weitere Infos zum Buch „Fremde Eltern“
Berichte über Lesungen und Rezensionen
zum Buch „Fremde Eltern“
sowie Übernahmen in Medien
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einzelnen ausgewählten Beiträgen bitte hier klicken:
Der Spiegel 5.11.16 (Rezension)
MDR-Kulturwerkstatt
2.5.17 (Lesung und Gespräch 72 Minuten) Link
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MDR-TV Nah dran
30.3.17 (Filmbeitrag 8 Minuten) leider nicht
mehr in der Mediathek abrufbar
MDR-Kultur 9.10.16
(Rezension 4 Minuten) Link zum Anhören dort
Dresdner Neueste
Nachrichten 24.4.17 (Rezension)
Leipziger
Internetzeitung 5.9.16 (Rezension)
Freie Presse Chemnitz 3.2.17
(Rezension)
Der Sonntag,
Sachsen, 9.10.16 (Rezension)
Blog-Beitrag
Hans-Jürgen Zeis 27.8.16
CyberSAX
Online Stadtmagazin Dresden April 2017 (Gespräch mit dem Autor)
Freie
Presse Glauchau 8.10.2016 (Bericht von der Buchpremiere in der Stadtbibliothek
Meerane)
Nachwort im Buch „Fremde Eltern“ von Christoph Dieckmann
Bericht
zur Buchlesung in Weimar 24.11.2017
Gerechter
Friede - Kommentar zur Lesung beim Friedensseminar in Königswalde/Werdau
20.6.2017
TV
Beitrag anlässlich der Preisverleihung „Ur-Krostitzer Jahresring 2018“ für das
Buch „Fremde Eltern“ in Leipzig Link zum
Ansehen dort
Aufnahme
von einigen Briefen in der ZDF-Serie Krieg und Holocaust – Der deutsche
Abgrund", Teil 9/10: Untergang 1943-1945
DER SPIEGEL, 5.11.2016, Seite 54-55
Eine sächsische
Familie
Nationalsozialismus
Seine
Eltern hielt Joachim Krause stets für aufrechte, linke Pfarrersleute. Bis er
auf dem Dachboden Briefe entdeckte, die ihre Verwicklungen in der NS-Zeit
offenbaren.
Darf man das Briefgeheimnis seiner verstorbenen
Eltern brechen? Darf man Mutter und Vater mit ihren eigenen Tagebuchnotizen
bloßstellen, Verstorbene, die keine Chance mehr haben, sich zu erklären?
So haben die Geschwister Joachim, Ursula und
Michael wieder und wieder diskutiert. „Das schlechte Gewissen plagte mich“, so
Ursula, „dass Leser, die meine Eltern nicht persönlich kennengelernt haben, den
ausschließlich dunklen Blickwinkel auf sie bekommen würden.“
Pastorensohn Krause
„Wie schnell
Menschen dem Hass verfallen“
Jahrzehntelang hatten auf dem Dachboden des Elternhauses
in einem Dorf in Sachsen einige Kartons und Kisten gestanden, sie waren
ungeöffnet geblieben, solange die Eltern lebten. Im Jahr 2000 starb der
evangelische Theologe Christian Krause, fünf Jahre nach seiner Frau Margarete.
Erst 2012 nahm sich Sohn Joachim der aufbewahrten
Papiere an, sortierte, arbeitete monatelang die Dokumente durch, schrieb ab,
machte Altes wieder lesbar, allein mehr als 1800 Briefe studierte er. Am Ende
stand eine erschütternde Einsicht. „Ich habe meine Eltern dadurch noch einmal
ganz neu kennengelernt“, sagt Joachim Krause, 69, Theologe wie sein Vater.
Weder er noch seine beiden Geschwister ahnten:
Mutter Margarete, die so freundliche Pfarrfrau, war einst eine fanatische
Anhängerin Hitlers; Vater Christian war zumindest zeitweilig dem Faschismus
verfallen; dessen Bruder Helmut ganz und gar. Joachim Krause hat die
Tagebuchaufzeichnungen und Briefe nun zu einem erschütternden Buch
zusammengestellt*.
Die Dokumente aus dem sächsischen Pfarrhaus lassen
einen Einblick in das Seelenleben von Menschen aus gutbürgerlicher Familie
zu, die – unterschiedlich stark - für Hitler schwärmten. Sie zeigen, wie
Menschen verrohen können, belesene und christlich erzogene Bürgerkinder.
Insofern, meint Autor Krause, habe das Buch auch
aktuelle Bezüge. Nicht zuletzt in Sachsen. „Wir sehen doch gerade, wie schnell
manche Menschen die Fassung verlieren und dem Hass verfallen.“
Als Adolf Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler
wird, sind Christian, Helmut und Margarete auf dem Weg zum Abitur. Die Brüder
leben in der sächsischen Industriestadt Meerane. Der Vater von Christian und
Helmut ist Lehrer, die Familie fest verwurzelt in der evangelischen Kirche,
schon einer der Großväter war Pfarrer.
Christian, der Theologie studieren will, ist
konservativ-national gesinnt. Aber er zweifelt an der neuen Ordnung: Er bekenne
sich „mehr oder weniger freiwillig zum Nationalsozialismus“, schreibt er 1933,
werde aber „immer in politischer Kritik meine eigene Meinung sagen“.
Schon ein halbes Jahr später hat der junge Mann
seine Meinung scheinbar gewechselt. „Führertum gibt Kraft“, notiert er nun in
seinem Tagebuch. Christian meldet sich freiwillig für ein Jahr zur Reichswehr,
erst danach will er das begonnene Theologiestudium fortsetzen. Sein Bruder
Helmut hat sich bereits für die Laufbahn in der Armee entschieden. Margarete
schreibt zu diesem Zeitpunkt viele Briefe an Christian, die beiden haben sich
bei Jugend-Wanderfahrten kennengelernt. Sie notiert: „Deutschland lässt sich
nichts mehr gefallen … Ich vertraue dabei fest auf Hitler. Er wird mit Gottes
Hilfe unser Volk den rechten Weg führen.“
Aber Christians Weg führt in die Schweiz, wo er
1936 an der Universität Zürich ein Semester lang studiert. Und wieder ins
Zweifeln kommt. „Wenn man im Reich ist, glaubt man, so fest als
Nationalsozialist zu stehen, und nun fängt das Gebäude auf einmal an zu Wanken:
Juden und Nächstenliebe. Was soll aus ihnen werden?“
Der angehende Theologe schwankt, auch als er zurück
nach Sachsen kommt. Christian tritt dem Nationalsozialistischen Studentenbund
bei, fliegt jedoch wieder raus. Er wird Mitglied der Bekennenden Kirche, die
den totalen Anspruch des „Führers“ nicht akzeptiert. Einerseits sieht er im
Nationalsozialismus einen Schutz vor dem Bolschewismus, andererseits will er
gegen den nun herrschenden „antichristlichen Geist“ protestieren. Deshalb
verteilt er Flugblätter für die Bekennende Kirche.
Im April 1937 wird er von der Gestapo vernommen, er
soll seine Begleiter verraten. Erst schweigt Christian, dann wird ihm ein Deal
vorgeschlagen. Wenn er die Namen nenne, werde das Verfahren gegen ihn
eingestellt. Er nimmt das Angebot an.
Tagebücher, Briefe, Aufzeichnungen aus dem „Dritten
Reich“ haben Forschung und Gesellschaft in der Vergangenheit intensiv
beschäftigt. Durch Anne Frank wurde das Leben einer Verfolgten bekannt. Die
Notizen des Naziideologen Alfred Rosenberg offenbarten das Denken eines
Haupttäters jener Zeit.
Relativ selten sind hingegen Zeugnisse, die
Einsichten in das Seelenleben einer normalen Familie gewähren, obgleich
Millionen Menschen den Weg der Krauses gingen, vom zögerlichen, auch
zweifelnden Anhänger bis zum glühenden Nazi.
Zahllose Deutsche dürften in ihrer
Familiengeschichte ähnliche Entwicklungen finden und wären von ihren Eltern
oder Großeltern vermutlich ebenso überrascht wie die Krause-Kinder - wenn sie
denn auf dem eigenen Dachboden noch entsprechende Schriftstücke fänden.
Als sich Joachim Krause und seine Geschwister über
die Papiere beugten, erschraken sie darüber, welche Rolle Nationalismus und
Ausgrenzung im Leben ihrer Eltern und ihres Onkels spielten.
Vor allem ihre Mutter Margarete heißt als junge
Frau alles gut, was die Nazis treiben. „Mit heißer Anteilnahme und Freude“
verfolgt sie im März 1939 den Einmarsch deutscher Truppen in Böhmen und
Mähren. „Ach dabei sein können!“ Christians Bruder Helmut ist bei diesem
Einmarsch bereits als Offizier beteiligt. Stolz berichtet er Margarete: „Ich
führte eine selbstständige Einheit … Der Jubel der Deutschen
war unbeschreiblich … Das deutsche Volk ist das
größte der Welt!“
Als Hitlers Truppen am 1. September 1939 in Polen
einfallen, jubelt Margarete: „Und nun geht es Schlag auf Schlag! Alles
versinkt, und es bleibt nur ein Gedanke: Deutschland – Führer!“ Offizier Helmut
schreibt von der Front: „Das Schicksal Polens hat sich erfüllt." Und er
schickt Fotos nach Hause: von einem brennenden polnischen Dorf und jubelnden
Menschen am Straßenrand. Zu Letzterem notiert er als Bildunterschrift: „Jüdische
Heuchler!“
Nichts davon war später, nach 1945, in der Familie
zum Thema geworden. „Ich war irgendwie intuitiv überzeugt“, sagt Joachim
Krause, „dass meine Eltern immer, und natürlich auch in der Nazizeit, auf der
richtigen' Seite gestanden hatten.“ Er habe in ihnen „viel mehr Opfer als etwa
Täter“ gesehen.
Zu seiner Jugendzeit schauten sie sich in der
Familie Dokumentationen etwa über den Eichmann-Prozess an, außerdem Spielfilme
über die Nazizeit. Über die eigene Beteiligung jedoch verloren die Eltern
dabei kein Wort. Joachim Krause beschreibt in seinem Buch das Denken im
Pfarrhaus so: „Holocaust, Krieg, das war natürlich passiert und das war
schrecklich, aber es War NICHT unsere Schuld und NICHT unser Erbe - das betraf
allein dieses andere ,Deutschlandʻ, da drüben im
Westen.“
Ähnlich erinnert sich seine Schwester Ursula. Die
Mutter habe ihr zur Schulzeit das Tagebuch von Anne Frank geschenkt. Als
Pfarrfrau habe sich Margarete über die Judenverfolgung zutiefst erschüttert
gezeigt und beteuert, „sie habe von alldem nichts gewusst“. Und der Vater? Er
habe in den Sechziger- und Siebzigerjahren „in seinen Kirchgemeinde-Kreisen das
aufrichtige und konsequente Verhalten“ des von den Nazis hingerichteten
Theologen Dietrich Bonhoeffer und der Geschwister Scholl gelobt.
In den Briefen und Tagebüchern klingt er anders.
„Dieser Kampf gegen den Bolschewismus hat schon seinen Sinn“, berichtet
Christian Krause 1941 als Soldat von der russischen Front. Das Theologiestudium
liegt größtenteils gerade hinter ihm, nun schreibt er aus der Schlacht: „Es ist
doch Tatsache, dass auch wir lieber Tote als Gefangene machen. Diese machen
viel zu viele Scherereien. Besonders mit den Juden wird es nicht so genau
genommen. Und ich sehe ein, dass es nötig ist. Wenn die Träger des
Bolschewismus nicht brutal ausgerottet werden, wird nie Ruhe und Sicherheit in
der Sowjetunion einkehren.“
So wird der Leser des Buches mit hineingezogen in
den Krieg und in die unterschiedlich starke Beteiligung der drei beinahe
Gleichaltrigen. Dieser Krieg und die Kriegspropaganda scheinen wie Strudel zu
sein, die alles mit sich reißen. Helmut schreibt im September 1941: „Im Westen
kämpfen wir gegen die Neger, im Osten gegen die Bolschewisten und Mongolen und
überall gegen die Juden.“ Im Oktober fällt er in diesem Kampf. Die gedruckte
Mitteilung der Eltern zum Tod lautet: „Er hat, in zweijährigem Kampf für Führer
und Vaterland an allen Fronten stehend, bis zu seinem letzten Atemzuge in
treuer Pflichterfüllung und in Ergebenheit in Gottes Willen gekämpft.“
Christian erhält 1942 einen Heimaturlaub, von
Stalingrad geht es zur Zweiten Theologischen Prüfung nach Dresden. 1943
heiratet er Margarete, 1945 gerät er in amerikanische Gefangenschaft. Bis
zuletzt wehrt sich seine Frau gegen den Gedanken an die Niederlage
Nazideutschlands. Noch im April 1945 notiert sie: „Jeder Tag zeigt deutlicher,
wie sich die Geister scheiden. Es ist traurig, dass so viele schwankend und
unzuverlässig sind.“
Hochzeitspaar
Margarete, Christian Krause 1943:
„Führertum gibt
Kraft“
Im Mai 1946 übernimmt Christian Krause eine Pfarrstelle
in Meerane. Am 16. Januar 1948 durchläuft er ein Entnazifizierungsverfahren, er
darf Pfarrer bleiben. Die Aufzeichnungen enden.
Aber nicht das Buch. Die Kinder Joachim, Ursula und
Michael haben ihre Einsichten und Fragen nach der Lektüre der Briefe und
Tagebuchaufzeichnungen zu Papier gebracht.
Joachim fragt sich, wie er als Jugendlicher auf
diese Familiengeschichte reagiert hätte. Er glaubt: „totales Unverständnis,
Türenknallen, vielleicht sogar Auszug aus dem elterlichen Haus“.
Und heute, nach der Lektüre? „Ich bin vorsichtiger
geworden beim Bewerten und Beurteilen, und zum Verurteilen sehe ich mich schon
gar nicht berechtigt“, sagt er. „Immer wieder hat mich die Frage beschäftigt:
Wie hätte ich mich wohl damals verhalten? Ich weiß es nicht.“
Stefan Berg
* Joachim Krause
(Hg.): „Fremde Eltern: Zeitgeschichte in Tagebüchern und Briefen 1933-1945“.
Sax; 408 Seiten; 24,80 Euro
2.5.2017
Gespräch
über das Buch und ausführliche Leseproben
in
der KulturWerkstatt bei MDR-Kultur (72 Minuten)
Hier anhören: https://www.mdr.de/kultur/videos-und-audios/audio-radio/audio-joachim-krause-fremde-eltern-100.html
Vorstellung
des Buches im MDR TV – Reihe „Nah dran“ (7 Minuten)
leider nicht mehr in der Mediathek
Vorstellung
des Buches in MDR-Kultur (4 Minuten)
Hier anhören: http://www.krause-schoenberg.de/meinefremdeneltern-mdr9-10-16.mp3
Hier der Text des
vorstehenden Beitrages:
Margarete, die Arzttochter aus dem Dorf Ehrenhain, und
Christian, Lehrerssohn aus dem nahe gelegenen Meerane, lernten sich bei
Jugendwanderfahrten kennen. 1933 – sie war 18, er 19 – sprachen sie das erste
Mal von Liebe. Allerdings (C.:) „Ich darf sie nicht küssen, ich darf sie nicht
umfangen.“ (M.:) „Reinbleiben und Reifwerden.“
Zwei Jahre später ist nur noch von Kameradschaft die Rede.
