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Synode der Evangelischen
Kirche in Deutschland
zum Thema "Was ist der Mensch?"
Beschluss
7. Tagung der 9. Synode der EKD Timmendorfer Strand,
3.-8. November 2002
Beschluss: Kundgebung zum Schwerpunktthema "Was ist
der Mensch?"
Kundgebung
der 9. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland
auf ihrer 7. Tagung
zum
Schwerpunktthema
Was ist der Mensch?
"...wenig niedriger als Gott"?
Das christliche Verständnis vom Menschen in den
Herausforderungen unserer Zeit
Was ist der Mensch, der sich erhebt und seinen Bruder erschlägt?
Was ist der Mensch, der sein Leben einsetzt, um andere zu retten?
Was ist der Mensch, der staunend stillsteht vor dem Wunder des
Lebens? Was ist der Mensch, der Flugzeuge in Häuser
hineinsteuert? Was ist der Mensch, der Kinder aus Sexuallust
umbringt? Was ist der Mensch, der sich skrupellos auf Kosten
anderer bereichert? Was ist der Mensch, der liebevoll einen
schwerstbehinderten Familienangehörigen pflegt? Was ist der
Mensch, der unversöhnlich auf Rache sinnt? Was ist der Mensch?
Unter allen Geschöpfen ist der Mensch das einzige, das so nach
sich selbst fragen kann - und muss. Er muss es, weil er an sich und
anderen beeindruckende Fähigkeiten und Möglichkeiten
wahrnimmt, aber auch Grenzen und abgründigen Gefährdungen,
die ihn zutiefst erschrecken. Durch nichts werden Menschen mehr
beglückt, aber auch mehr bedroht als durch ihresgleichen. Sie
erleben sich und andere als durch und durch ambivalente Wesen.
Oft genug ist der Mensch sich selbst ein Rätsel. Und darum wird die
Frage des Menschen nach sich selbst von Anfang an weiter
getrieben zur Frage nach einem transzendenten Ursprung und
letzten Ziel seines Daseins, nach dem, was ihm Sinn, Halt und
Ordnung geben kann, nach Gott.
In der Bibel hat die Frage nach dem Menschen einen zentralen Ort.
Sie steht hier ganz im Horizont der Gottesbeziehung. In der
Hinwendung zu Gott beginnt der Mensch, auch sich selbst zu
verstehen: "Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des
Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig
niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn
gekrönt" (Ps 8,5f.). Darin spricht sich das Staunen darüber aus,
dass der Mensch - der endliche, schwache, fehlbare Mensch - zu
Gottes Bild erschaffen, d.h. zur Gemeinschaft mit Gott in Zeit und
Ewigkeit bestimmt ist und dass ihm als Gottes Statthalter die
Fürsorge und Verantwortung für die Erde anvertraut ist.
Wer so hoch erhöht ist, kann tief fallen. Die Bibel spricht von
diesem "Fall" nicht als bloßer Möglichkeit, sondern als Wirklichkeit
des Menschen. In die Schöpfung ist das Misstrauen gegen Gott, die
Sünde, eingezogen. Sie verführt den Menschen dazu, sich zu
überheben, sein zu wollen wie Gott (Gen 3,5). Aber indem der
Mensch dieser Verführung folgt, zerstört er die heilvolle Beziehung
zu Gott, zu seinen Mitmenschen und Mitgeschöpfen sowie zu sich
selbst. Durch die Schöpfung und durch das Leben des Menschen
geht nun ein Riss. Das wird erfahrbar in gestörten Beziehungen der
Menschen zu ihrem eigenen leib-seelischen Dasein. Es zeigt sich in
der Entfremdung und Gleichgültigkeit der Menschen untereinander
sowie in einem rücksichtslosen Umgang mit den übrigen
Geschöpfen. Es führt zum Verlust der Gottesbeziehung und zu einer
daraus folgenden inneren Unbehaustheit und Orientierungslosigkeit
des Menschen oder in die verzweifelte Suche nach Ersatzgöttern.
