazu beitragen, daß
durch Verzicht auf Kinder genetisch bedingte Krankheiten verhindert werden.
Gelegentlich wird aber auch eine Entscheidung für eine "Schwangerschaft
auf Probe" getroffen, mit der Absicht, die Schwangerschaft abzubrechen,
wenn tatsächlich eine Fehlbildung diagnostiziert wird. Ein Entschluß zur
Schwangerschaft auf Probe wiegt, selbst wenn eine Fehlbildung äußerst
unwahrscheinlich wäre, schwer. Es ist ethisch bedenklich, wenn menschliches
Leben hervorgerufen und getestet wird in der Absicht, es bei Vorliegen einer
Schädigung zu töten.
5.4 Genetische Beratung während der Schwangerschaft hat die Aufgabe, Eltern
darüber aufzuklären, ob, wie und mit welcher Genauigkeit das in der Familie
vorhandene spezielle Risiko für eine Krankheit oder Fehlbildung bestimmt werden
kann. Die Eltern müssen darauf vorbereitet werden, daß die Ergebnisse der
pränatalen Dia-gnostik sie in einen Entscheidungskonflikt stellen können.
Beratung soll gewährleisten, daß das Lebensrecht auch eines behinderten Kindes
gewürdigt wird und mit der Pränataldiagnostik nicht automatisch die
Ent-scheidung für einen Schwangerschaftsabbruch im Falle einer festgestellten
Fehlbildung verbunden wird. Prä-natale Diagnostik lediglich zum Zweck einer Geschlechtsbestimmung
ist wegen des möglichen Mißbrauchs ethisch nicht vertretbar und muß
ausgeschlossen bleiben.
Wenn feststeht, daß ein Kind mit einer Krankheit oder Fehlbildung
erwartet wird, muß die Beratung verdeut-lichen, daß es sich bei den beiden Alternativen,
ein krankes Kind anzunehmen und auszutragen oder die Schwangerschaft
abzubrechen, um einen kaum lösbaren menschlichen Konflikt handelt. Wenn bei
einem krankhaften Befund automatisch die Konsequenz eines Abbruchs der
Schwangerschaft gezogen wird, ist die Auseinandersetzung mit diesen Konflikten
verdrängt.
5.5 Der ethische Konflikt ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
Einer verwerflichen Tötung werdenden menschlichen Lebens steht die
Übernahme von Leid und Verantwor-tung gegenüber, die ein krankes Kind für die
Eltern bedeutet. Aber auch die Last der Krankheit für das erwar-tete Kind muß
stellvertretend übernommen werden. Wenn Eltern sich bereitfinden, das Leid und
die Verant-wortung, die mit einem behinderten Kind auf sie zukommen, zu übernehmen,
so entscheiden sie damit auch, daß ihr Kind mit der schweren Krankheit oder
Mißbildung leben muß. Es kann kein Ziel sein, Leid unbedingt zu vermeiden; Leid
kann auch stärken oder ungeahnte Kräfte wecken. Die Meinung, von Geburt an
mißge-bildete oder schwerstbehinderte Menschen dürften nicht geboren werden,
ist ethisch nicht akzeptabel und mit dem christlichen Glauben unvereinbar.
Neben der schwierigen Abwägung zwischen Schuld, Leidübernahme und Leidzumutung
geht es um ein Abwägen der Fähigkeit der Eltern bzw. der Familie, das Schicksal
eines kranken Kindes mitzutragen. Immer spielt auch das Ausmaß der spezifischen
Erkrankung, der Grad einer zu erwartenden Behinderung bei der gemeinsamen
Bearbeitung dieses Konfliktes eine entscheidende Rolle. Be-ratung kann nur
individuell erfolgen und sich am Einzelschicksal der Familie orientieren. Das
Abwägen im Einzelfall läßt sich nicht durch Gewichtung verschiedener
Behinderungen (nichtlebensfähig, schwerstbehin-dert, leichtbehindert, riskant)
ersetzen.
Weder kann sich eine Entscheidung nur nach den Wünschen der Eltern
richten, noch darf der Berater seine Vorstellungen aufdrängen. Genetische
Beratung ist in diesem Sinne ein kommunikativer Prozeß, der beide Seiten,
Eltern und Berater, zur gewissenhaften, gemeinsamen ethischen Verantwortung in
allen Entscheidun-gen aufruft.
5.6 Im Falle der Entscheidung für das Austragen eines mißgebildeten oder
schwerstbehinderten Kindes ist eine kontinuierliche beratende
Schwangerschaftsbegleitung notwendig. Die Nachbetreuung in derartigen
Konflikt-situationen ist für die Kirche und ihre Diakonie zunächst eine
seelsorgerliche Aufgabe, erfordert aber auch weitere flankierende Maßnahmen, um
die gesellschaftliche Annahme von Behinderten, insbesondere behin-derten
Kindern, zu unterstützen. Die Kirche darf allerdings auch keine Versprechungen
machen, die sie nicht einhalten kann. Es muß selbstverständlich sein, daß auch
bei einer Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch eine Nachbetreuung und
Begleitung erfolgt.
5.7 Humangenetische Beratung und Diagnostik erfordert selbstverständlich eine
qualifizierte Ausbildung auf dem Gebiet der Humangenetik und der
Beratertätigkeit. Zusätzlich aber wird an den Berater ein hoher Anspruch an
menschlicher Zuwendung und ethischem Urteilsvermögen gestellt, damit die
Beratung zu verantworteten Entscheidungen verhelfen kann.
Diese Handreichung wurde in einer vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland berufenen Arbeitsgruppe vorbereitet. Der Arbeitsgruppe gehörten an:
Professor Dr. Martin Honecker, Bonn
Professor Dr. Jürgen Hübner, Heidelberg
Professor Dr. Traugott Koch, Hamburg
Professor Dr. Gert Preiser, Frankfurt
Direktor Gerhard Röckle, Stuttgart
Oberkirchenrat Rüdiger Schloz, Hannover
Professor Dr. Traute Schroeder-Kurth, Heidelberg
Professor Dr. Hansjürgen Staudinger, Freiburg.
Die Erstveröffentlichung erfolgte im November 1985 als Heft 11 der Reihe
EKD-Texte.