Denn Christian will Pfarrer werden, und Margarete muss feststellen, dass sie
einen anderen als Gott verehrt: „Ich bin kein Christ und werde es niemals
werden. Ich vertraue fest auf Hitler. Es ist wunderbar, welche Kraft von ihm
ausgeht.“ Christian unterbricht sein Theologiestudium und macht ein
Freiwilligenjahr bei der Reichswehr. Danach will er ganz hinschmeißen und
Förster werden. Briefe der Eltern führen ihn zurück auf den richtigen Weg, an
den ihn auch sein Großvater rührselig erinnert: „Mir hast du nach Großmutters
Tode, während der Ferien, immer im Bett ins Ohr geflüstert: Großvater, ich
möchte gern Pastor werden.“ Der Großvater, der selber Pfarrer war, hatte
Christian gleich 1933 ermuntert, in Augustusburg an einem Theologenlehrgang
unterm Hakenkreuz teilzunehmen. Christian erwies sich als folgsam, entschied
sich später aber eben nicht für die NS-treuen „Deutschen Christen“, sondern für
die „Bekennende Kirche“. Zeitweise arbeitet er in einem kirchlichen Heim für
Behinderte. Als die Synagogen angezündet wurden, notierte er in sein Tagebuch:
„Eine Kulturschande! Mein deutsches Volk!“
Gänzlich anders dachte sein jüngerer Bruder Helmut, der nach
dem Abitur Berufssoldat wurde. Von Anfang an mischte er an allen Fronten mit:
„Im Westen kämpfen wir gegen die Neger, im Osten gegen die Bolschewisten und
Mongolen, und überall gegen die Juden.“ In diesen strammen Offizier, der auf
Fotos noch wie der Junge aussieht, den sie einstmals kannte, verliebt sich
Margarete. Diesmal sind ihre Gefühle völlig andere: „Mein Herz geht rasend.
Lieber heute Kriegstrauung als morgen!“ Sie ist inzwischen
Landwirtschaftslehrerin für die deutschstämmigen Zuwanderer im besetzten
Polen. Anders als mit Christian fühlt sie sich mit Helmut ganz als Teil der
nationalsozialistischen Bewegung. Aber wirkliche Liebesbriefe bekommt sie von
ihm nicht. 1941 fällt er in Russland.
Ein halbes Jahr später schreibt Margarete erstmals wieder an
Christian, der ebenfalls in Russland ist. Am Ende des Buches sieht man die
beiden auf einem Foto von 1993: Der Pfarrer und die Frau Pfarrerin feiern
Goldene Hochzeit in Ehrenhain. Margarete und Christian hatten noch während des
Krieges geheiratet, und nach 1945 dann ihre Vergangenheit auf dem Dachboden
abgestellt. Dort fanden sie nach ihrem Tod die Kinder und entdeckten „Fremde
Eltern“. So hatte die Mutter etwa am ersten Tag des Friedens notiert: „Des
Führers Ideen waren groß und gut, sein Wollen rein. Hoffentlich benimmt sich
der Russe einigermaßen menschlich.“ Der Sohn – Joachim Krause – hat diesen
Nachlass jetzt herausgegeben. Zwar wurde in den Briefen und Tagebüchern vieles
gekürzt, das Ganze fügt sich aber immer noch zu einem spannenden Briefroman aus
der Zeit zwischen 1933 und 1945, der besonders berührt, weil ihn das Leben selber
schrieb.
Dresdner Neueste Nachrichten (DNN) Kultur, 24.
April 2017
Verwandte
und ihre Verwandlung
Nazi-Nähe: "Fremde Eltern" von Joachim Krause
VON TOMAS GÄRTNER
"Wenn ich Hitler sprechen höre oder wenn ich an ihn
denke, dann wird mir ganz besonders deutlich klar, dass unser Leben, dass
persönliches Glück nichts gilt, und dass wir beides hingeben müssen, wenn es um
Sein oder Nichtsein unseres Volkes geht." Sätze wie diese sind es, die
Joachim Krause verwirren und schockieren. Seine Mutter Margarete hat sie 1935,
damals 20 Jahre alt, an seinen ein Jahr älteren Vater Christian geschrieben.
Der ist Pfarrer gewesen und hat mit seiner Frau den 1946 geborenen Sohn und
dessen zwei jüngere Geschwister, erst im sächsischen Meerane, dann auf einem
Dorf bei Glauchau, stets in demokratischem Geist erzogen, zu kritischen,
selbständig denkenden Menschen. Joachim Krause studierte Chemie, wurde 1982
Beauftragter für Glaube, Naturwissenschaft und Umwelt der
evangelisch-lutherischen Landeskirche.
Nun jedoch, in diesen Zeilen aus den Dreißiger und Vierziger
Jahren, tönen dem Sohn Stimmen überzeugter Nationalsozialisten entgegen. Nach
dem Tod der Eltern hatte er die Sütterlinschrift von rund 1800 Briefen und
Tagebucheintragungen, verwahrt in Kisten auf dem Dachboden, entziffert und
alles chronologisch geordnet.
Eine Beziehung zwischen drei jungen Menschen nahm Gestalt
an: Nach früher Liebe zu Christian wandte sich Margarete dessen 1915 geborenem
Bruder Helmut zu. Der wurde Offizier und starb 1941 im Gefecht an der Ostfront.
Christian nahm den abgerissenen Faden wieder auf. 1943 heirateten sie.
In ihren Briefen tauschen sie sich über ihre Ansichten zu
Nationalsozialismus und christlichem Glauben aus, über Juden, den Sinn des
Krieges, über Sexualmoral. "Dies waren wirklich meine Eltern, die wir so
ganz anders kannten?", fragt sich Joachim Krause. "Hier spielten sie
ein anderes Stück auf einer anderen Bühne." Daher der Titel "Fremde
Eltern".
Was die politischen Ansichten betrifft, werden drei
Charaktere deutlich. Helmut ist fanatischer Nationalsozialist und begeisterter Soldat.
"Wir sind wie Teufel in die russischen Stellungen und Kolonnen
gefahren", berichtet er Margarete im September 1941. "Die geballte
Faust muss aufgebrochen werden und gegen jene Kulturschänder gelten nur die
härtesten Kampfmittel."
Auch Margarete hält Gewalt und Krieg für notwendige
"Auslese". An Christus kann sie nicht glauben, bezeichnet sich als
überzeugte Nationalsozialistin, setzt "human" in Anführungszeichen.
"Das Schwache und Kranke merzt die Natur unerbittlich aus", erklärt
sie.
"Was der deutsche Soldat leistet, das ist einfach
unfassbar", jubelt sie 1941 über den "großen Kampf im Osten".
"Manchmal möchte ich mit dem Schicksal hadern, dass ich nicht als Junge
geboren bin." Noch am 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation,
klagt sie, des "Führers Ideen" seien "groß und gut und sein
Wollen rein" gewesen. Mit Konzentrationslagern habe er nichts gemein
gehabt, "genau wie die große Mehrheit unseres Volkes".
Fortlaufend in innere Kämpfe zwischen Nationalsozialismus
und biblischen Geboten hingegen ist der Theologiestudent Christian verstrickt.
Als Soldat an der Ostfront zweifelt er am Sinn des Krieges. Nicht das eigene
Volk sei die entscheidende Größe, sondern die "Menschheit", schreibt
er 1942. "Letzten Endes finde ich es sogar widersinnig, dass die Völker so
egoistisch sind." Gleichwohl betrachtet er als notwendig, den "Bolschewismus"
zu bekämpfen.
Er empfindet mehr und mehr Schuld, vor allem angesichts der
systematischen Judenvernichtung, über die, dies zeigen diese Dokumente, man
wohl Bescheid wusste. 1944 kommt er zu der Erkenntnis: "Dieser Krieg ist
das Unmenschlichste, was der Mensch je getan hat."
Der Wert einer solch umfangreichen Dokumentensammlung zeigt
sich in ihrer Differenziertheit und Authentizität. Dies sind Originaltöne aus
dem Mittendrin. "Anders als Zeitzeugenberichte, die durch die Jahrzehnte
wie durch einen Filter gegangen und geglättet worden sind", sagt Joachim
Krause.
Intensiv haben die drei Geschwister debattiert, ob sie ihre
Eltern mit dieser Veröffentlichung einer Kritik aussetzen dürfen, gegen die
diese sich nicht mehr wehren können. Trotz aller Bauchschmerzen, meint Joachim
Krause: "Es wäre unterlassene Hilfeleistung, wenn wir es nicht getan
hätten." Das Buch rechnet nicht ab, es sucht Unfassbares zu verstehen.
Etliche Zuhörer pflichten den Herausgebern bei der Dresdner
Buchvorstellung im Haus an der Kreuzkirche bei. "Hier finde ich
aufgeschrieben, was auch ich von meinen Eltern gehört habe", sagt einer.
Ein anderer fügt hinzu: "Ich sehe in mikroskopischer Aufnahme, wie Verführung
funktioniert."
Dass manche der Eltern-Sätze in seinen Ohren heute so
bedenklich aktuell klingen, habe ihn ebenfalls von der Notwendigkeit dieses
Buches überzeugt, sagt Joachim Krause. Diese Briefe führten einem vor Augen,
wie dünn die Haut der Zivilisation sei. Es brauche nur eine Krise. "Es ist
irritierend, was so in Menschen steckt und was bestimmte Umstände
herauskitzeln. Das wünsche ich meinen Kindern nicht."
Joachim Krause (Hg.): Fremde Eltern. Zeitgeschichte in
Tagebüchern und Briefen 1933-1945. Sax Verlag. 408 S., 24,80 Euro
Leipziger Internetzeitung, 5. September 2016, Ralf Julke
Die Frames
der NS-Ideologie, Liebe, Hoffen und Zweifeln
in den
Briefen dreier junger Menschen
Ist es tatsächlich so, dass erst die
Enkelgeneration die Lügen und Täuschungen der Großväter entlarvt? Es sieht ganz
so aus. Auch wenn es die Kindergeneration war, die in den 1960ern die
Aufarbeitung der Nazi-Zeit endlich ins Rollen brachte. Nur hatten die Kinder
ein gewaltiges Problem: Sie trauten sich nicht, die eigenen Eltern infrage zu
stellen. Vielleicht sollten sie tatsächlich die Kisten auf dem Dachboden mal
öffnen.
Die Krauses haben es getan. Das machen Kinder
eigentlich nicht. Meist wird der Nachlass der Eltern in einem großen Aufwasch
entsorgt, das Fotoalbum und die alten Briefe in dieser unlesbaren
Sütterlin-Schrift gleich mit. Erst recht, wenn das Haus der Eltern sowieso leer
geräumt werden muss. Wer hebt den ganzen alten Krempel auf? Doch so ein paar
kleine Skrupel hatten Joachim Krause und seine Geschwister Michael und Ursula
schon. So blieb zumindest die alte Kiste mit Briefen und Tagebüchern der Eltern
noch jahrelang stehen, bis Joachim Krause begann, die Briefe zu sichten – und
sein blaues Wunder erlebte.
Denn seine liebevollen Eltern, die er zeitlebens
immer als menschenfreundlich, demokratisch und kritisch erlebt hatte,
schrieben sich in einem Tonfall Liebesbriefe, den er so von ihnen nicht kannte.
Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, war Margarete Liebelt aus Ehrenhain bei
Altenburg gerade 18, Karl Christian Krause war ein Jahr älter, ein Alter, von
dem man annimmt, dass der Mensch da schon erwachsen ist und nicht mehr anfällig
für neue Ideologien. Die in diesem Fall so ganz neu nicht waren. Tatsächlich war
es auch in der späten Weimarer Republik ganz ähnlich wie heute:
nationalistische Ressentiments waren weit verbreitet und Heilsversprechen für
ein wiedererstarktes Deutschland waren in weiten Teilen der Bevölkerung im
Schwang. Das war auch den Krauses und Liebelts nicht fremd.
Aber gerade Margarete scheint all das, was sie nun
im BDM und im Frauenarbeitsdienst erlebte, regelrecht aufgesogen zu haben in
sich. Schon früh begegnet sie dem Leser dieser Briefe als überzeugte Anhängerin
des Nazismus. Was diese Briefe natürlich frappierend macht. Denn bislang gibt
es so gut wie keine Veröffentlichung, die dieses Übergreifen der NS-Ideologie
im Alltag sichtbar macht. Gar in den Aufzeichnungen dreier junger Menschen,
die sich brieflich intensiv austauschen über ihrer Leben, ihre Gefühle und ihre
Ansprüche an den anderen.
Denn nicht nur Christian taucht als Briefpartner
Margaretes auf, sondern auch dessen Bruder Helmut, dem Margarete begegnet,
nachdem sie die Verbindung zu Christian komplett gelöst hatte. Während ihr der
angehende Pfarrer Christian als nachdenklicher, suchender und den Auswüchsen
des NS teils kritisch begegnender Mensch fremd geworden zu sein scheint,
begegnete sie in Helmut nicht nur einem jungen Mann, der mit Begeisterung
Offizier geworden war, sondern auch ein in diesem Sinne wirklich fanatischer
Nazi.
Was es mit diesem Fanatismus auf sich hatte, kann
man bei Viktor Klemperer gut nachlesen. Das müssen wir hier nicht auswalzen.
Aber was gerade der Austausch zwischen Gretel und Helmut lesbar macht, ist, wie
sehr die Ideologie der NS-Zeit eine voller Phrasen, falscher Überhöhungen, aber
auch eine mit in sich geschlossener Logik war.
Das verblüfft schon, weil gerade die klugen
Analysen der NS-Zeit den Aspekt ja immer wieder beleuchten. Deutlich wurde es
jüngst erst mit Thomas Webers „Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde“. Und trotzdem
beschäftigt sich kein Forscher wirklich intensiv mit dieser Funktionsweise von
Ideologien über Meme und Framing. Gerade das aber würde einige sehr klare
Antworten geben zu der ewig gärenden Frage: Wie konnte es ausgerechnet in
diesem hochkultivierten Deutschland zu diesem „Sündenfall“ kommen? – Das Mem
„Land der Dichter und Denker“ gehört übrigens auch zu den Memen des
Nationalsozialismus, kommt auch in den Briefen der drei jungen Leute vor und
gehört in den ganzen Kranz von „Kulturvolk“, „kulturelle Überlegenheit“,
„höhere Kultur“ und was da noch so alles auftaucht. (Die „Leitkultur“ in der
heutigen Diskussion gehört ebenfalls hierhin, auch wenn es ihre Verfechter
abstreiten würden.) Im Grunde ist es sogar die
Basis allen Nazismus, der das eigene Volk verherrlicht. „Herrenvolk“ schreibt
Christian später als Kommentar zu einigen Zeilen Margaretes, in denen sie
wieder beschwor, wie sehr die Kriegsgegner Hitlers doch von Herrschsucht besessen
seien, anders als die Deutschen.
Christian war eigentlich klar, auf wen er sich da
einließ, als er nach dem Tod seines Bruders Helmut an der Ostfront wieder den
Kontakt aufnimmt zu Margarete. Er wusste es ja auch bei seinem Bruder. Und wer
Christians Briefe genau liest, der merkt, wie vorsichtig er seine Worte wählt
und auch seine Kritik am Nazismus und an Hitlers Kriegen versteckt hinter
vorsichtigen Mahnungen an die Menschlichkeit und an die Notwendigkeit eines
christlichen Lebens. Gerade gegenüber dem jüngeren Bruder. So sicher, dass der
Bruder das auch brüderlich verstehen würde, war er sich augenscheinlich nicht.