Der Mensch, der sich auf das Böse eingelassen hat, verfällt seiner
Macht und kann sich daraus nicht selbst befreien. Diese
Unheilserfahrung weckt in ihm die Sehnsucht nach Heilung und
Wiederherstellung der zerstörten Beziehungen. Sein Herz ist
unruhig. Aber der Rückweg ins Paradies ist ihm versperrt. Er lebt
nun "jenseits von Eden" (Gen 4,16).
Nach dem biblischen Zeugnis hat Gott in der Berufung Abrahams
einen neuen Anfang mit den Menschen gemacht: Abraham erfährt
die Gemeinschaftstreue und Barmherzigkeit Gottes, und er
antwortet Gott durch Vertrauen. Ihm und seinen Nachkommen wird
die Verheißung zuteil, ein Segen für alle Völker zu werden. So
kommt neue Hoffnung in die Geschichte der Menschheit.
Der christliche Glaube bekennt, dass diese Verheißung in Jesus
Christus erfüllt ist. Im Zentrum der christlichen Botschaft steht die
Erkenntnis, dass Gott auch dem Menschen, der als Gottloser lebt,
dennoch die Treue hält und ihn wieder zurechtbringen will. In Jesus
Christus hat die Liebe Gottes menschliche Gestalt angenommen.
"Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes" (Kol. 1, 15). Jesus hat
die heilsame Nähe Gottes bezeugt und bis in den Tod hinein die
dagegen rebellierende Macht des Bösen durchlitten. In seiner
Auferstehung ist die christliche Gewissheit begründet, dass die
endgültige Bestimmung des Menschen nicht der Tod, sondern das
ewige Leben in Gottes Reich ist. "Gott wird abwischen alle Tränen
von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein" (Offb 21, 4).
Von der Verkündigung, dem Wirken und Geschick Jesu Christi
ergibt sich eine tragfähige Antwort auf die Frage nach dem, was den
Menschen ausmacht und auszeichnet: Er ist in seinen Stärken und
Schwächen, im Gelingen und Scheitern, im Widerspruch und im
Gehorsam, im Gericht über seine Werke und in dem Freispruch
über seine Person durch Gottes heilige Liebe mit einer Würde
ausgezeichnet, die nichts und niemand ihm nehmen kann, auch
nicht er selbst.
Diese Würde wird vielfach mit Füßen getreten und missachtet, aber
sie geht dadurch nicht verloren. Jeder Mensch hat einen ihm von
Gott zugesprochenen und gegebenen Eigenwert. Dies gilt es zu
erkennen und darauf zu vertrauen - allen scheinbar
widersprechenden Erfahrungen zum Trotz. Das meint Luthers
reformatorische Definition des Menschen: Die Bestimmung jedes
Menschen ist es, durch den Glauben gerechtfertigt zu werden. Das
gilt nicht, weil der Mensch sich vor Gott rechtfertigen kann, sondern
weil Gott ihm gnädig ist.
Dem gerechtfertigten Menschen ist die Sorge um sein Seelenheil
abgenommen und darum ist er zum Tun des Guten befreit: Er kann
sich an dem freuen, was ihm gelingt, aber er braucht gute Werke
nicht länger, um sich damit vor Gott und den Menschen ein
Ansehen zu geben, weiß er sich doch von Gott in Christus freundlich
angesehen, freigesprochen und bejaht. Darum kann er sich in
seinem Tun ohne Nebenabsicht auf das ausrichten, was dem
Besten der Welt und dem Wohl seines Nächsten dient. "Wo Gott die
Ehre gegeben wird, da wird die Menschlichkeit des Menschen
gepflegt" (Calvin). Auch wenn das in diesem Leben immer nur
bruchstückhaft gelingt, weil der Mensch sein Leben lang gerecht
und Sünder zugleich ist, wird darin doch für ihn neues Leben
erfahrbar. Der ihn leitende Maßstab ist die Liebe, die ihm selbst
zuteil geworden ist. An sie ist er in seinem Gewissen gebunden und
gerade so wahrhaft frei. Diese Liebe setzt auch Regeln aus sich
heraus, die der Gemeinschaftstreue Gottes entsprechen und darum
dem menschlichen Leben dienen. Die Liebe konkretisiert sich im
Mitgestalten von Strukturen und Ordnungen, die das Gemeinwohl
befördern. Sie verliert bei alledem nicht den einzelnen Menschen in
seiner einmaligen Lebenssituation aus dem Blick, sondern
orientiert sich an dem, was seinem Besten dient. So ist die Liebe
die Erfüllung des Gesetzes Gottes, das dem Menschen zum Leben
gegeben ist (Röm 7,10 und 13,10).
Dieses christliche Verständnis des Menschen muss auch der Kirche
selbst durch das Hören auf die biblische Botschaft immer wieder
neu zuteil werden. Für das, was ihr an Einsichten über den
Menschen gewiss geworden ist, will die Evangelische Kirche
einstehen und es in die kirchlichen und gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen um das, was den Menschen ausmacht und
was für ihn gut ist, als ihren Beitrag einbringen. Sie will dabei in
ihrem Handeln und Reden vor allem zur Geltung bringen, dass kein
Mensch sich seine Daseinsberechtigung und Würde erst durch seine
Leistungen verdienen muss, sondern dass diese ihm mit seinem
Dasein immer schon gegeben sind.
Exemplarisch für die Bedeutung des christlichen Verständnisses
vom Menschen in den Herausforderungen unserer Zeit werden
folgende Verantwortungsfelder genannt:
Die Evangelische Kirche setzt sich dafür ein, dass in allen
Bereichen der Gesellschaft Leben in Beziehungen und in
Gemeinschaft ermöglicht, gestärkt und gefördert wird. Schon
die Tatsache, dass wir als Kinder unseren Eltern, als Frauen
und Männer einander zugeordnet sind, zeigt, dass wir ohne
Beziehungen gar nicht leben können. Zu diesen
elementaren Formen der Beziehung gehören Liebe, Erotik
und Sexualität, der achtsame Umgang miteinander und die
leidenschaftliche Lust aneinander. Die Evangelische Kirche
tritt vor allem ein für die elementaren Beziehungen zwischen
Mann und Frau in der Ehe, zwischen Eltern und Kindern in
der Familie. Sie unterstützt Freundschaften und
Partnerschaften im privaten Bereich und
Gemeinschaftsformen in der Gesellschaft, die ein Leben in
verlässlichen Beziehungen ermöglichen. Sie unterstützt
alles, was der Freude aneinander, der gegenseitigen
Achtung dient. Wo Menschen diese Achtung versagt und ihre
Ehre verletzt wird, sind alle aufgerufen, zu ihnen zu stehen
und sich schützend vor sie zu stellen.
Die Formen der Begegnung und Kommunikation haben sich
in unserer Gesellschaft verändert. Die Benutzung
elektronischer Medien nimmt einen hohen Anteil an der
menschlichen Lebenszeit in Anspruch und übt insbesondere
auf Kinder und Jugendliche einen außerordentlich prägenden
Einfluss aus. Damit werden bewährte Formen der
Kommunikation und der Begegnung häufig ersetzt durch
Formen, deren Förderlichkeit erst noch gründlich erforscht
und kritisch befragt werden muss. In jedem Fall wächst hier
Anbietern und Programm-Machern, aber auch Eltern und
Erziehenden eine große Verantwortung zu.