Die drei Krause-Kinder haben übrigens im Nachspann
des Buches alle drei versucht, den Widerspruch für sich zu erklären, der
auftauchte, als sie diese Briefe lasen – zwischen liebenswerten und sehr
humanistisch denkenden Eltern und dem, was insbesondere Margarete und Helmut
schrieben. Und wie sie schrieben. Irgendwo muss es da einen Bruch gegeben
haben. Einen Bruch, den alle Überlebenden des NS-Reiches gehabt haben müssen.
Nur dass viele eben einfach nur die angelernte Gesinnung verbargen und
vergruben und im Familienkreis weitergaben – bis heute, wie wir wissen. Denn
der Grund, auf dem die neuen Rechten tanzen, ist dieses unverdaute alte nazistische
Myzel, diese ganze Rosenberg-Mythologie, die den Nationalsozialismus zur neuen
Religion machte. Eben dem, was Christian in seinem christlichen Glauben nicht
akzeptieren konnte. Ein Christentum ohne Christus war für ihn nicht denkbar –
was ihn dann früh zur Bekennenden Kirche brachte.
Aber auch zum Wissen darum, wie sehr Führerkult und
die Überhöhung von Volk und Heldentum für Margarete und Helmut zur neuen
Religion geworden ist.
Da fragt man sich natürlich: Wie hat er das
ausgehalten? War er nur feige und hat versucht, irgendwie mit heiler Haut
durchzukommen? Wahrscheinlich nicht. Denn aus Christians Briefen an Bruder und
Geliebte spricht auch etwas, was man bei aller Klugheit im Leben nicht
ausschalten kann: Er liebte die beiden wirklich. Und das wohl zu Recht, denn
jeder Mensch ist immer mehr als die Ideologie, die ihm eingetrichtert wurde.
Gerade bei Helmut wird das deutlich – unter dem ganzen Wortballast der in sich
kreisenden NS-Logik wird auch immer wieder das Jungenhafte, Herzhafte und menschlich
Offene sichtbar. Man ahnt es bei jedem seiner Briefe, dass der junge Offizier
sich genauso auch für tausend andere Sachen begeistert hätte, wenn sie mit Feuereifer,
Einsatzbereitschaft und Anerkennung in der Gesellschaft verbunden gewesen
wären. Gerade diese Begeisterungsfähigkeit hat ihn missbrauchbar gemacht.
All seine ausschweifenden Erklärungen, wie er zu
Krieg, Heldentum oder gar Ehe steht, nimmt ihm der späte Leser nicht ab. Zu
deutlich sind die Versatzstücke aus NS-Schulungen, Hitlerreden und Nazi-Zeitungen
sichtbar. Deutlich wird auch, wie stark die gleichgeschalteten Medien ab 1933
das Denken und Fühlen im ganzen Reich bestimmten. Auch das wird in der
historischen Forschung selten bis nie betrachtet, welche Rolle Radio, Kino,
Wochenschau und die vielen organisierten Versammlungen und Schulungen spielten.
Selbst der eigentlich doch etwas kritischere Christian merkt es, als er ein
Semester seines Theologie-Studiums in Zürich absolviert und damit konfrontiert
wird, wie sehr sich das Denken in einer selbstbewussten Demokratie von dem
unterschied, was er in Deutschland täglich zu hören bekam.
Die „Gleichschaltung“ hatte Folgen. Erst recht,
wenn die Elternhäuser der jungen Menschen selbst nicht wirklich kritisch
eingestellt waren, sondern eher selbst auf die Verlockungen der NS-Ideologie
hereinfielen, diesen ganz auf Heimat, Volk, Boden und kulturelle Überlegenheit
fixierten Bombast, der sich in stocksteifen Überhöhungen artikulierte. Und
natürlich in einer systematischen Verachtung aller anderen Völker und Kulturen.
Gerade Margarete und Helmut tun zwar so, als würden sie sich all das selbst
ausdenken, was sie da in ihren Briefen ausbreiten. Aber dazu sind all die
Versatzstücke längst zu bekannt. Es ist genau das Baumaterial, aus dem die
Glaubensformeln der neuen NS-Kirche bestanden. Und gerade beim Lesen von
Gretels Briefen bekommt man das Grausen: Kann man sich mit so einer vom
Nazismus regelrecht begeisterten Frau überhaupt abgeben? Immerhin liest man von
ihr solches Gedankengut selbst noch nach der Kapitulation am 8. Mai, als die
Amerikaner längst in Ehrenhain waren.
Aber gerade das spricht eher von der Wirksamkeit
des Framings, mit dem völkisches und nationalistisches Gedankengut ja nicht
erst unter den Nazis in die Köpfe gebracht wurde. Ohne dieses Framing ist
Faschismus gar nicht denkbar. Nur wer frei ist von dieser Gleichschaltung,
begreift das Theatralische und Falsche an dieser Inszenierung von
Überlegenheit, Auserwähltheit und Macht. Und auch erst dann begreift man, was
passiert, wenn einfache Formeln genügen, ganzen Gruppen von Menschen ihre
Menschlichkeit abzusprechen, sie zu UnterMenschen zu machen. Die ganzen abwertenden
Bilder gegen Juden, Polen und Russen tauchen in den Briefen wieder auf. Und das
oft sogar neben authentischen Schilderungen, die eigentlich davon erzählen,
dass die angelernten Frames nichts mit der vorgefundenen Wirklichkeit zu tun
haben. Da merkt man, wie sich selbst Helmut und Gretel in ihren Zeilen wieder
aufraffen und auf die NS-Formeln zurückgreifen und sich selbst beschwören, dass
ja doch der Nazismus Recht haben muss.
Für Leute, die klares Denken leben, sind die Briefe
– und die sind allesamt nur in Ausschnitten zitiert – schwer zu verdauen.
Selbst dann, wenn man merkt, wie krampfhaft die drei Briefeschreiber versuchen,
dem nazistischen Wortgebrauch zu genügen und sich auch in den Briefen als
überzeugte Anhänger der NS-Ideologie zu beweisen. Ganz so, als würden sie
jederzeit damit rechnen, dass jemand anders diese Texte liest.
Was den nächsten Aspekt dieser NS-Zeit zumindest
wahrnehmbar macht: Den allgegenwärtigen Druck, sich als „überzeugter
NS-Anhänger“ zu beweisen – bis in die Familie hinein. Denn wo nur die absolute
Überzeugung gilt, die Linientreue, wie es schon damals hieß, da werden alle
humanen Regungen zur Gefahr, ist der Schritt vom Zweifel in den medial
permanent beschworenen „Verrat“ nicht weit.
Man geht nicht fehl, wenn man dieselben
Wirkungsmechanismen auch im Stalinismus wiederfindet – anders verkleidet, da
und dort nicht ganz so brutal. Aber auch das ist nur ein weiteres Kapitel aus
mittlerweile immer mehr Kapiteln der um sich greifenden modernen Ideologien.
Eigentlich ist die Geschichte von Christian und
Margarete sogar die Geschichte einer späten Wandlung, auch wenn die Kinder
nicht wirklich benennen können, wann und wie es geschah. Oder – das erwägen sie
auch in ihren Kommentaren nicht – ob es nicht gerade Christians Bemühen um
Gretel war, die sie nach vielen Gesprächen und Auseinandersetzungen geöffnet
hat für seine Zweifel und seine christliche Sicht auf die Welt. Das ist das
Pech der späten Beschäftigung: Beide Elternteile können nicht mehr gefragt
werden. Der Moment für das Gespräch über das nun Gelesene ist ungenutzt
vorübergegangen. Auch weil die Kinder ja nicht ahnten, wie tief die Eltern in
der nazistischen Ideologie gesteckt hatten.
Der Historiker Christoph Dieckmann geht im Nachwort
auf das Problem ein. Denn dieses Gespräch der Kinder mit ihren Eltern über
deren wirkliches Leben in der NS-Zeit ist in den meisten Familien vermieden
worden. Nicht nur im Westen, auch im Osten. Beide Gesellschaften haben sich
emsig darum bemüht, jede Schuld an den Untaten der NS-Zeit von sich zu weisen
und ein paar Wenige zu „Schurken“ zu erklären. Was „Hitlers willige
Vollstrecker“ (Daniel Goldhagen) zu einer fast mystischen Größe gemacht hat. Am
Ende waren nur die paar Spitzennazis schuld, die in Nürnberg verurteilt
wurden. Selbst nach dem 8. Mai 1945 zeigte sich Gretel, die ihren Christian
noch im Kriegsjahr 1943 heiratete, überzeugt, dass „unser Führer von all dem
nichts gewusst haben kann“. Dabei hatte Christian schon in viel früheren
Briefen versucht, mit ihr vom christlichen Standpunkt über die Pogrome gegen
die Juden zu sprechen.
Die Indoktrination durch die NS-Propaganda wirkte
auch im Verschweigen noch fort und über das Kriegsende hinaus.
Insofern verblüfft schon, wie eifrig Christian
versucht, seinen christlichen Glauben irgendwie mit der das Land beherrschenden
NS-Ideologie in Übereinstimmung zu bringen. Aber immer da, wo es wirklich um
menschliche Haltungen geht, scheitert er, hat das, was der „von der
Vorhersehung gesandte Führer“ predigte, nichts mit den so einfachen Ansprüchen
des Neuen Testaments zu tun.
Die drei Geschwister haben sich nicht leicht getan,
die Briefe nun in einem Buch öffentlich zu machen. Aber wie Dieckmann betont,
ist auf diese Weise ein einzigartiges Zeugnis öffentlich geworden, wie es in
der Aufarbeitung der NS-Zeit sichtlich gefehlt hat. So intensiv in die
Beweggründe dreier junger Menschen, die mitten in Zeiten zunehmender
Radikalität und eines als „Blitzkrieg“ gestarteten Marathons von Kriegen ihren
Weg ins Leben suchten, hat man auch in den vielen Biografien der Zeitzeugen
noch nicht gefunden. Wobei gerade die Mitläufer so gut wie nie wirklich über
das Erlebte und vor allem über ihre Verführbarkeit berichteten. Gerade das aber
würde uns Einiges lehren – nicht nur über die Funktionsweise von Diktaturen,
sondern auch die von modernen
Mediengesellschaften. Und das Nazi-Reich war eine.
Ohne eine auf die gleichen Frames gepolte Bevölkerung hätte das Nazireich so
nicht funktionieren können.
Und gerade der Aspekt wurde noch nicht wirklich
beleuchtet. Denn in dieser Macht über die Köpfe steckt auch für die heutige
Demokratie dieselbe Gefahr, die auch die Weimarer Republik zerstört hat. Denn
an die Macht gekommen sind die Nazis ja nicht mit Gewalt, sondern mit Worten,
die in Frames steckten, von denen einige bis heute durch die Bodenschichten
unserer Gesellschaft wabern.
Freie Presse Chemnitz, Freitag, 3. Februar
2017,
WOCHENENDE S. B1
Pandoras Büchse
Briefe, Tagebücher, Notizen - fast vergessen auf einem
Dachboden. Bis Joachim Krause sie doch liest: Die Schriftstücke seiner Eltern
aus der NS-Zeit verstören ihn bis heute. In einem Buch hat er sie
veröffentlicht.
Von Katrin Mädler (Text und Fotos)
Einfache Kisten auf dem Dachboden sind für Joachim Krause zur berühmten Büchse
der Pandora geworden: Er öffnete sie und danach war es zu spät, der Inhalt
veränderte alles und ließ sich nicht mehr zurückdrängen. 1800 Briefe fand er,
dazu Tagebücher und andere Schriften, verfasst von drei jungen Deutschen in
den Jahren zwischen 1933 bis 1945. Sie streiten über das
nationalsozialistische Weltbild, berichten über den Krieg - und befürworten
Dinge, die Joachim Krause schockieren. "Für meine Frau und mich ist das
Gelesene seit vier Jahren ein Dauergespräch", sagt er in seinem früheren
Elternhaus in Schönberg im Landkreis Zwickau, in dem er nun selbst lebt. Fragen
kann er die Schreiber nichts mehr, sie sind tot, aber keine Unbekannten für
ihn, sondern sein Vater Christian, seine Mutter Margarete und sein Onkel
Helmut. Eine Auswahl aus dem Schriftwechsel hat er im Buch "Fremde Eltern.
Zeitgeschichte in Tagebüchern und Briefen 1933 - 1945" veröffentlicht.
Eigentlich wusste der 70-jährige Joachim Krause von den
sorgfältig gefalteten Briefen auf dem Dachboden, die mit Bändern
zusammengeschnürt waren, seit seiner Kindheit. "Aber die Sütterlin-Schrift
konnte ich nicht lesen, das alte Zeug hat mich und meine Geschwister nie
interessiert." Warum hatten die Eltern die früheren Zeugnisse ihres
Lebens nicht vernichtet? Sollten sie der Nachwelt etwas erklären? Erst nach
seinem Arbeitsleben als Beauftragter für die Evangelisch-lutherische Landeskirche
in Sachsen fand Krause die Zeit, sich an die damalige Schreibweise zu gewöhnen.
"Dann war ich infiziert."
Er legte Ordner an, die in seinem Arbeitszimmer inzwischen
ein ganzes Regal ausmachen: "Helmut an Christian" oder
"Christian an Margarete" steht an ihnen, darin sind die einzelnen
Blätter nach Datum geordnet und mit Bleistiftnotizen versehen. "Das war
monatelange Arbeit." Bis ein fertiges Buch aus dem Briefwechsel geworden
war, hat Joachim Krause auch mit Zweifeln gerungen: Ist es richtig, die
privaten Gedanken der Eltern zu veröffentlichen - zumal sie sich nicht mehr
erklären können? Sollten alle wissen, dass die eigene Mutter und spätere
Pfarrfrau früher eine überzeugte Nationalsozialistin war? "Einige
Familienmitglieder sorgten sich um das Ansehen unserer Eltern. Mich aber hat
die Geschichte nicht mehr losgelassen."
Alte
Schriften Jahrzehnte verschnürt auf einem Dachboden, zurückgedrängt aus den
Köpfen und dem Alltag: die Aufzeichnungen dreier junger Menschen zu Zeiten
des Nationalsozialismus.
Die Schriften sind tatsächlich ein besonderer Fund: Sie
ermöglichen einen Blick in das Seelenleben von früheren Menschen, aufgewachsen
in der gebildeten Mittelschicht und von einer Zeit geprägt, die uns heute
unbegreiflich bleibt und noch immer zu Diskussionen anregt. Die Umstände
wollten es, dass sich die Eltern in den zwölf Jahren bis zum Kriegsende nur
wenige Wochen tatsächlich sehen konnten. "Der Rest lebt von den Briefen.
Dadurch haben sie ihre Beziehung lebendig erhalten."
Seit 1933 schreiben sich die Arzttochter Margarete Liebelt
(geboren 1915) aus dem thüringischen Ehrenhain und der Lehrersohn Christian
Krause (geboren 1914) aus dem sächsischen Meerane. Kennengelernt haben sie sich
auf Wanderfahrten des konservativ-nationalistisch geprägten "Vereines für
das Deutschtum im Ausland". Margarete schlägt eine Laufbahn als Lehrerin
ein und entwickelt schnell Sympathien für den Nationalsozialismus. Interessant
sind die zwiespältigen Gefühle von Christian, der schon früh Pfarrer werden
wollte. "Für mich ist [...] der Zeitpunkt gekommen, dass ich mich mehr
oder weniger freiwillig zum Nationalsozialismus bekenne. Im Dritten Reich kann
nur der Nationalsozialist öffentlich wirken. Ich will öffentlich wirken",
schreibt er am 8. Juli 1933. Im Laufe der Jahre nehmen bei ihm Zweifel zu, die
er vor der kriegsbegeisterten Margarete nicht verheimlicht. Im Jahr 1944
schreibt er: "Wenn der Führer vom Allmächtigen redet, dann spüre ich
dahinter einen anderen Gott als den christlichen. Und weil ich diesen als den
rechten ansehe, kann ich dem anderen nicht mit ganzem Herzen folgen." Und:
"Ich halte es für falsch, das Volk als höchsten Wert hinzustellen.