Die Evangelische Kirche fördert die Entwicklung und Pflege
von Formen der Begegnung zwischen Menschen aus
unterschiedlichen Kulturen und Religionen. In allen
Bereichen unserer Gesellschaft steht sie dafür ein, dass
jedem Einzelnen Raum für seine eigene Entwicklung
gegeben wird und zugleich Verantwortung füreinander und
Rücksichtnahme aufeinander gepflegt werden. Das sind
notwendige Beiträge gegen zunehmende Resignation
einerseits und anwachsende Gewaltbereitschaft andererseits,
die beide nicht übersehen oder leicht genommen werden
dürfen.
Die Evangelische Kirche tritt ein für die Anerkennung und
den Schutz der Würde jedes Menschen in der ganzen
Spanne seines Lebens – vom Anfang bis zum Ende. Das
schließt die nachdrückliche Bejahung medizinischer
Forschung, ärztlicher Hilfe, technischer Weiterentwicklung
und gesellschaftlicher Reformen ein, die der Minderung oder
Vermeidung von unnötigem Leiden, der Suche nach neuen
Heilungsmöglichkeiten und der Verbesserung der
menschlichen Lebensqualität dienen. Abzulehnen sind aber
alle Methoden der Forschung oder Therapie, durch die
Menschen bloß als Mittel für die Heilungschancen anderer
Menschen gebraucht werden. Jedes "Ethos des Heilens"
muss um seine Grenzen wissen, um menschlich zu bleiben.
Das schließt die Einsicht ein, dass Krankheit, Sterblichkeit
und Tod zum Menschsein gehören. Es ist ein wesentlicher
Teil des dem Menschen aufgegebenen Reifungsprozesses,
die eigene Endlichkeit anzunehmen, mit ihr zu leben - und
zu sterben. Menschen haben einen Anspruch auf
medizinische Hilfe und Beistand in der Situation der
Krankheit und beim Sterben; ein Recht, von Krankheit oder
vom Tod verschont zu bleiben oder befreit zu werden, gibt
es freilich nicht.
Die dem Menschen von Gott zugesprochene Würde
verschwindet nicht im Augenblick des Todes, aber sie
wandelt sich. Sie wird zum Anspruch auf Respekt, der auch
den Verstorbenen gebührt. Die sich verändernden Formen
der Bestattungskultur müssen daraufhin geprüft werden, ob
sie diesem Respekt und den Bedürfnissen der Trauernden
Rechnung tragen. Aus kirchlicher Sicht ist in Erinnerung zu
rufen, dass die Toten nicht aus dem Herrschaftsbereich
Gottes herausfallen, sondern an ihm Anteil haben. Die
kirchliche Bestattung und die Begleitung der Hinterbliebenen
kann dem so Ausdruck geben, dass der Abschied eine
rituelle Form erhält, die Trauer einen Ort findet, Lebende
und Tote in der Hoffnung auf Gottes Ewigkeit miteinander
verbunden bleiben.
Die Evangelische Kirche versteht die Diskussion über
Sterbehilfe und Euthanasie als Herausforderung. Sie nimmt
die Ängste vieler Menschen vor einem qualvollen, einsamen
Sterben und vor einem wehrlosen Ausgeliefertsein an
sinnlos gewordene Maßnahmen der Lebensverlängerung
ernst. Die Hospizbewegung sowie die Intensivierung der
schmerzlindernden und auf Versorgung konzentrierten
Medizin (Palliativmedizin) müssen nachdrücklich unterstützt
und gefördert werden, denn sie leisten einen wesentlichen
Beitrag zur Ermöglichung menschenwürdigen Sterbens. Dazu
gehört auch die ärztliche Weisheit, die erkennt, wann es
geboten ist, im Einvernehmen mit Patienten und
Angehörigen auf medizinisch noch mögliche Maßnahmen zur
Lebensverlängerung zu verzichten oder solche Maßnahmen
abzubrechen (passive Sterbehilfe). Voraussetzung hierfür ist
stets, dass die Situation des Wartens auf den Tod gewahrt
bleibt und nicht durch das eigenmächtige Verfügen über den
Todeszeitpunkt ersetzt wird. Durch die Legalisierung der
aktiven Sterbehilfe und der Tötung auf Verlangen würde ein
solches Verfügungsrecht in unserer Gesellschaft etabliert.
Das würde unsere Gesellschaft und ihre Einstellung zu Leben
und Tod in tiefgreifender, problematischer Weise verändern.
Denn damit entstünde nicht nur der offenkundige
Rechtsanspruch von Sterbenden auf vorzeitige Beendigung
ihres Lebens durch fremde Hand, sondern es entstünde
auch der verdeckte Anspruch an Sterbende, von diesem
Recht Gebrauch zu machen, sobald sie den Eindruck
bekommen, ihrer Umgebung zur Last zu fallen. Sterbende
brauchen keinen "Gnadentod", sondern geduldige, gütige,
verlässliche Begleitung.
Die Evangelische Kirche tritt für die Erkenntnis ein, dass
durch keine Behinderung die Würde und das Lebensrecht
eines Menschen in Frage gestellt werden kann und darf.
Auch in Zukunft müssen Menschen mit einer Behinderung
einen anerkannten Platz in unserer Gesellschaft haben. Die
Evangelische Kirche weiß sich in ihren Gemeinden und in
ihren diakonischen Einrichtungen diesem Auftrag
verpflichtet, sie setzt sich dafür aber auch im Blick auf die
staatliche Gesetzgebung und den gesellschaftlichen Umgang
mit behinderten Menschen ein. Das schließt die Bejahung
von medizinischer Forschung und ärztlicher Therapie ein,
durch die Behinderungen nach Möglichkeit vermieden,
geheilt oder gelindert werden. Dass eine aufgrund von
vorgeburtlicher Diagnostik (PND) festgestellte Behinderung
inzwischen fast selbstverständlich zum Grund für einen
Schwangerschaftsabbruch wird, gibt Anlass zu großer
Besorgnis. Es darf keine Schritte in Richtung auf eugenische
Selektion - etwa auf Grund einer Präimplantationsdiagnostik
(PID) - geben. Allen Verantwortlichen stellt sich die
Aufgabe, werdenden Eltern, die sich mit einer durch PND
festgestellten Behinderung konfrontiert sehen, kontinuierlich
zu begleiten, sie in ihrer Bereitschaft zur Annahme des
behinderten Kindes zu ermutigen und sie dabei dauerhaft
und tatkräftig zu unterstützen. Das ist immer auch eine
Herausforderung und Aufgabe für das gemeindliche und
gesellschaftliche Umfeld des betreffenden Paares.
Zwar hängt die wirtschaftliche Effizienz einer Gesellschaft in
hohem Maße davon ab, welche Förderung und
Entfaltungsmöglichkeiten sie ihren Leistungsträgern zuteil
werden lässt; die moralische Qualität einer Gesellschaft
bemisst sich jedoch besonders daran, wie sie mit ihren
schwachen, kranken und behinderten Mitgliedern umgeht.
Anzustreben ist eine Entwicklung, in der wirtschaftliche
Effizienz und moralische Qualität keinen Gegensatz bilden,
sondern einander ergänzen und miteinander harmonieren.
Die Evangelische Kirche sucht das Gespräch mit
Institutionen, Gruppen und Personen, die im Bereich der
Wirtschaft Verantwortung tragen und über Einfluss- und
Gestaltungsmöglichkeiten verfügen. Sie teilt die Auffassung,
dass es sich bei der Massenarbeitslosigkeit um ein
volkswirtschaftliches Problem von größtem Gewicht handelt,
zumal vieles dafür spricht, dass strukturelle Probleme, die
zur Arbeitslosigkeit führen, sich in Zukunft noch verschärfen
könnten. Auch wenn der Sinn des menschlichen Lebens nicht
von der Erwerbstätigkeit abhängig ist und nicht von ihr
abhängig gemacht werden darf, erleben viele Menschen die
vergebliche Suche nach einem Arbeitsplatz oder die
Entlassung in die Arbeitslosigkeit als Ausgrenzung aus dem
sozialen Lebenszusammenhang sowie als Ungerechtigkeit,
die ihre Menschenwürde berührt, ja verletzt. An der
Bearbeitung dieses großen menschlichen Problems wird sich
die Evangelische Kirche auch künftig nach Kräften beteiligen.