Volksegoismus ist von einem höheren Gesichtspunkt aus gesehen nicht besser als
Egoismus des Einzelnen." Die Mutter ließ sich nicht beirren, meinte unverblümt:
"Ich werde nie, nie Christ sein!"
Für Joachim Krause sind die Zeilen schwer nachvollziehbar.
Mit dem liebevollen Ehepaar - er Pfarrer, sie schließlich Hausfrau -, das 30
Jahre in Schönberg wirkte, in der DDR viele politische Aktivitäten ablehnte und
den Kindern eher linksorientiert erschien, haben diese Sätze nichts gemeinsam.
Christian und Margarete schienen das Erlebte wie die Kisten auf dem Dachboden
in die hinterste Ecke ihrer Gefühlswelt geschoben zu haben. "Es sind wie
zwei Bühnen, auf denen unterschiedliche Stücke gespielt werden. Aber ich
denke: Das spätere war ihr zweites, ganz anderes Leben." Erstaunt hat
Krause die Kritik am NS-System, die möglich war. "Mein Vater war Offizier,
seine Briefe von der Front, in denen er die Massenmorde kritisiert, sind bemerkenswert."
Die Geschichte der Eltern war eine Dreiecksgeschichte, als
dritter Schreiber gehört Christians jüngerer Bruder Helmut dazu. Er war
ebenfalls einige Zeit mit Margarete liiert, sie wollte ihn sogar heiraten. Erst
nachdem er 1941 in Russland gefallen war, nahm sie den Kontakt mit Christian
wieder auf. "Helmut und Margarete haben von der Einstellung her besser
zueinander gepasst. Helmut war ein fanatischer Soldat und ein derart
überzeugter Nationalsozialist, dass seine ausführlichen Briefe nur schwer erträglich
sind", meint der Neffe, der seinen Onkel nie kennengelernt hat. "Wir
sind wie Teufel in die russischen Stellungen und Kolonnen gefahren. [...] Die
geballte Faust muss aufgebrochen werden und gegen jene Kulturschänder gelten
nur die härtesten Kampfmittel", schrieb Helmut am 24. September 1941 an
Margarete - fünfzehn Tage vor seinem Tod. Traurig macht Joachim Krause, dass
es nie zu einem Gespräch über das Thema mit seinen Eltern kam. Einmal versuchte
es die Mutter, kurz vor der Wende. "Ich habe es nicht erkannt. Sie kam mit
ihrem Bruder unangemeldet zu uns, ich war in Eile und wollte zu einem Vortrag.
Sie saß auf dem Sofa und sagte unvermittelt, dass sie in der NS-Zeit in der
Partei war. Ich wusste nicht, was ich mit der Information anfangen
sollte." Vielleicht wäre das die Möglichkeit gewesen, darüber zu reden,
ohne Anschreien und Vorwürfe. Die Mutter starb 1995, fünf Jahre später der
Vater. Joachim Krauses Appell: "Achtet auf die Anzeichen, wenn jemand
über seine Vergangenheit reden möchte. Denn irgendwann ist es zu spät
dafür."
Rezension
in „Der Sonntag“, Kirchenzeitung Sachsen
Spätes „Gespräch“ mit fremden Eltern
Joachim Krause veröffentlicht Briefe und Tagebücher
seiner Eltern aus der NS-Zeit und ermöglicht ein spätes Verstehen
Joachim Krause und seine Geschwister machen die Entdeckung
auf dem Dachboden: Fast zweitausend Briefe sowie Tagebücher der Eltern aus den
Jahren 1933-1945; dazu Urkunden, Bescheinigungen, Zeugnisse und Fotografien. Es
ist ein Glücksfund, auch wenn sich die Auswertung als erschreckend erweist.
Krause (geboren 1946) ist von Beruf Chemiker, Publizist und
Theologe – von 1982 bis 2010 war er Beauftragter für Glaube, Naturwissenschaft
und Umwelt der sächsischen Landeskirche.
Mit der Veröffentlichung seines brisanten Dachbodenfundes
zögerte er zunächst, schließlich handelt es sich um die Hinterlassenschaft
seiner Eltern Christian (1914-2000) und Margarete (1915-1995). Beide kannten
sich seit 1931 und heirateten
1943. In ihren Briefen geht es um Privates, um ihre Liebe
zueinander, um Alttägliches - aber auch um viel mehr.
»Da wurde gerungen und gestritten, über die Stellung zum
Nationalsozialismus und zu den Juden, über den Sinn des Krieges, über
Sexualmoral und über Glaubensfragen. Und all das im Kontext jener dramatischen
Jahre zwischen 1933 und 1945«, schreibt Krause im Vorwort.
Vater Christian schreibt als Oberschüler, als
Theologiestudent, Vikar und Pfarrer in der ››Bekennenden Kirche«, als Soldat im
»Heimaturlaub« und aus »Feindesland«, später als Kriegsgefangener.
Mutter Margarete schreibt als Mitglied im »Bund deutscher
Mädel«, aus dem »Frauenarbeitsdienst« und der »Landfrauenschule«, als Studentin
im »Landdienstbetreuungseinsatz«, als »Landwirtschaftliche Lehrerin« im ehemals
polnischen Gebiet.
Erst sind am Briefwechsel auch Verwandte beteiligt, zum
Beispiel Christians Bruder Helmut (geboren 1915), dem sich Margarete liebend
verbunden fühlte – bis zu dessen »Heldentod« 1941.
Dann der Dialog zwischen Margarete und Christian: Manchmal
gibt es Kontroversen; sie teilt nicht seine bibelfeste Frömmigkeit, er nicht
ihre fanatische Hingabe an den Führer und dessen »Vorsehung«. Doch über die
welthistorische Mission Nazideutschlands sind sie sich – von gelegentlichen
Zweifeln Christians abgesehen – einig.
Die jungen Leute sind belesen, gebildet, sind stolz auf ihre
moralische Gesinnung. Sie sind empfindsam in ihrer Privatsphäre - aber kaum
gegenüber dem Verderben, das über die »Feinde« gebracht wird.
Die Lektüre zeigt nicht nur, wie Millionen Menschen,
infiziert mit demagogischer Propaganda, damals gedacht und gehandelt haben.
Sondern auch, wie darüber millionenfach geschwiegen wurde und wird.
Man liest gespannt, wie die Protagonisten mit dem Untergang
des »Tausendjährigen Reiches« zurechtkommen, ob und wie sie die Geschichte und
ihr eigenes Verhalten reflektieren und welche Fragen die nachgeborenen
Familienmitglieder umtreiben, die in der zweiten deutschen Diktatur aufwuchsen.
Christoph
Kuhn
Joachim
Krause stellt sein Buch »Fremde Eltern am 13. Oktober, 19.30 Uhr,
im
»Haus des Buches« Leipzig (Gerichtsweg 28) vor.
Brisanter
Dachbodenfund:
Der
Theologe und Autor Joachim Krause mit Briefen und Tagebüchern seiner Eltern aus
der Zeit von1933 bis 1945.
Mit
diesen zu dem Buch „Fremde Eltern“ zusammengefassten Dokumenten möchte Krause
ein Verstehen der Verblendungen der Elterngeneration ermöglichen.
Foto:
Privat
13.10.2016
Buchvorstellung
im Literaturcafé im Haus des Buches, Leipzig
Fremde
Eltern – Zeitgeschichte in Tagebüchern und Briefen 1933-1945
Datum: 13.10.2016
19:30–21:00 Uhr
Ort: Literaturcafé
im Haus des Buches, Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig
Buchvorstellung mit dem Herausgeber Joachim Krause sowie
Ursula Knepper und Dr. Michael Krause
Moderation: Werner Rellecke, Sächsische Landeszentrale für
politische Bildung
Eine Veranstaltung des Literaturhauses Leipzig, der
Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und des Sax-Verlages
Zum Inhalt des Buches:
Brisante Entdeckung auf dem Dachboden: Lange nach dem Tod
seiner Eltern (1995/2000) und 70 Jahre nach dem frühen »Heldentod« seines
Onkels findet Joachim Krause fast 2000 Briefe, die sie sich in den Jahren 1933
bis 1945 geschrieben haben, dazu einige Tagebücher. Wie beim Zusammensetzen
eines Puzzles gewinnt in den Texten nach und nach ihr damaliges Denken, ihr
Leben und Handeln Konturen. Die drei jungen Leute suchen Orientierung, und sie
streiten – über den Nationalsozialismus und die Juden, über den Sinn von Krieg
und Tod, über Sexualmoral und Glaubensfragen. Die Mutter erweist sich als
glühende Verehrerin Hitlers, der Onkel als fanatischer Offizier, nur der Vater
bewahrt sich eine gewisse kritische Distanz zur nationalsozialistischen
Ideologie. Ihre Briefe werden zu authentischen Zeugnissen der Zeitgeschichte.
»Solch ungeschönte Stimmen aus der Vorzeit lassen uns
begreifen, welcher Welt die heutige entstammt. Wir hören, wer unsere Eltern
waren, bevor wir sie kannten.« (Christoph Dieckmann)
(Leider gibt es zu dieser
Veranstaltung, die gut besucht war – etwa 60 Teilnehmer – und bei der angeregt
und tiefgründig diskutiert wurde, keinen Medien-Bericht.)
Der ZEIT-Kolumnist Christoph Dieckmann
im Nachwort zu dem Buch „Fremde Eltern“
Christoph
Dieckmann
Irrlicht und
Sumpf
Dieses erregende Buch hätte vor der ostdeutschen Zeitenwende
1989 nicht erscheinen dürfen. Es enthält faschistische Propaganda. Die DDR war
ein antifaschistischer Staat. Er schützte seine Bürger vor
nationalsozialistischer Ideologie. Er bestritt jede Kontinuität zum NS-Regime.
Er enteignete die kriegsschuldigen Konzerne und verfolgte die Täter des
"Dritten Reichs", die deshalb laut DDR-Schulweisheit in Westdeutschland
lebten.
Die junge Bundesrepublik
übernahm die Rechtsnachfolge des Hitler-Staats. Das Kapital blieb unangetastet.
Flugs "entnazifizierte" Lehrer, Juristen, Journalisten, Militärs
propagierten fortan antikommunistische Freiheitswerte. Erst im Streit der Generationen
errang die bundesdeutsche Gesellschaft ihren antifaschistischen Konsens. Die
DDR hatte den Antifaschismus als Geschenk der Siegermacht Sowjetunion erhalten.
Er war Staatsdoktrin. Bewähren mußte er sich nicht, bis in den achtziger Jahren
geschah, was es doch gar nicht geben konnte: ostdeutsche Neonazis randalierten.
Gedeckelt blieb in
der DDR eine simple Wahrheit: Sehr viele ihrer Bürger waren im
Nationalsozialismus aufgewachsen, hatten ihm gemäß gehandelt und gedacht und
lebten mit dieser biographischen Prägung. Solch mentale Herkunft fand in der
"Diktatur des Proletariats" schwerlich Buch und Bühne. Sie
überdauerte mündlich, als privatsprachliche Familiengeschichte. Den lieben
Nazi-Opa, den kernigen SS-Onkel gab es nicht nur im Westen.
Nach der
Jahrtausendwende machten Joachim Krause (geboren 1946) und seine beiden
jüngeren Geschwister einen beunruhigenden Fund. Auf dem Dachboden entdeckten
sie frühe Briefe und Tagebücher ihrer Eltern und des väterlichen Bruders. Die
Hinterlassenschaft war von doppelter Brisanz. Christian Krause und Margarete
Liebelt (geboren 1914 und 1915) kannten sich seit 1931. Sie wurden früh ein
Paar, gingen aber wieder auseinander. Margarete begegnete Christians Bruder
Helmut (geboren 1915) und begriff ihn als ihre Lebensliebe. Der Erwählte fühlte
für sie weniger, wenngleich nicht wenig. Nach Helmuts Soldatentod 1941 suchte
Margarete abermals den älteren Bruder. Das Paar fand sich erneut und heiratete
1943. Die Eheleute lebten nach dem Kriege in der DDR. Christian Krause wurde
Pfarrer in Sachsen. Nach 52 Jahren Ehe starb Margarete Krause 1995, ihr Mann
fünf Jahre später.
Zwei Brüder, eine
Braut - dieses Drama müßte nicht öffentlich werden. Anders verhält es sich mit
der eigentlichen Entdeckung der Kinder. Zu ihrem Erschrecken war ihre Mutter,
die Pfarrfrau Margarete Krause, eine fanatische Nationalsozialistin gewesen,
führergläubig und erfüllt von deutschvölkischer Mission. Ideologisch paßte sie
vorzüglich zu Onkel Helmut. Und Christian, nachmals der Vater? Er suchte und
schwankte. Vor allem seine Ambivalenz rechtfertigt die Edition dieser
Niederschriften und macht sie zum Zeugnis der Zeitgeschichte.
Vieles, was ich aus
Christians Leben erfuhr, schien mir vertraut. Auch mein Vater (Jahrgang 1920)
empfing seine jugendliche Prägung zur NS-Zeit. Auch ihn ergriff der Idealismus
des Führer-Kults, die nationalpathetische Demagogie, das rhythmisch orgelnde
Deutsch. Auch ihm war soldatischer Ehrgeiz fremd, auch er wurde Wehrmacht-Funker.
Wie Christian überstand er den Krieg ohne eigenen Mord und wurde Pfarrer in der
DDR.
Der erhebliche
Unterschied: Mein Vater erlebte, was er Berufung nannte, nach 1945. Seine
Kriegsbewahrung sah er als Gnade Gottes, in dessen Dienst er sich genommen
fühlte. Christian, sechs Jahre älter, ringt bereits seit Hitlers "Machtergreifung"
um eine Fusion von christlichem und nationalsozialistischem Glauben. Er möchte
Theologe werden, doch beizeiten spürt er die Christentumsfeindschaft des neuen
Staats. Der verlangt von seinen Bürgern keineswegs nur, "was des Kaisers",
sondern auch, "was Gottes ist". Er fordert rückhaltlose Gefolgschaft
und rassisch-kollektive Identität. "Du bist nichts, dein Volk ist
alles."
Christian gerät an
die Deutschen Christen, Hitlers nationalsozialistisch gleichgeschalteten
Kirchenapparat. Bedenken führen ihn zur Bekennenden Kirche, die allerdings
nicht jene strikte Antithese zum NS-Staat war, als die sie später galt. Der
junge Mann sucht Orientierung und autoritären Halt. Irrungen und Wirrungen
werden verschriftet und der "lieben Gretel" oder dem Tagebuch
zugestellt. An Margarete Liebelt, am 8.7.1933: "Ich liebe es, mir über
alles Wichtige Rechenschaft abzulegen, mein Tagebuch wird folgende Sätze
empfangen: Im Dritten Reiche kann ich nur als Nationalsozialist öffentlich
wirken. Ich will öffentlich wirken, deshalb werde ich Nationalsozialist.
(...) ich werde aber immer in politischer Kritik meine eigene Meinung
sagen."