Im sozialen Dienstleistungswesen werden gegenwärtig an
vielen Stellen Leistungen rationalisiert und gekürzt. Dazu
nötigen sowohl Geldmangel als auch überzogene
Leistungsansprüche. Grundsätzlich ist gegen ein sorgfältiges
Bemessen sozialer Dienstleistungen nichts einzuwenden.
Bedenklich wird es jedoch, wenn die Leistungen des
Sozialwesens unter das Maß des Erforderlichen
zurückgeschraubt werden. Dies gefährdet eine ausreichende
Unterstützung derer, die in unserer Gesellschaft dauerhaft
auf Hilfe angewiesen sind. Als Träger vieler ambulanter und
stationärer Pflegeeinrichtungen kennen die Evangelische
Kirche und ihre Diakonie die Situation der Pflegebedürftigen
und nehmen eine sich verschärfende Krise in der Pflege
wahr: Die Pflegeberufe finden wegen mangelnder
gesellschaftlicher Anerkennung nicht genügend Nachwuchs;
Pflegebedürftige werden nicht angemessen versorgt;
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leiden dauerhaft unter
Überlastung und "brennen aus"; die Einrichtungen können
nicht kostendeckend arbeiten. In Deutschland, einem der
reichsten Länder der Erde, sollte jeder alte oder kranke
Mensch menschenwürdig gepflegt werden können.
Um einer menschenwürdigen Zukunftsgestaltung willen darf
nicht der Produktionsprozess mit seinen Erfordernissen das
ausschließliche oder vorrangige Maß der gesellschaftlichen
Entwicklung abgeben. Der Mensch existiert nicht um der
Wirtschaft willen, sondern die Wirtschaft um des Menschen
willen. Neben der ökonomischen Blickrichtung dürfen andere
Betrachtungsweisen des Menschen und der Gesellschaft nicht
vernachlässigt werden. Deswegen verdient die Erhaltung und
Schaffung von solchen Wirtschaftsstrukturen Vorrang, die
dem menschlichen Bedürfnis nach Familie und Freundschaft,
nach überschaubaren, vertrauten Erlebnisräumen und nach
geregelter und gemeinsam planbarer Freizeit Rechnung
tragen. Dazu gehört, dass der Sonntag als der gemeinsame
Feiertag, mit dem die Woche beginnt, als heilsame
Unterbrechung des Arbeits- und Geschäftslebens und als
Raum für den Gottesdienst erhalten bleibt und dass eine
Kultur des Sonntags gefördert wird.
Die Evangelische Kirche tritt für nachhaltige Entwicklung in
Deutschland, Europa und weltweit ein. Sie bekräftigt erneut
das Verständnis von Nachhaltigkeit, das die Kammer der
EKD für Entwicklung und Umwelt im Jahr 2000 formuliert und
das sich auch die EKD-Synode 2001 in Amberg zu Eigen
gemacht hat:
"Die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit bezeichnet
die Notwendigkeit der weltweiten Beachtung von
Rückkopplungen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen
an die natürlichen Lebensgrundlagen, die erhalten werden
sollen. Ressourcenschonung und Prävention sind
zukunftsbezogene Teilaspekte von Nachhaltigkeit und
bezeichnen die Sorge für menschenwürdige
Lebensbedingungen für zukünftige Generation.
Soziale Gerechtigkeit und Partizipation als
Gegenwartsaspekte von Nachhaltigkeit schließen die
Sicherung der Grundversorgung für alle Menschen und die
Teilhabe aller an den Gütern der Erde in der Gegenwart mit
ein.
Die politische beziehungsweise entwicklungspolitische
Dimension von Nachhaltigkeit meint ein Entwicklungskonzept
für alle Staaten und Länder, insbesondere auch zugunsten
von Entwicklungsländern, das dem internationalen und
interkulturellen Zusammenleben, der Gerechtigkeit und dem
Frieden dient" (EKD-Synode 2001: Globale Wirtschaft
verantwortlich gestalten. Texte zum Schwerpunktthema der
6. Tagung der 9. Synode der Evangelischen Kirche in
Deutschland vom 4. bis 9. November 2001 in Amberg, S.
28).
Nur durch gemeinsame weltweite Anstrengungen können
Hunger und Elend bekämpft, die Durchsetzung der
Menschenrechte vorangetrieben und die Lebensgrundlagen
für kommende Generationen erhalten werden.
Beim Einsatz von besonders risikoreichen Technologien wird
zu Recht ein Höchstmaß an Planungssorgfalt und Sicherheit
gefordert. Gerade hier nötigt die prinzipielle Fehlbarkeit des
Menschen, in allen Bereichen möglichst "fehlerfreundliche"
Optionen zu bevorzugen, d. h. solche, deren
Schadenspotential bei menschlichem oder technischem
Versagen sich in möglichst engen Grenzen hält. Das gilt im
besonderen Maße im Blick auf den Eingriff in die genetische
Ausstattung des Menschen, die auf dem Weg über die
Vererbung (Keimbahn) an kommende Generationen
weitergegeben wird. Die Langzeitfolgen für die Menschheit
wären weder überschaubar noch korrigierbar. Um der
unverfügbaren Würde und Freiheit des Menschen willen
müssen wir es uns deshalb versagen, verändernde Eingriffe
in das Erbgut vornehmen zu wollen. Dadurch würden
künftige Personen in einer Weise durch menschliches Planen
und Machen bestimmt, wie das aus der Sicht des christlichen
Glaubens nur von Gottes Schöpferwirken gesagt werden
kann. Zugleich würden sich diejenigen, die solche Eingriffe
vornehmen, ein Recht herausnehmen und eine
Verantwortung aufladen, die jegliches Menschenmaß
übersteigen.
Die Evangelische Kirche tritt nachdrücklich dafür ein, dass
Bildung den ihr angemessenen, für die Entwicklung des
Menschen und für die Zukunftsgestaltung der Gesellschaft
unverzichtbaren Stellenwert erhält. Grundlage des
evangelischen Bildungsverständnisses ist dabei die
Gewissheit, dass jeder Mensch mit seinen besonderen
Fähigkeiten und Grenzen einen unverfügbaren Eigenwert
hat, der ihm mit seinem Dasein von Gott her zugesprochen
und zuteil geworden ist. Die Evangelische Kirche tritt für ein
Bildungsverständnis ein, in dem die Fähigkeiten, die zur
Bewältigung alltäglicher und berufspraktischer Aufgaben
dienen (Verfügungswissen), und diejenigen Fähigkeiten, die
benötigt werden, um den Sinn des Lebens reflektieren und
die eigene Lebensführung verantworten zu können
(Orientierungswissen), nicht beziehungslos nebeneinander
stehen, sondern sich soweit wie möglich gegenseitig
durchdringen und befördern. Nützliches Verfügungswissen
darf weder gering geachtet noch zu Lasten der kulturellen,
ethischen und religiösen Aspekte des Bildungsgeschehens
höher bewertet werden. Andernfalls leidet das Ziel
umfassender Persönlichkeitsbildung und fundierter
Lebensorientierung Schaden. Solcher Persönlichkeitsbildung
dienen auch Projekte sozialen Lernens, die sich zum Ziel
setzen, im Lernvorgang zugleich die soziale Kompetenz der
Lernenden zu erhöhen.