1934 empfängt
Christians Tagebuch folgendes Credo: "Was ist alle Wissenschaft? Kleiner
Zank kleiner Geister um Kleines. Wenn es Euch schlecht geht, sagt Ihr Euch
Bibelstellen zu und betet. Ich muß etwas schaffen. Mir genügt mein einfacher
Gott in seiner großen Schöpfung. Ich will meinen Weg gehen. Ich will alles
können. Ich will der beste Sohn meines Vaterlandes sein auch im Krieg. Ich
werde Soldat." An Margarete, 20.3.1935: "Heute hat Hitler das
Schicksal Deutschlands in seinen Händen, er hat das Ziel klar vor sich und
handelt danach. Es ist ein Glück, heute zu leben, und eine Verpflichtung, mit
am Werke zu helfen. Wir sind wieder ein freies Volk, wir tun und lassen, was
wir wollen. Der Schlußstein ist gesetzt, jeder deutsche Mann darf wieder die
Waffe führen, er kann sich wieder selbst verteidigen (...) Ich habe in meinem
Leben nie jemanden gefunden, der mir Führer geworden ist, keinen der Lebenden
und keinen der großen Toten. Der erste, an den ich glaube, ist dieser Hitler,
mit seinen klaren Taten. Dieser Glaube geht selbst mir über alle
Religion."
Leider ist die Empfängerin
dieser Zeilen religiös unmusikalisch. Christlich glauben kann sie nicht, umso
mehr an Führer, Volk und Vaterland. Sie schreibt: "Eines ist auch für mich
Gewißheit: die unbedingte Abhängigkeit des Menschen von einer höheren Macht,
die wir Gott nennen, die aber ebenso gut auch Schicksal oder Vorsehung heißen
könnte." Einig ist sie mit Christian im sittlichen Hochgefühl. Das Paar
beträgt sich, bis auf eine Übertretung, nach dem Gebot des Schriftstellers
Walter Flex: "Rein bleiben und reif werden, das ist die schönste und
schwerste Lebenskunst." Auch der Leitstern Nietzsche erleuchtet
Margaretes Poesie: "Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, welchen
niemand gehen kann außer Dir. Wohin er führt, frage nicht, gehe ihn!"
Der Leser schwankt
zwischen Rührung und Ironie ob solch schwülstiger Banalitäten. Die
Protagonisten sind keine intellektuellen Geister, sondern schwärmende Seelen.
Sie drängen immerfort zur erhabenen Empfindung. Sie ziehen mit der neuen Zeit.
Als Kinder dieser Zeit wissen sie, daß der Schandfriede von Versailles das
gemarterte Deutschland einer Welt von Feinden preisgab, bis der Führer zur
völkischen Auferstehung rief. Noch mag die Neuzeit Mängel haben - die
Diktatur wird keinesfalls beklagt. Die parlamentarische Demokratie der Weimarer
Republik gilt als dunkle Epoche volksgemeinschaftlicher Zersplitterung. Die
ist nun überwunden, dank Deutschlands Heiland Hitler.
Uns Nachgeborenen
erscheint das schuldhaft blind. Wir wissen ja, was dann geschah. Die
Menschheitskatastrophe des NS-Regimes sehen wir von vorherein in ihm angelegt.
Wir projizieren unser heutiges Wissen auf ein hitlerdeutsches Volk, das nach
1945 millionenfach erklärte, es habe "von alldem nichts gewußt".
Unsere Vorwürfe sind vielfach berechtigt, aber retrospektiv. Schwerlich
nachfühlen lassen sich die Selbstverständlichkeiten der Zeitgenossenschaft.
Gleichschaltung, also Totalitarismus, heißt eben auch Vernichtung kritischer
Distanz. Eingeschmolzen werden Erkenntnisinstrumente und
Verantwortungsstrukturen, die den individuellen Menschen von der Masse
unterscheiden.
Nun kommt der
dritte Protagonist zu Wort. Christians Bruder Helmut beschreitet entschlossen
die Offizierslaufbahn. Am 22.9.1938 schreibt er
"Lieber Christian, ich weiß, daß auch Du von jeher in Deinem
Inneren stärksten Anteil am Wohlergehen Deines Volkes genommen hast. Mit einem
feierlichen Eid haben wir das bis zum Einsatz unseres Lebens geschworen. (...)
Glühender Nationalismus und wahrer Sozialismus wird wohl auch nur noch von den
wenigsten verleugnet. Die Rassenlehre (...) zur Reinerhaltung unseres Blutes
und der damit geschaffene Schutz vor weiteren gebrochenen Zwitter-Seelen ist
eine Lehre, die wir als göttliches Wollen ebenfalls anerkennen müssen."
Gott erklingt, wenn Helmuts Rassenhymnik metaphysischer Obertöne bedarf.
Vermutlich ist Gott Germanias Schicksalswalter, gewiß jüdisch unversippt. Auch
Margarete schreibt: "Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen,
Schöpfer Himmels und der Erden. Ich glaube nicht an Jesum Christum, seinen eingeborenen
Sohn."
Am 1. September
1939 beginnt der Krieg.
Am 7.5.1936 hatte
Christian geschrieben: "Darf ein Christ im Kriege schießen? Matthäus 5
fordert die Widerstandslosigkeit. Lieber ohne Sünde sterben als mit Sünde leben
bleiben. Wer getötet hat, ist kein Christ mehr ..." Nun, am 16.9.1939,
bekennt Christian dem Bruder: "Ich glaube, daß die meisten Soldaten
gottlos leben und gottlos sterben." Nicht der Krieg wird beklagt, sondern
geistloses Landsknechtsgebaren. Helmut jubelt bereits als Sieger: "Das
Schicksal Polens hat sich erfüllt." Christian an Helmut am 13.6.1940:
"Dieser Krieg soll die Völker Europas glücklich machen."
Christian besitzt
durchaus Eigensinn, Anstand und humane Forderungen an den eigenen Charakter.
Sein Gewissen bleibt halbautonom. Er glaubt sich persönlich geführt - vom
christlichen Gott, nicht von der Vorsehung. Zeitweilig dringt Christus zu
Christian durch. Gottes Wort ist - wie Christian mal erkennt, mal verdrängt -
das Gegenteil der NS-Doktrin. Helmut gedeiht vollends zum Ideal-Nazi, in dessen
blutstolzen Kriegsberichten der arische Kämpfer wütet. "Wie Teufel"
seien er und seine Kameraden "in die russischen Stellungen und Kolonnen
gefahren (...) gegen jene Kulturschänder gelten nur die härtesten Kampfmittel.
Im Westen kämpften wir gegen die Neger, im Osten gegen die Bolschewisten und
überall gegen die Juden. (...) Wir sind stolz und dankbar, daß Gott uns einen
Führer sandte, der die Gefahr rechtzeitig erkannte und sie nun
vernichtet."
Bereits kurz vor
Kriegsbeginn hatte Helmut Margarete wissen lassen: "Ein Neger wird (...)
nie die Musik eines Beethofens schöpferisch in sich aufnehmen können."
Margarete erkennt in Bolschewisten "Tiere in Menschengestalt (...)
Deutschland steht für Europa und alle erkennen es an." Christian schreibt
der Mutter, er sei auf Helmut neidlos stolz. "Und ich habe lächeln müssen
darüber, daß er auch im Kriege so ungeduldig ist." Ihm selbst, meldet er
Helmut am 9.9.1941, fehle keineswegs "der aktive Schwung, der ran an den
Feind will". Der Oberleutnant Helmut Krause wünscht sein Leben lieber kurz
und straff als lang und schlaff. Sein Wunsch erfüllt sich am 10.10.1941, an der
Ostfront, bei Orel. Der Leser ist erleichtert, daß dieser Autor verstummt.
Helmuts Andenken wird familiär eingeschreint. Vater Krause: "Ein schöner
Tod!"
Das Irrlicht
Christian flackert weiter. Auch er kämpft an der Ostfront. Lebhaft schwärmt er
der Mutter von Stalingrads Bombardierung: "Ein herrlicher Anblick
..." Am 20.10.1941, zehn Tage nach Helmuts ihm noch unbekanntem Tod,
schreibt er an den Bruder: "Es ist doch Tatsache, daß auch wir lieber Tote
als Gefangene machen; diese machen viel zu viel Scherereien. Besonders mit den
Juden wird es nicht so genau genommen. Und ich sehe ein, daß es nötig ist.
(...) Eine objektive Betrachtung führt zu keinem erlösenden Ergebnis." Ein
Jahr später konstatiert Christian: "Ich würde besser in die Zeit Bismarcks
passen. Da ließ man auch den anderen Völkern Lebensraum. Denn schließlich hat
doch jedes Volk sein Recht auf Leben. Wir aber vernichten z.B. die Juden
systematisch."
Am 30.1.1942
spendet Margarete ihrem Tagebuch eine unübertreffliche Niederschrift:
"Eben hat der Führer gesprochen. Nun spielt das Radio Märsche. Panzer
rollen in Afrika vor! Mein Herz schlägt heiß. Ja, tausend Mal ja! Auch ich will
mein letztes geben in diesem Kampf, freudig all meine Kräfte. Und aus dem
heißen Wunsch wächst stark die Sehnsucht, auch einem Soldaten wieder schenken
zu dürfen, Freude, Verstehen, Kameradschaft, vielleicht auch Liebe! Nein
Helmut, ich vergesse Dich nicht. Herrgott, aber da liegen Kräfte brach, die
zum Leben drängen!"
Am 21.6.1942
schreibt Margarete an Christian: "Ob du es auch so fühlst, daß zwischen
uns noch irgendwie eine Spannung besteht, eine Unklarheit, die einmal nach der
einen oder anderen Richtung restlos gelöst werden muß?" Christian
antwortet Margarete sechzehnmal, ehe ihn ihr zweiter Brief erreicht. Im
November 1942 sehen sie sich wieder, nach sieben Jahren. Zwei Tage später sind
sie verlobt.
Diese deutsche
Liebe überlebt den völkischen Untergang. Allerdings bleibt Margaretes spätere
Bekehrung zur Pfarrfrau ein Mysterium. Als Christian bereits fand, Deutschland
habe Stalingrad verdient, schwadronierte sie noch vom wohlverdienten Schicksal
der schmarotzenden Juden. Kein Volk komme dem deutschen gleich, und "nur
Reinheit des Blutes ermöglicht dem Gewissen, klar und sicher auszuschwingen".
Christian sah am 26.9.1943 "unser Volk gerade im Leid als Gottes auserwähltes
Volk". Später begriff er Deutschlands Niederlage als Sündenstrafe.
"Was gibt uns die Berechtigung, die Herren Europas sein zu wollen?"
Das Christentum gelte keinem Volk, sondern dem einzelnen und der gesamten
Welt. "Dieser Krieg ist das Unmenschlichste, was der Mensch je getan
hat", schrieb er am 1.11.1944. Am 9. Mai 1945, einen Tag nach Deutschlands
Kapitulation, streckte endlich auch Margarete die Waffen: "Hoffentlich
benimmt sich der Russe einigermaßen menschlich."
Wenn "der
Russe" sich benommen hätte wie zuvor der deutsche Übermensch in der
Sowjetunion, dann gäbe es heute kein deutsches Volk.
Es begann die
nächste neue Zeit, und die Geschichte der Kinder. Im Anhang dieses Buchs
schreiben Joachim, Ursula und Michael Krause, wie sie Vater und Mutter erlebten
und mit welchen Gefühlen sie den Nachlaß lasen. Dank und Respekt für den Mut,
diesen Fund öffentlich zu machen! Solch ungeschönte Stimmen aus der Vorzeit
lassen uns begreifen, welcher Welt die heutige entstammt. Wir hören, wer unsere
Eltern waren, bevor wir sie kannten - und sie uns.
(Berlin-Pankow, im Februar 2016)
(Quelle: http://panzerregiment35.blogspot.de/2016/08/pikra-pionier-krause-der-intime-teil.html
)
EINGESTELLT VON HANS-JÜRGEN ZEIS
SAMSTAG, 27. AUGUST 2016
PiKra
- "Pionier Krause" der intime Teil seines Lebens...
PiKra ist der einzige Protagonist des Regimentes, über den
wir so viel Intimes aus seinem Privatleben erfahren. Ohne Joachim Krause und
seinem Mut wäre das niemals möglich gewesen. Mir selbst wurden solche
Einblicke niemals gewährt. Selbst im engsten Familienkreis wurden alle
wichtigen Unterlagen und sehr privaten Aufzeichnungen noch als letzte Arbeit
eines Todgeweihten vernichtet. Es zeigt den Grad der Verschwiegenheit , auch
den engsten Familienmitgliedern gegenüber an. Zu solchen herausragenden
schriftstellerischen Leistungen wären die meisten meiner Familienmitglieder
auch nicht intellektuell in der Lage gewesen. Familie Krause bewegte sich auf
einem anderen "Level", einem anderen Bildungsniveau.
Ein Brief, nämlich der von Walter Angst vom 29.12.1933 aus
Zürich hat mich gefesselt und mich sehr nachdenklich gemacht. Glasklar, ohne
Verbrämung, ohne pathetische Sülze! Es gab sie, die Menschen mit dem scharfen
Blick für die Realität. Vergeblich suchte ich nach weiteren Briefen von diesem
Mann. Mit einigen Sätzen entlarvte er alles Scheinheilige und damit den ganzen
Nationalsozialismus.
Persönlich bin ich der Überzeugung, dass alle Briefe mit der
Maßgabe geschrieben sind, so scheinen zu wollen, wie es einem Idealbild der
Zeit entsprach. Alles wurde idealisiert und verbrämt, einer gigantischen
Wagneroper gleich.
So zu sein, so zu denken, so zu sprechen wie ich es mit
meinem Vater tat, wie ich mit verschiedenen Veteranen sprach, wäre undenkbar,
ordinär und unvorstellbar gewesen.
Man schwebte gemeinsam auf einem tödlichen Olymp, als Abkömmling
der Olympier in allerhöchsten Sphären, in einer Sprache, die eines Thomas Mann
würdig gewesen wäre. Welche Abgründe tun sich in meiner Erinnerung mit
Zeitgenossen auf, die auf unterster Ebene, in untersten Dienstgraden um ihr
Leben, ihre Zukunft und ihr Überleben kämpften.
Einen wirklichen Zugang zu dieser hochintellektuellen Welt
hatte ich nie und fand ich nie. Diese Welt wollte mich nicht und ich wiederum auch
nicht sie. Mir erzählten die Soldaten andere, intimste Dinge, die ihnen
alltäglich waren. Sex, Puffs in Frankreich, Alkoholgelage, Tripper ,
vollgeschissne Hosen, Blut, Gestank und verweste Körper... Neid, Missgunst,
Verrat, Überleben, Karriere, und über allem: Die Götter, die Ehre, der
Gehorsam, die Disziplin, die Offiziere! Der Geist und das Rückgrat dieser Zeit.
Zur besseren Erklärung möchte ich meinen Vater zitieren, der
im Stadtteil Maxfeld in Nürnberg aufwuchs. Er spielte manchmal in einer Seitenstraße
am Stadtpark, wo auch Familie Urschlechter wohnte. Wenn Andreas (der spätere
Oberbürgermeister) mit ihnen spielte, dauerte es nicht lange und am Fenster
erschien seine Mutter, immer hochgeschlossenes Kleid und rief zu ihrem Sohn
hinunter: "Andreas! spiele nicht mit den Gassenjungen! Komm herauf!"
Die "Gassenjungen" das waren die anderen! Sie
gingen nicht auf Oberschulen, Gymnasien, etc. Sie gingen mit vierzehn Jahren
in die Lehre und blieben Arbeiter. Sie waren das Proletariat, wohnten in
Hinterhöfen mit Plumpsklo, machten abends Heimarbeit und waren meist
kinderreich. Gelang ihnen der Aufstieg in den Offiziersrang, so äfften sie
umso eifriger die Lebensgewohnheiten der oberen Gesellschaftsschicht nach und
meinten noch konsequenter, noch härter sein zu müssen, um dem neuen Anspruch
gerecht zu werden.
Dieses Buch schließt eine wichtige Lücke für all diejenigen,
welche immer noch ratlos und vollkommen irritiert ihren hochdekorierten
Offiziersvätern, Großvätern hinterher starren und niemals eine Antwort fanden,
wieso, weshalb, warum?
PiKra macht es vor. Er zeigt wie man als guter Christ auch
massenhaftes Töten akzeptieren kann, ohne Schuldzuweisung, im festen Glauben,
der Menschheit einen großen Dienst zu erweisen. Zwischen diesen Welten liegt
die Wahrheit, das Schicksal der Menschen, ihre Schuld, ihr Unvermögen, ihr
totales Versagen, eine friedliche Welt zu gestalten...
https://publik.verdi.de/2016/ausgabe-08/spezial/kulturbeutel/seiten-22-23/A2
ver.di Publik :: /
Ausgabe 08 / Spezial / Kulturbeutel / Seiten 22+23 / Briefe vom Dachboden
ähnlich auch in:
MUT –Forum für Kultur, Politik und
Geschichte, Nr. 589, Mai 2017, Seite 63
Briefe vom Dachboden
Wie viel näher Geschichte durch erzählte Geschichten statt
durch Fakten aus Geschichtsbüchern kommt, zeigt das Buch "Fremde
Eltern". Ein Buch, in dem zeitgeschichtliche Dokumente durch subjektive
Aufzeichnungen aus Tagebüchern und Briefen ergänzt werden. Joachim Krause -
Chemiker, Theologe und Publizist - und seine Geschwister entdecken eines Tages
ziemlich Verstörendes aus den Jahren 1933 bis 1945 auf dem Dachboden des
elterlichen Hauses. Mit der Veröffentlichung zögern sie, schließlich handelt es
sich um die Hinterlassenschaft der Eltern Christian und Margarete (geboren 1914
und 1915; gestorben 2000 und 1995). Beide lernten sich 1931 kennen und
heirateten 1943. In ihren Briefen geht es um Privates, um ihr Verhältnis, ihre
Liebe zueinander, um Alltägliches - aber auch um den Glauben an Gott und an
Adolf Hitler, ihre Haltung zum Nationalsozialismus, zum Juden- und Christentum,
zur Kirche, zum Krieg.
Vater Christian schreibt als Oberschüler, als
Theologiestudent, Vikar und Pfarrer in der "Bekennenden Kirche", als
Soldat niederen bis höheren Grades im "Heimaturlaub" und aus
"Feindesland", später als Kriegsgefangener. Mutter Margarete schreibt
anfangs als Mitglied im "Bund deutscher Mädel", später aus dem
"Frauenarbeitsdienst" und der "Landfrauenschule", von
Lehrjahren auf norddeutschen Bauernhöfen, als Studentin im
"Landdienstbetreuungseinsatz", als "Landwirtschaftliche Lehrerin
und Wirtschaftsberaterin" im ehemals polnischen Gebiet. Zunächst sind am
Briefwechsel auch Verwandte beteiligt, so Christians Bruder Helmut (geboren
1915), dem sich Margarete liebend verbunden fühlt - bis zu seinem
"Heldentod" 1941.
Im Dialog zwischen Margarete und Christian gibt es manchmal
Kontroversen; sie teilt nicht seine bibelfeste Frömmigkeit, er nicht ihre
fanatische Hingabe an den Führer und seine "Vorsehung". Doch über die
vermeintlich welthistorische Mission Nazideutschlands sind sie sich einig -
von gelegentlichen Zweifeln Christians abgesehen. Sie sind belesen, gebildet,
bilden sich etwas ein auf ihre moralische Gesinnung. Sie sind empfindsam in
ihrer Privatsphäre - aber kaum gegenüber dem Verderben, das über die
"Feinde" gebracht wird.
Die Lektüre der verschiedenen Briefwechsel zeigt nicht nur,
wie offensichtlich Millionen Menschen, infiziert mit demagogischer Propaganda,
gedacht und gehandelt haben. Sondern auch, wie darüber millionenfach
geschwiegen wurde und wird. Man liest gespannt, wie die Protagonisten mit dem
Untergang des "Tausendjährigen Reiches" zurecht- und in der Neuzeit
ankommen, ob und wie sie die Geschichte und ihr eigenes Verhalten reflektieren
und welche Fragen schließlich die nachgeborenen Familienmitglieder
umtreiben.
Christoph Kuhn
Buchvorstellung
in der Stadtbibliothek in Meerane
(Bericht, Quelle: Freie Presse Chemnitz,
Regionalteil Glauchau 8.10.2016)
Autor lernte seine Eltern neu kennen
VON
JULIA LAPPERT
Aus Briefwechseln und Tagebüchern ist ein Buch entstanden,
das der Schönberger Autor Joachim Krause nun in Meerane vorgestellt hat.
MEERANE/SCHÖNBERG - Mit Herzklopfen in der Brust hat der
Schönberger Autor Joachim Krause vorgestern sein neues Buch „Fremde Eltern -
Zeitgeschichte in Tagebüchern und Briefen 193 3-1945“ in der Meeraner
Bibliothek vorgestellt. „Es ist nicht einfach über die eigene Familiengeschichte
in der Öffentlichkeit zu sprechen“, sagt der Autor. Vor vier Jahren hat der
1946 geborene Schönberger fast 2000 Briefe sowie Tagebücher in Kisten auf dem
Dachboden gefunden. Darin befand sich vor allem der Briefwechsel zwischen
seinen Eltern, aber auch zwischen seiner Mutter und dem Bruder seines Vaters.
Krauses Eltern waren zwischen 1933 und 1945 zwischen 17 und 29 Jahren alt und
schrieben über den Nationalsozialismus und Juden, über den Sinn von Krieg und
Tod, Glaubensfragen und Sexualmoral. Besonders die Haltung seiner Mutter als
junge Frau überraschte und erschreckte Krause zutiefst.
„Ich habe zwei Mütter“, sagt der Autor heute. „Diese
Entdeckung hat eine junge Frau gezeigt, die wir Kinder so nie kennen gelernt
haben.“ Seine Mutter habe er als eine sehr sozial denkende Frau erlebt, die die
drei Kinder zur eigenen kritischen Meinungsbildung erzogen hat.
In den Briefen zwischen 1933 und 1945 schreibt seine Mutter
allerdings als überzeugte Nationalsozialistin, der Vater hingegen wahrte eine
kritische Distanz zur Ideologie und versuchte sie auf die Verbrechen
hinzuweisen. „Es ist gut zu wissen, dass Menschen sich ändern“, sagt Krause.
Weshalb seine Eltern nie über diese Zeit gesprochen haben, weiß der Autor
nicht. Seine Eltern starben 1995 und 2000.
Nächste
Woche Donnerstag stellt Joachim Krause sein Buch in Leipzig um 19.30 Uhr im
„Haus des Buches“ vor.
DAS
BUCH „Fremde Eltern“ kostet 24,80 Euro und ist in den Shops der „Freien
Presse“
bestellbar.
Autor
Joachim Krause las gemeinsam mit seiner Schwester Ursula Knepper aus seinem
Buch „Fremde Eltern“ in der Meeraner Bibliothek. Foto: W. STURM
6.10.2016
Buchvorstellung in der Stadtbibliothek in
Meerane
(Bericht, Quelle: Website der Stadt Meerane,
Aktuelles 13.10.2016, http://www.meerane.de/meerane/meerane_news/2016/2016_10/aktuelles_2016_10/krause_fremde_eltern_bericht.htm
)
Der
gleiche Text erschien auch am 26.10.2016 in der Meeraner Zeitung, Amtliche
Bekanntmachungen und Mitteilungen der Stadt Meerane, Seite VIII.
Joachim Krause: „Wie hätte ich mich wohl verhalten?“
Dachbodenfund versetzt Schönberger Autor unter Spannung
Die Bibliothek war wieder gut besucht zur Buchvorstellung
mit Joachim Krause. Kein Wunder: Zum einen ist der Schönberger Autor bekannt
für seine interessanten Berichte und Erzählungen, und zum anderen ging es
diesmal um eine Buchvorstellung, die es in sich hatte. Sein neues Buch mit dem
Titel „Fremde Eltern – Zeitgeschichte in Tagebüchern und Briefen
1933–1945" stellte er Anfang Oktober zusammen mit seiner Schwester und
seinem Schwager vor. Vielleicht stocken Sie jetzt beim Lesen der Jahreszahlen
und vermuten eine für Geschichtsstunden typische Berichterstattung. Weit gefehlt!
Was die zahlreichen Besucher an diesem Abend zu Gehör bekamen, ist wahrlich
eine Seltenheit und spannend noch dazu. Warum? Joachim Krause machte eine
brisante Dachbodenentdeckung – Dokumente, Briefe und Tagebücher. Nur waren es
nicht irgendwelche, sondern die seiner Eltern nebst Onkel.
Damals gab es kein Internet, und man musste sich noch mit
Stift und Papier hinsetzen, seine Gedanken niederschreiben, zur Post bringen
und warten – durchaus lange, denn so manche Post ging in diesem Falle bis an
die Front nach Stalingrad. Fast 1800 derartige Dokumente sind über die Jahre
entstanden, wurden bewahrt und nun wiederentdeckt.
Diese Wiederentdeckung versetzte Joachim Krause allerdings
in ein Wechselbad der Gefühle. „Wie beim Zusammensetzen eines Puzzles gewinnt
in den Texten nach und nach ihr damaliges Denken, ihr Leben und Handeln
Konturen“, beschreibt er diese Situation und umreißt in nur einem Satz die
gesamte Tragkraft: „Die drei jungen Leute suchten Orientierung, und sie
stritten über den Nationalsozialismus und die Juden, über den Sinn von Krieg
und Tod, über Sexualmoral und Glaubensfragen.“ Denn je mehr er in die Geschehnisse
damaliger Zeit vordringt, um so mehr muss er feststellen, dass seine Mutter
eine glühende Verehrerin Hitlers war und der Onkel ein fanatischer Offizier,
und dass nur der Vater eine gewisse kritische Distanz zur nationalsozialistischen
Ideologie erkennen ließ. „Das waren also meine Eltern damals“, stellte er nachdenklich
fest, „völlig fremd, denn so kannte ich sie ja nicht, als ich in die
Nachkriegswelt hineingeboren wurde.“
Dennoch war ihm wichtig, diese Dokumente zu einem
authentischen Zeugnis der Zeitgeschichte zusammenzufassen, und der Titel des
Buches lag schon fast logisch auf der Hand – „Fremde Eltern“!
Auch das Publikum ist von der Lesung der in Buchform
gebündelten Briefe gefesselt und interessiert zugleich, so dass sich im
Anschluss noch weitere rege Diskussionen ergaben. Viele dankten Joachim Krause
für seine Offenheit und seinen Mut, dies aufzuarbeiten. Denn schließlich gibt
es nicht alle Tage solche Funde, geschweige, dass diese in solcher Ehrlichkeit
veröffentlicht würden.
Im Anschluss erwarben viele das im Sax-Verlag Markkleeberg
erschienene Buch (408 Seiten) und ließen es sich signieren.
Zur
Vorstellung seines neuen Buches wurde Joachim Krause (2.v.l.) von seiner
Schwester Ursula Knepper (li.) und seinem Schwager Joachim Knepper begleitet.
Rechts die Leiterin der Stadtbibliothek Meerane, Angelika Albrecht.
Die
Buchvorstellung mit Joachim Krause „Fremde Eltern“ in der Meeraner Stadtbibliothek
stieß auf großes Interesse.
CyberSAX
– das Dresdner Stadtmagazin online, April 2017
http://www.cybersax.de/literatur/details/article/ein-beredtes-lehrstueck-fuer-die-gegenwart/
EIN BEREDTES
LEHRSTÜCK FÜR DIE GEGENWART
(Gespräch von Bernd Gürtler mit dem Autor Joachim Krause)
Wie konnte es
geschehen, dass gebildete, von christlichen Werten geprägte Bürgerkinder dem
Nationalsozialismus verfallen? Nach wie vor eine Frage, die nach Antworten
sucht. Besonders im Moment gerade wieder, da krude Weltanschauungen erneut
regen Zuspruch verzeichnen. Joachim Krause war von 1982 bis 2010 Beauftragter
für Glaube, Naturwissenschaft und Umwelt bei der Evangelisch-Lutherischen
Landeskirche Sachsens, darüber hinaus Songtextschreiber für Ostrockbands wie
Lift oder Panta Rhei. Im Nachlass seiner Eltern fanden sich Tagebücher und fast
2.000 Briefe, die Auskunft geben über die ideologische Verführbarkeit
gewöhnlicher Alltagsmenschen. Unter dem Titel "Fremde Eltern" (Sax
Verlag, nicht verbunden mit dem Stadtmagazin SAX) liegt das Material seit
Herbst 2016 in einem Buch vor, das weder nach Entschuldigungen sucht noch
verurteilen will, jedoch ein beredtes Lehrstück für die Gegenwart bietet.
Die
Vorgeschichte liest sich, als sei ein gewiefter Marketingstratege zu Hochform
aufgelaufen: Mehrere Kisten, die Jahrzehnte unbeachtet auf dem Dachboden des
Elternhauses lagern, geben bei genauerem Hinsehen einen zeitgeschichtlichen
Schatz preis. Vermutlich ist es aber tatsächlich so gewesen. Das musste sich
gar niemand erst ausdenken, die Wirklichkeit war spannend genug.
Die Kisten gab es, und vieles spricht dafür, dass meine
Eltern von ihrer Existenz noch wussten. Für uns als Kinder ist das auch kein
großes Geheimnis gewesen, aber nichts, dem wir nennenswerte Beachtung geschenkt
hätten. Das war Papierkram, Liebesbriefe, altes Zeug. Erst bei einer letzten
Sichtung kurz vorm Wegwerfen zeigte sich, welche brisanten und verstörenden
Dinge da drin stecken.
Weshalb glaubst
du, dass die Kisten bei deinen Eltern noch nicht ganz in Vergessenheit geraten
waren?
Zur Vorbereitung ihrer Goldenen Hochzeit hatten sie offenbar
Briefe aus der Zeit vor ihrer Eheschließung hervorgeholt und gelesen. Wohl mehr
aber, um sich einen Eindruck zu verschaffen, wie sie den jeweils anderen
damals als Persönlichkeit erlebt hatten. Dass sie nebenher ein Stück
Zeitgeschichte mitliefern und welchen Umfang das hat, das ahnten sie sicher
nicht. Wahrscheinlich weiß ich jetzt weitaus mehr, als sie noch aus der
Erinnerung hätten erzählen können.
Was, wenn es
den Eltern gar nicht darum ging, die Kisten zu vergessen? War ihnen womöglich
eher daran gelegen, dass der Inhalt für die Nachwelt erhalten bleibt.
Es kann sein, dass sie sich selbst noch mal in Ruhe damit
beschäftigen wollten, wenn sie alt sind. Leider ist es nicht mehr dazu
gekommen. Mein Vater behielt einen ausgewählten Jahrgang der Briefe bis
zuletzt bei sich an seinem Alterswohnsitz. Was er nicht getan hätte, wenn ihm
das nichts mehr bedeutet hätte. Bei meiner Mutter findet sich 1945 die Notiz,
dass sie wieder Tagebuch schreiben will, damit ihr Sohn erfährt, in welch
bewegten Zeiten sie gelebt hat. Das war an mich gerichtet. Mich gab es damals
noch gar nicht, aber das lässt vermuten, dass die Tagebücher und Briefe für
mich und meine beiden Geschwister bestimmt gewesen sein könnten. Dass das in
Buchform für die Ewigkeit aufgehoben bleiben sollte, war bestimmt nicht
vorgesehen. So eitel sind meine Eltern nicht gewesen. Sie schreiben zwar
druckreif, Nachbesserungen sind kaum notwendig gewesen. Aber das war privat,
und das sollte es bleiben. Hätten wir unsere Eltern fragen können, sie hätten
sich mit Händen und Füßen gegen eine Veröffentlichung gewehrt.
Nun gibt es das
Buch, was lehrt es uns?
Dass die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar
1933 kein Zufall gewesen ist. Mehrheitlich empfand die deutsche Bevölkerung den
Versailler Vertrag als Schmach und wollte dessen Korrektur. Nationalistisches
Denken war weit verbreitet damals, überall in Europa. Judenfeindlichkeit, auch
christlich untersetzt, galt seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts als
salonfähig. In diesem gesellschaftlichen Umfeld wittern Hitler und die
Nationalsozialisten ihre Chance und ergreifen sie. Bekannt ist das natürlich,
man weiß das alles. Trotzdem bin ich nochmals auf eine Art und Weise
eingetaucht in diese Zeit, wie ich mir das hätte nie vorstellen können. Aber
dann ist es doch erschreckend gewesen, wie selbst bürgerliche Kreise diesen
Ideen verfallen sind. Mein Vater zum Beispiel. Bei der Abschlussfeier seines
Abiturjahrgangs an der Fürstenschule in Meißen wird noch im April 1933 Felix
Mendelssohn Bartholdy, ein jüdischer Komponist, gespielt. Es wird ein Psalm
auf Hebräisch gelesen. In den folgenden Monaten aber wird mein Vater
zurechtgeschliffen. Ende des Jahres ist er, zum Glück nur vorübergehend, ein
begeisterter Nationalsozialist.
Ein Rätsel
bleibt es dennoch, wie das ideologische Gift derart wirken konnte. Deine
Mutter, die Tochter eines Arztes, hatte Abitur. Dein Vater, Sohn eines
Gymnasiallehrers, studiert Theologie, um Pfarrer zu werden!
Deutschland hatte zweifellos leidvolle Jahre hinter sich,
und dann kommt jemand, der verspricht, dass es besser wird. Wenn auch auf Pump,
der wirtschaftliche Aufschwung war kreditfinanziert beziehungsweise der
militärischen Aufrüstung geschuldet. Und wer nicht zu den Opfern gehörte, wer
kein Jude, kein standhafter SPD-Anhänger, kein Kommunist war, dem ging es
wirklich besser. Die Niederschriften meiner Eltern belegen eine enorme
Aufbruchsstimmung. Zunächst jedenfalls, bei meinem Vater ändert sich das, als
er zur Wehrmacht eingezogen und zum Feldzug gegen die Sowjetunion abkommandiert
wird. In seinen Briefen von der Front berichtet er unter anderem von
Gräueltaten gegen Juden, an denen er hoffentlich nicht beteiligt war. Von
meiner Mutter wird das in den erhaltenen Briefen nie aufgegriffen. Sie schreibt
noch am 8. Mai 1945 in ihrem Tagebuch, von den schlimmen Dinge, die jetzt
bekannt werden, hätte Hitler nichts gewusst, hätten die meisten Deutschen nicht
gewusst.
Denkst du,
Menschen reagieren einfach so, wenn entsprechende Rahmenbedingungen vorliegen?
Ja, und man darf nie vergessen, wie Donald Trump jetzt in
den USA oder ähnlich beim Brexit-Votum der Briten, ist auch Hitler das Ergebnis
demokratischer Wahlen gewesen. Mit um die vierzig Prozent befand er sich in
einer komfortablen Situation, errang aber bei keiner Gelegenheit eine absolute
Mehrheit. Es bedurfte jeweils der Steigbügelhalter, die dachten, den bändigen
wir schon. Auch das Ermächtigungsgesetz wurde mit Zustimmung von anderen
Parteien installiert. Die parlamentarische Demokratie entmachtete sich damit
selbst. Viele glaubten, das wird schon nicht so schlimm, bis es zu spät war.
Aber das sind Situationen, da bin ich vorsichtiger geworden. Ich habe in dieser
Zeit nicht gelebt und frage mich manchmal, worauf ich mich eingelassen hätte.
Als mein Großvater 1933 notgedrungen in die NSDAP eintritt, waren gerade eben
zwei seiner Lehrerkollegen mit Nähe zur SPD aus dem Schuldienst entlassen
worden. Der Mann hatte einfach Angst, dass er seine Familie nicht mehr ernähren
kann und seinen geliebten Lehrerberuf aufgeben muss. Wer sich nicht von Anfang
an verweigert hat, für den war es ungleich schwieriger, zwischendrin
auszusteigen.
Würdest du
sagen, die Geschichte könnte sich doch wiederholen?
Mich irritiert schon sehr, dass schon wieder Parolen
verfangen, von denen man annahm, mit einigermaßen Schulbildung wären wir
gewappnet dagegen. Bis ich in die Briefe und Tagebücher meiner Eltern
eingestiegen bin, war ich fest davon überzeugt, dass wir dazugelernt haben: Wir
wollen nie wieder Krieg, wir sind tolerant, wir sind weltoffen. Wir akzeptieren
andere Meinungen. Differenzen klären wir im Gespräch. Das kann hart sein, aber
man muss das nicht mit Gewalt auf der Straße austragen. Und zunehmend merke
ich, dass das eine trügerische Hoffnung war. Es bedarf bloß einer Situation,
die von breiten Bevölkerungsschichten als kritisch empfunden wird. Wobei das,
was wir derzeit erleben, bei weitem nicht vergleichbar ist mit dem, was sich
vor 1933 in Deutschland abgespielt hat.
Das Erstaunliche
ist, dass du, aufgewachsen in der DDR, stets auf kritischer Distanz zum
Arbeiter- und Bauernstaat geblieben bist. Du und deine Familie, ihr habt euch
eben nicht vom politischen System vereinnahmen lassen. Das wäre nicht unbedingt
zu erwarten gewesen bei der Biographie deiner Eltern.
Ich bin 1946 geboren und habe meine Eltern ganz anders
erlebt. Als misstrauisch gegenüber staatlicher Autorität. Nach wie vor sind sie
keine Widerstandskämpfer gewesen, aber deutlich in Opposition zur DDR gegangen.
Sie verboten uns Kindern, Mitglied bei den Jungen Pionieren und bei der FDJ zu
werden, was auch damit zu tun hatte, dass mein Vater Pfarrer war. Bei uns zu
Hause wurde offen politisch diskutiert, es gab keine Tabus, von wegen, das
lassen wir lieber, darüber reden wir nicht. Wir bekamen Toleranz vorgelebt, ich
kann mich an keinen irgendwie fragwürdigen Halbsatz gegen Juden oder Ausländer
erinnern. Meine Geschwister und ich sind von unseren Eltern zu mündigen Bürgern
erzogen worden. Hätte ich mit siebzehn um den Inhalt ihrer Tagebücher und
Briefe gewusst, ich hätte vielleicht die Türe zugeknallt und wäre ausgezogen.
Den Enkelkindern, von denen sich meine Eltern auch kritische Fragen gefallen
lassen mussten, hätte meine Mutter wohl nicht offenbaren wollen, wie sie früher
gedacht und geschrieben hatte.
Auch deine
Songtexte wie das "Am Abend mancher Tage" für Lift oder "Über
mich" für Panta Rhei, sind zutiefst humanistisch!
In meinen Texten beschreibe ich eine Welt, die ich mir
gewünscht hätte. Ich denke, das darf man, und vermute, meine Eltern wünschten
sich 1933 auch bloß eine bessere Welt. Sie kannten das Ende nicht. Wir
betrachten das immer von heute aus und geben uns furchtbar gescheit. Man kann
nur hoffen, dass Aufklärung doch etwas bringt. Es steht nicht alles zum Guten,
gar keine Frage. Aber die Demokratie ist die beste Gesellschaftsform, die wir
derzeit haben.
Bernd Gürtler
Veranstaltungs-Tipp:
Fremde Eltern –– Lesung mit Joachim Krause, Ursula Knepper und Dr. Michael
Krause, 21. April 2017, 19 Uhr, Haus an der Kreuzkirche 6, Mauersbergersaal
zum Buch
„Fremde Eltern: Zeitgeschichte in Tagebüchern und Briefen 1933-1945“
1)
Pflichtlektüre
... für alle, die wissen wollen, wie (fast) ein ganzes Volk den Demagogen erlag!
... für alle, die niemanden mehr haben, den sie befragen können, warum...?
... für alle, die sich um unsere Zukunft Gedanken machen!
Von „wehnuss15“ am 22. Juni 2017
(Bewertung: 5 von 5 Punkten)
2)
Super Buch, eine sehr seltene Möglichkeit einer anderen Sichtweise.
Würde dieses Buch auf jeden Fall weiterempfehlen, um in sich zu gehen und die ehrliche Frage zu stellen: Wie hätte ich als "Ottonormalverbraucher" … in dieser Zeit gelebt? …
Von „schwammpuckel“ am 17. Januar 2017
(Bewertung: 5 von 5 Punkten)
Leserbrief in der Magdeburger „Volksstimme“
vom 21.9.2017
Leserbrief
zu „Gauland lobt Leistungen deutscher Soldaten in beiden Weltkriegen“
(Volksstimme, 16. September 2017)
Mein Vater, Offizier in der
deutschen Wehrmacht, schrieb in einem Brief von der Ostfront am 20. Oktober
1941 an seinen Bruder: „[...] Was in diesem Kriege an Menschen ausgerottet
wird! Vielleicht ist es das größte Blutopfer, das die Menschheit je in einem
Kriege gebracht hat. … Es ist doch Tatsache, dass auch wir lieber Tote als
Gefangene machen; diese machen viel zu viel Scherereien. Besonders mit den
Juden wird es nicht so genau genommen. …“
Und am 1. November 1944
schrieb er aus Frankreich an meine Mutter: „[...] Dieser Krieg ist das
Unmenschlichste, was der Mensch je getan hat. Die Städte Europas wurden in
Schutt und Asche gelegt. Soldaten plündern und morden. Die Völker sind
gegeneinander verhetzt. Für uns ist der Jude kein vollwertiger Mensch, und wir
sind in den Augen unserer Feinde Hunnen. Sie sehen uns als diejenigen, die den
Krieg vom Zaune gebrochen haben, sie sehen uns überhaupt als diejenigen, die
immer wieder Unruhe und Krieg in Europa entfacht haben. …“
Mein Vater war nicht stolz
auf diese Wehrmacht. Ich bin nicht stolz auf diese Wehrmacht.
Soviel zu den Einlassungen
eines Herrn Gauland.
Dr. Michael Krause,
Rudolf-Breitscheid-Weg 7, 39291 Möser
Interview in
der Magdeburger „Volksstimme“
vom
10.10.2017
Es gibt nichts reinzuwaschen
Dr. Michael Krause über seine „Fremden Eltern“ im Dritten Reich, über Gegenwart und Zukunft
Dr. Michael Krause, Jahrgang 1950, Arzt, Christ, politisch engagiert. Der Möserer, gebürtig aus Meerane, hat mit seinem Bruder Joachim ein Buch herausgebracht. Die unkommentierten Briefe und Tagebuchaufzeichnungen seiner Eltern aus den Jahren 1933 bis 1945 sind ein Stück ungefilterter Zeitgeschichte. Was treibt ihn um und an? Das wollte Volksstimme-Redakteur Andreas Mangiras von ihm wissen.
Volksstimme: Alexander Gauland, einer der Vorsitzenden der AfD, hat gefordert, die Leistungen der deutschen Soldaten in den beiden Weltkriegen positiv anzuerkennen. Sie haben in einem Leserbrief an die Volksstimme widersprochen, mit Zitaten aus Briefen Ihres Vaters an Ihre Mutter.
Dr. Michael Krause: Man kann das so nicht stehen lassen. Ich musste darauf reagieren. Da kam mir gelegen, dass wir die Briefe unserer Eltern hatten. Ich hatte ganz schnell Aussagen und Zitate meines Vaters von der Ost- und der Westfront parat. Sie zeigen ungefiltert, was Deutsche in der Welt angerichtet haben und wie sie gesehen werden. Da geht es nicht um großartige Leistungen deutscher Soldaten, sondern um einen verbrecherischen Krieg.
Wie kam es zu dem Buch?
Mein Bruder Joachim hat, aber erst nach dem Tod unserer Eltern, auf dem Dachboden Kisten mit rund 1000 Briefen und Tagebuchaufzeichnungen gefunden. Sie stammen aus der Zeit von 1933 bis 1945. So dachten unsere Eltern in dieser Zeit, so setzten sie sich auseinander. Da wird nichts aus der Erinnerung gesagt, sondern so wie sie es damals sahen und empfanden. Auch sie waren auf der Suche.
Kannten Sie Ihre Eltern so? Das ist ja vor Ihrer Zeit gewesen. Sie sind Jahrgang 1950.
Nein, es stellte sich heraus, dass meine Mutter eine glühende Verehrerin von Adolf Hitler war. Das haben wir nicht gewusst. Das war nie Thema in der Familie gewesen. Es wurde darüber nie gesprochen.
Was hat das mit Ihnen gemacht, als sie das erfuhren? Sie können Ihre Eltern nicht mehr fragen.
Meine Mutter hat uns ganz streng antifaschistisch erzogen. Von heute aus, mit dem Wissen um ihre frühere Haltung, muss ich sagen: Das war ehrlich, aus ihrer eigenen Erfahrung heraus. Sie hat einen grundlegenden Wandel vollzogen. Das muss ich jedem Menschen zugestehen. Und natürlich war, ist und bleibt sie meine liebe Mutter.
Und Ihr Vater?
Mein Vater war Christ, er hat Theologie studiert. Er wollte jedoch als Staatsbürger stets für sein Land etwas tun. Das war seine Zerrissenheit. Aus den Briefen geht hervor, wie er dabei gescheitert ist. Er konnte Dinge wie den Umgang mit behinderten Menschen oder die Judenverfolgung nicht mit seinem christlichen Glauben vereinbaren. Seine Konsequenz war: Der Glaube zu Gott ist mir höher als der Glaube an den Führer. Daraus erwächst seine kritische Haltung. Er wird Mitglied der bekennenden Kirche, die dem Regime, anders als weite Teile der Kirche, kritisch gegenüber gestanden hat. Aber er geht als deutscher Offizier in den Krieg.
Wie hat Ihr Vater - der Theologe in Uniform - den Krieg erlebt?
Das ist das Erstaunliche: Mein Vater schreibt der Frau, die er liebt und von der er weiß, dass sie eine glühende Nationalsozialistin ist, als deutscher Offizier von der Front. Es ist nicht das ‑Hurra, wir sind super, sondern dass die Deutschen das Klima vergiften, Mord und Tod über die Völker, über Europa bringen. So hat er es erlebt, hautnah. Genau deshalb musste ich auf die Gauland-Aussage reagieren. Das hat mich geärgert und beunruhigt, dass hier etwas reingewaschen werden soll.
Sie können es an der eigenen Familiengeschichte belegen?
Ja, es gibt nichts zu beschönigen, auch wenn es lange zurückliegt. Es war ein Unrechtsregime, es war eine verbrecherische Diktatur. Unser Grundgesetz ist aus den Lehren dieser Zeit heraus geschrieben. Da steht jetzt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Des Menschen, nicht nur des Deutschen. Das ist die Lehre. Völkische Ideen oder Rassenwahn, das darf es in Deutschland nicht mehr geben. So haben uns unsere Eltern erzogen, vor allem meine Mutter. Sie hatte mal anders gedacht. Aber sie hatte ihre Lehren gezogen.
Wird so etwas wieder salonfähig?
Man muss dagegen vorgehen. Es beginnt mit einfachen Lösungen. Viele Menschen suchen Orientierung. In dieser komplizierten und globalisierten Welt ist die einfache Lösung, sich auf Nationales zurückzuziehen. US-Präsident Trump sagt: Amerika first, und hier heißt es dann Deutschland zuerst. Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Probleme lassen sich nicht durch Abschottung lösen. Natürlich läuft nicht alles rund und glatt. Menschen fühlen sich auf der Strecke gelassen. Das liegt aber aus meiner Sicht daran, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander geht. Menschen arbeiten ihr ganzes Leben hart und stehen am Ende ihres Lebens an der Armutsgrenze. Andere bekommen nie eine richtige Chance.
Wie soll es gehen?
Menschen sind unterschiedlich. Wer nicht leistungsfähig genug ist, empfängt zwar Sozialleistungen, aber er empfindet sich oft auch nur noch als Bittsteller. Das gibt doch keinen Lebenssinn. Hier sind Gesellschaft und Politik gefragt, gerade im reichen Deutschland. Als Sozialdemokrat glaube ich, dass der Staat hier regelnd eingreifen muss. In unserem Land wird erwartet, dass sich die Menschen der Arbeitswelt anpassen. Viele können das aber nicht. Hier muss die Politik sinnvolle und notwendige Arbeit in einem zweiten Arbeitsmarkt organisieren und finanzieren. Menschen dürfen nicht zu reinen Bittstellern werden.
Woher kommt Ihr Antrieb sich zu engagieren, sie sind Präses im Kirchenkreis, sie sind in einer Partei?
Ich war schon zu DDR-Zeiten in der Kirche engagiert. In der Wendezeit war ich jeden Montag mit im Magdeburger Dom. Wir haben uns gefragt: Wie soll es weiter gehen? Wenn wir einen Neuaufbruch wollen, dann müssen wir auch mitmachen. Mir als Christ war von der sozialen Gerechtigkeit her als Partei die SPD am nächsten. Ich halte es für wichtig. Unsere Demokratie funktioniert nur, wenn sich die Menschen engagieren.
Was sagen Sie zu Ihrer SPD?
Es ist als kleiner Partner in der Großen Koalition unkomfortabel. Die Menschen messen uns an unserem Programm. Einiges Wichtige ist umgesetzt, vieles aber nicht. Das macht es schwierig. Wenn das dann über mehrere Wahlperioden geht, dann ist man keine echte Alternative mehr. Aber ich habe da keine Bange. In der Opposition kann die Partei wieder klarer auftreten. Wir hatten das schon mal. Vor den ersten freien Volkskammerwahlen 1990 lag die SPD vorn, landete im Keller. Schon 1994 waren wir mit Ministerpräsident Reinhard Höppner im Sachsen-Anhalt wieder da. 1998 haben wir mit Gerhard Schröder dann die CDU und Helmut Kohl im Bund abgelöst. Jetzt haben Leute aus der zweiten Reihe und Jüngere eine Chance, sich zu profilieren und sich dem Parteienwettbewerb in der Demokratie zu stellen. In der Kreis-SPD haben wir auf unserem Parteitag in der vergangenen Woche damit schon begonnen.
Wettbewerb auch mit der AfD?
Natürlich. Die AfD hat das ganze Protestpotenzial aufgesogen. Damit muss man sich auseinandersetzen, sachlich, sich aber nicht auf ihr Niveau des politischen Diskurses herabbegeben. Eine demokratische Partei als ‑Volksverräter zu bezeichnen, geht aus meiner Sicht nicht. Viele Menschen haben AfD gewählt. Das ist zu respektieren. Darüber müssen wir nachdenken und Konsequenzen ziehen. Für mich bleibt der Kern, dass Lebensleistung der Menschen gerecht bewertet wird. Und wir müssen zeigen: Es gibt keine einfachen Lösungen. Es gibt aber Lösungen. Das muss man den Menschen mit ihren Fragen genau erklären.
Das betrifft ja auch viele junge Menschen. Sachsen-Anhalt schrumpft.
Da sehe ich inzwischen einen großen Wechsel zu Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre. Die jungen Menschen müssen nicht mehr nach Baden-Württemberg gehen. Es gibt hier viele Chancen, wenn man engagiert und zielstrebig ist. Aufgabe von Politik ist auch dabei, steuernd einzugreifen. Gehen alle in die Industrie oder Verwaltung, haben wir niemanden mehr, der etwa in die Pflege oder andere medizinische Berufe geht. Auch Lehrer und Erzieher brauchen wir. Gesellschaftlich notwendige Arbeit muss angemessen und vergleichbar vergütet werden. Wenn Fachkräfte fehlen, muss man angesichts der demografischen Entwicklung über Einwanderung reden, auf Basis eines Gesetzes, ganz klar.
Viel wussten Sie über die Zeit Ihrer Eltern vor Ihrer Geburt nicht. Sie selbst haben eine große Familie, drei Kinder, zehn Enkel, sie haben viel weiterzugeben, auch mit dem Buch „Fremde Eltern“.
Ja, gerade unsere Kinder haben uns sehr ermutigt, dies zu tun. Macht das, das ist wichtig! Deshalb haben wir uns entschlossen, das Buch herauszugeben. Weil es sehr lehrreich ist über diese Zeit für uns heute und in Zukunft.
Buchvorstellung „Fremde
Eltern“ – Zeitgeschichte
in
Tagebüchern und Briefen 1933–1945
Der Autor Joachim Krause sagte: Ich habe dieses Buch nicht
geschrieben, nur abgeschrieben aus mehr als 1800 Briefen. Diese sind ein
Zeugnis vom Denken dreier junger Deutschen, Christian Krause und Margarete
Liebelt, sie waren seine Eltern, und Onkel Helmut Krause, er fiel im Oktober
1941 bei Orel in der Nähe von Moskau. Die drei jungen Leute suchten
Orientierung, und sie stritten sich über den Nationalsozialismus und die
Juden, über den Sinn von Krieg und Tod, über Sexualmoral und Glaubensfragen.
Die Mutter Margarete glaubte bis zuletzt an Adolf Hitler, wie der Onkel Helmut,
ein Berufsoffizier, der Vater Christian bewahrt sich eine gewisse kritische Distanz
zur Politik, aber war trotzdem kein Wiederstandkämpfer.
Ich fragte mich, hat mir das Buch die Gretchenfrage beantwortet?
Wie kann es sein, dass diese gebildeten und gläubigen jungen Menschen der faschistischen
Ideologie verfallen sind und dabei einer von ihnen noch sein Leben opfert? Ich
mache mir so meine Gedanken. Die Kinder sind das Spiegelbild ihrer Eltern und
diese sind für die Kinder ein Vorbild. Um ein tadelloses Mitglied einer
Gesellschaft zu sein, muss man mitmachen. Leider ist dies eine typisch deutsche
Eigenschaft, den Gehorsam schlechthin für eine Tugend zu halten. Doch wie
sagte Fritz Bauer (* 1903; † 1968): „Wir brauchen die Zivilcourage, 'Nein' zu
sagen!“ Was auch heute aktueller denn je ist.
Der Vater der zwei Jungs, Christian und Helmut war Lehrer der
Natur-wissenschaften, Willibald Krause. Er war von 1933 Mitglieder in der
NSDAP, SA und auch im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB). Der NSLB
hatte im April 1932 nur 4000 Mitglieder, aber Ende 1933 immerhin schon 250 000
Mitglieder. Ein Drittel der Lehrerschaft war zusätzlich zu ihrer Angehörigkeit
im NSLB auch direkt Mitglied der NSDAP. Ihre Aufgabe war in erster Linie
Lehrer darauf vorzubereiten, ihre Schülerinnen und Schüler ganz im Sinne des
Nationalsozialismus zu erziehen. Hierfür gab es Fortbildungen. Die
Hochschul-lehrer traten ebenfalls diesem Bund bei.
Der Vater der Mädchen Margarete, war Landarzt Paul Liebelt. Er
war von 1933 an Mitglied in der NSDAP. Er gehörte auch dem NS-Ärztebund dritte
Kampf-organisation der NSDAP neben SA und SS an. So wurden 45% der deutschen
Ärzte Mitglieder der NSDAP und 26% traten der SA bei. Der NS-Ärztebund
hatte auch Anteil an den Nürnberger Rassegesetzen, der
national-sozialistischen Gesundheitspolitik und am nationalsozialistischen
"Euthanasie“-Programm.
„Wer die Vergangenheit nicht kennt kann die Gegenwart nicht
verstehen. Wer die Gegenwart nicht versteht, kann die Zukunft nicht gestalten“
schrieb vor einigen Jahren Hans-Friedrich Bergmann.
Der Autor Joachim Krause, geboren 1946, hat mit der Heraushabe
seines Buches versucht, den Lesern die Vergangenheit verständlich zu machen.
Aber wir leben heute zwischen vergangener Zeit und kommender Zeit. Und heute
rückt der unzufriedene Teil der Gesellschaft, die sich abgehängt fühlen nach
rechts. Unsere Demokratie verlangt vor allem Mitwirkung und sie ist eigentlich
die beste Gesellschaftsordnung, wo die Macht vom Volke ausgeht, so steht es
jedenfalls im Grundgesetz. Die gewählte Regierung bekommt durch freie Wahlen
den Auftrag für die Bürger*innen solche Bedienungen zu schaffen, dass sie in
Frieden und Wohlstand leben können. Aber dazu sind Arbeitsplätze und ein
anständiger Arbeitslohn notwendig. Wenn das nicht gewährleistet wird, werden
die Feinde der DEMOKRATIE immer mutiger.
In unserer Konsumgesellschaft gilt wo für viele Bürger*innen,
"hast du was, dann bist du was, wenn du nichts hast bis du selber
Schuld". Deshalb muss die Zivilgesellschaft die Politik zwingen sich
intensiv mit den Tücken der Globalisierung, der dramatischen Ungleichheit von
Einkommen und der Grundreform des Finanzsystems zu beschäftigen. Nur das wird
dazu führen, dass die AfD zu einer Fußnote der Geschichte wird. Wenn sich die
Zivilgesellschaft und die Politik nicht ernsthaft damit beschäftigt, dann haben
wir in paar Jahren keine Demokratie mehr, sondern ein Viertes Reich in
Deutschland. Und das kann und darf nicht unsere Zukunft sein.
Das große Karthago sollte uns eine Mahnung sein. Sie führten
drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch
bewohnbar. Nach dem dritten verschwand Karthago von der Erdoberfläche und der
Nachwelt blieb nur seine Geschichte.
Stanislav Sedlacik aus Weimar, 25.11.2017
Da stand nun also in der Abendstunde dieser weißhaarige Mann im
karierten Hemd im Podium und erzählte davon,
wie ihm seine eigenen Eltern in dem Moment als völlig fremde Personen entgegentraten, als er
begann, die Briefe aus ihrem Nachlass zu entziffern. Das Gefühl wurde auch dann nicht besser, als er die
Sütterlin-Schrift dieser Korrespondenz
zunehmend flüssiger zu lesen vermochte. Sein späterer Vater war begeisterter Nazi und dessen vor
Stalingrad „gefallener“ Bruder erweist sich als noch fanatischer. Am unheimlichsten gerät
jedoch das Bild seiner späteren Mutter Margarete, die noch am 8. Mai 1945, als der ganze
infernalische Spuk vorbei ist, unbeirrt auf Hitler schwört. Wir reden hier übrigens von
einem angehenden Pfarrer-Ehepaar der sächsischen Landeskirche. Und wie es Joachim Krauses Art ist, läuft im Hintergrund
auf der weißen Leinwand eine
Powerpoint-Präsentation, die uns die drei Protagonisten Aug in Aug gegenübertreten lässt: die beiden
Brüder Christian und Helmut in ihrer Wehrmachts-Uniform, dazwischen die von
beiden begehrte Frau.
Krause, bis zur Pensionierung der Beauftragte der Ev.-luth. Landeskirche
Sachsens für Glaube und
Naturwissenschaft, wundert sich. Zwar hat er weniger als ein Zehntel dieser Überlieferung extrahiert und in einem
Buch[1] veröffentlicht – aber das war ja nun
nicht sein erstes Buchprojekt[2];
es sei kein spektakuläres Thema und der Verlag alles andere als ein Marktführer; trotzdem war das
mediale Echo beeindruckend.[3] Es geht um Kampf und Opfer, um Vernichtung und mögliche
Gewissensbisse, um Krieg und erstrebten Sieg. Nie war später ein Gespräch darüber möglich.
Der annähernd gleichaltrige Dr. Martin Böttger hatte schon bei der Ankündigung dieser
Lesung ausgerufen: „Mir ging es genauso!“; auch er ein Kind aus einem Pfarrhaus.
Und nach der Präsentation verzichtet Pfarrer Andreas Richter auf seine vorbereitete
Abendandacht, um die eben erlebten Eindrücke nicht zu zerreden. Obwohl etwas jünger, spricht
auch er davon, dass es ihm ganz ähnlich ging.
Und ich? Ich habe nie einen Opa
gehabt. Der eine kam aus Stalingrad nicht zurück, der andere fiel in Polen den Partisanen in die
Hände. Und wie dringend hätte ich sie in den Jahren meiner Pubertät gebraucht! Aus was für
Familien kommen wir eigentlich?
Dazu die Bilder dieser
beiden Wehrmachts-Soldaten.
Diese Bilder vor einem Publikum, in dem u. a. ein junger Musiker aus Ohio und holländische
Seminarteilnehmer sitzen. Einer dieser
niederländischen Gäste hatte als Kind im Splittergraben erlebt, wie seinerzeit,
hoch über ihren Köpfen, die deutschen „Vergeltungswaffen“
hinweg fauchten. Was für Gefühle mag
sie gerade jetzt bewegen?
Krieg tötet. Der Zweite
Weltkrieg hat, noch viele Jahrzehnte später, das Gespräch zwischen den Generationen zerstört und
getötet; das Gespräch, das doch so nötig gewesen wäre.
Matthias Kluge (Kommentar zum Friedensseminar in Königswalde/Werdau
20.6.2017)
http://www.friedensseminar.de/download/Kommentar%20zum%20Juni-FS%202017.pdf
https://www.sachsen-fernsehen.de/tag/fremde-eltern/
[1] Joachim Krause: Fremde Eltern. Zeitgeschichte in Tagebüchern und Briefen 1933 bis 1945, Markkleeberg, 2016.
[2] Vgl. Joachim Krause: Am Abend mancher Tage. Eine Spurensuche in Mitteldeutschland, Weimar 2008; ders.: Die Verschiebung des Horizonts. Eine Spurensuche im Terminkalender, Weimar 2014.
[3] 3 Christoph Kuhn: Spätes „Gespräch“ mit fremden Eltern, in: Der Sonntag. Wochenzeitung der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens, 71. Jg., Nr. 41 vom 09.10.2016, S. 10; Stefan Berg: Eine sächsische Familie, in: Der Spiegel Nr. 45 vom 05.11.2016, S. 54/55; Katrin Mädler: Pandoras Büchse, in: Freie Presse vom 03.02.2017, S. B 1. Hinzu kommen bislang drei Hörfunkproduktionen des MDR.