Die Tatsache, dass es eine große Anzahl evangelischer
Kindergärten und Kindertagesstätten gibt, stellt für die
Evangelische Kirche Chance und Herausforderung zugleich
dar, ihre Bildungsverantwortung so wahrzunehmen, dass
dabei konzeptionell, inhaltlich und atmosphärisch das
christliche Verständnis des Menschen zum Ausdruck und zur
Geltung kommt. Auch in Zukunft können und sollen der
Religionsunterricht an öffentlichen Schulen und das Angebot
von Schulen in kirchlicher Trägerschaft ihren Beitrag zur
Sicherung und Weiterentwicklung unseres Bildungssystems
leisten. Dies ist um so dringlicher, als nicht nur unser
Bildungssystem Mängel aufweist, sondern sich auch durch
Erosionsprozesse im familiären Bereich erhebliche Bildungs-
und Erziehungsdefizite ergeben haben. Dadurch werden die
Verantwortlichen häufig überfordert. Angesichts dieser
Situation bedürfen Erzieherinnen und Erzieher sowie
schulische Lehrkräfte dringend der umfassenden
Unterstützung bei der verantwortlichen Wahrnehmung ihrer
Aufgaben. Der kirchlichen Kinder-, Jugend- und Elternarbeit
(z. B. im Umfeld von Taufe und Konfirmation) wachsen in
dieser Hinsicht neue Bildungsaufgaben zu.
Die Evangelische Kirche verkündigt das Evangelium, das
dem Leben des einzelnen Menschen und der Gesellschaft
eine Zukunftsorientierung im Zeichen der Hoffnung zu
geben vermag. Diese Hoffnung richtet sich umfassend auf
die von Gott verheißene Vollendung der geschaffenen Welt
im "Morgenglanz der Ewigkeit". Dass die Welt unter dieser
Verheißung und Hoffnungsperspektive steht, macht das
irdische Leben nicht gleichgültig, sondern verleiht ihm
Gewicht und Glanz. In dieser Perspektive ist auch die von
uns zu gestaltende und zu verantwortende Zukunft zu
sehen. Das ermöglicht sowohl eine Realitätswahrnehmung,
die nicht die bedrohlichen, besorgniserregenden Elemente
ausblendet, als auch die Zuversicht, dass die in Jesus
Christus Mensch gewordene Liebe Gottes größer ist als alles,
was den Menschen und die Welt gefährdet. Und das gilt
auch angesichts der Gefährdungen, die vom Menschen
selbst ausgehen. Deswegen ist im Blick auf die Zukunft
unsere Hoffnung für den Menschen stärker als unsere Angst
vor dem Menschen und um den Menschen. Aus dieser
Grundhaltung heraus gilt es, positive Ansätze zur
Zukunftsgestaltung zu entdecken, zu entwickeln und zu
fördern. Ausdrücklich sei genannt: der Einsatz für den Schutz
des ungeborenen menschlichen Lebens, wie er in der
Hoffnung auf einen Abbau der immer noch erschreckend
hohen Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen durch eine
ergebnisoffene, aber zielorientierte
Schwangerschaftskonfliktberatung geleistet wird. Dazu
gehört die Bejahung von Kindern, ihrer Pflege und Erziehung
sowie die Anerkennung aller dafür eingesetzten Tätigkeiten.
An der Kinderfreundlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich ihre
Zukunftsorientierung und Zukunftsfähigkeit. Zugleich wird
daran erkennbar, ob ihr Bild von Resignation oder von
Hoffnung bestimmt wird. Das Verständnis des Menschen, für
das die Evangelische Kirche in den Herausforderungen
unserer Zeit eintritt, ist geprägt von der Zuversicht des
christlichen Glaubens.
Timmendorfer Strand, den 7. November 2002
Der Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland