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infos sterbebegleitung und sterbehilfe
3. Was geschieht, wenn ich sterbe?
Der Prozess des Sterbens aus
medizinischer und sozialwissenschaftlicher Sicht
In
Deutschland sterben jährlich rund 850000 Menschen. Nur etwa jedem Zehnten von
ihnen ist ein sogenannter schneller Tod „vergönnt“. Man muss davon ausgehen,
dass in Deutschland viele schwerkranke Patienten ohne Aussicht auf Heilung und
trotz vorliegender Patientenverfügung – also gegen ihren Willen – mit intensivmedizinischen
Möglichkeiten am Leben gehalten werden.
(Heilberufe 4/2003, 16)
3.2. Der Prozess des Sterbens aus sozialwissenschaftlicher
Sicht
Mit
Worten des 90. Psalms haben Juden und Christen über Jahrhunderte hinweg bis
heute zu Gott gebetet: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass
wir klug werden“ (Ps. 90,12). In diesen Worten drückt sich die Bitte aus, das
Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit ins persönliche Lebenswissen
eingehen zu lassen. Ein Leben im Bewusstsein der menschlichen Endlichkeit zu
führen, ist eine Lebensklugheit, die errungen werden muss. Je näher Menschen
mit ihrem eigenen Sterben oder dem Sterben naher Angehöriger konfrontiert werden,
desto mehr stellt sich das Verlangen nach einem solchen Lebenswissen ein. Der
Wunsch, in Frieden zu sterben, drückt die Sehnsucht danach aus, den letzten Weg
im Einklang mit Gott, den Mitmenschen und sich selbst gehen und so in das
eigene Sterben einwilligen zu können. Aber wie kann ich in Frieden sterben? Die
Antwort auf diese Frage kann niemand für andere beantworten. So individuell jedes
menschliche Leben geführt wird, so individuell ist auch der Prozess des Sterbens.
Dennoch
haben die Menschen immer wieder danach gefragt, ob es für den Prozess des Sterbens
bestimmte typische Merkmale gibt. Im
späten Mittelalter sind Erbauungsbücher erschienen, die Sterbende und
Sterbebegleiter in die „Kunst des Sterbens“ (lateinisch: ars moriendi)
einführen wollten. In ihnen wird das Sterben als Prozess der
Auseinandersetzung mit Anfechtungen beschrieben, die den Sterbenden
herausfordern und die es im Glauben zu bestehen gilt. Zu ihnen gehören u.a.
auch der Zorn (Ungeduld) und die Verzweiflung. Die mittelalterliche
ars-moriendi-Literatur bringt damit bereits Erkenntnisse zur Geltung, auf die
in neuerer Zeit Forschungen zum Prozess des Sterbens aufmerksam gemacht haben.
So hat beispielsweise Elisabeth Kübler-Ross auf der Grundlage einer Vielzahl
von Gesprächen, die sie mit Sterbenden geführt hat, fünf typische Phasen des
Sterbens hervorgehoben (Interviews mit Sterbenden, Berlin, 1987, 40-114).
a) Nichtwahrhabenwollen und Isolierung. Wenn ein Mensch davon erfährt, dass er eine zum Tod
führende Krankheit hat, reagiert er darauf zunächst sehr häufig abwehrend. „Das
kann doch nicht sein!“ Die Verleugnung der Krankheit ermöglicht es dem Patienten,
mit dem Schock dieser Nachricht fertig zu werden. Meist ist das
Nichtwahrhabenwollen nur eine vorübergehende Phase, die bald von einer
wenigstens teilweisen Akzeptanz abgelöst wird. Für die Begleitung Sterbender
ist es wichtig, ihnen die erforderliche Zeit zu lassen, die Gewissheit des
eigenen Sterbenmüssens an sich heranzulassen. Ihnen als Gesprächspartner zur
Verfügung zu stehen, die leisen Andeutungen wahrzunehmen und sie auf dem Weg
von der Ungewissheit zur Gewissheit behutsam zu begleiten, ist für die
Sterbenden erleichternd und hilfreich.
b) Zorn. Auf das
Nichtwahrhabenwollen folgt in der Regel eine Phase, in der Zorn, Groll und Wut
im Mittelpunkt stehen. Während die Sterbenden jetzt rational wissen, dass sie sterben müssen, können
die Emotionen mit dieser Gewissheit nicht Schritt halten. Die Gefühle brechen
vielmehr ungesteuert hervor. Aggression entlädt sich, oft ohne erkennbaren
Grund, wahllos, an Ärztinnen, Krankenschwestern, Angehörigen oder beliebigen
anderen Personen. Wohin die Sterbenden auch blicken, überall sehen sie
Menschen, die weiterleben können. „Warum denn gerade ich?“ bricht es deshalb
aus ihnen heraus. Die Möglichkeit, der eigenen Wut Luft machen zu können, ist
für die Sterbenden wichtig, damit sich die Aggression nicht nach innen, gegen
sie selbst richtet.
c) Verhandeln.
Als dritte, meist flüchtige Phase beschreibt Elisabeth Kübler-Ross den Versuch,
den unvermeidlichen Tod durch eine Art Handel hinauszuschieben. In ganz unterschiedlicher
Weise versuchen Sterbende vielfach, der eigenen Lebensspanne noch einige Zeit
hinzuzufügen. Oft wollen sie noch einen bestimmten Zeitpunkt erleben: ein
wichtiges Familienereignis o.ä. Im medizinischen Bereich wird oft nach neuen
Therapiewegen gesucht, werden Spezialisten aufgesucht und alternative Medikamente
ins Spiel gebracht. Manche Sterbende versuchen aber auch mit Gott zu
verhandeln, wollen ihr Leben Gott widmen oder ihren Besitz einem guten Zweck
zukommen lassen. So sehr die Gefahr besteht, sich in dieser Phase finanziell zu
verausgaben oder die Auseinandersetzung mit dem Sterben weiter hinauszuzögern:
Die Aktivität des Verhandelns ist ein wichtiger Zwischenschritt, bevor den
Betroffenen die Unvermeidlichkeit des Sterbens so bewusst wird, dass sie von
Verzweiflung ergriffen werden.
d) Depression.
Wenn die Todesgewissheit den Sterbenden in ihrer ganzen Unvermeidlichkeit zu
Bewusstsein kommt und zugleich die Kräfte zum Widerstand allmählich erschöpft
sind, tritt meist eine Phase der Depression ein. Die Sterbenden erkennen jetzt
in aller Deutlichkeit, was sie bereits verloren haben. Und ihnen tritt vor
Augen, was ihnen mit dem Sterben noch alles entrissen wird. Der Schmerz dieses
endgültigen Abschieds bringt Trauer und Tränen, Resignation und stille
Verzweiflung mit sich. Sterbende brauchen in dieser Phase Begleiter, die über
die Traurigkeit nicht hinweggehen sondern sie aushalten. Sie brauchen
Menschen, die einfach nur da sind und zuhören können.
e) Zustimmung.
Wenn der sterbende Mensch die eigene Kraft und die nötige Begleitung hatte, um
die vorherigen Phasen zu bestehen, kann er schließlich dazu kommen, sein eigenes
Sterben anzunehmen. Vielfach sind die betroffenen Menschen bereits sehr
schwach und haben das Bedürfnis, oft und in kurzen Abständen zu schlafen. Ihr
Kampf gegen das Sterben ist vorüber. Es ist die Zeit der „letzten Ruhe vor der
langen Reise“. Die Sterbenden haben ein gewisses Einverständnis mit ihrer
Situation erreicht. Ihre Interessen engen sich immer mehr ein. Oft möchten sie
in Ruhe gelassen werden. Die Kommunikation erfolgt in dieser Phase vielfach
wortlos. Schweigend bei ihnen zu sein, ihnen zu verstehen zu geben, dass sie
nicht reden müssen, Gesten, Blicke und die Art körperlicher Berührung, die die
Betreffenden wollen – das ist die wichtigste Begleitung der Sterbenden, bevor
sie die Augen für immer schließen.
Die
von Elisabeth Kübler-Ross beschriebenen Sterbephasen dürfen nicht starr
interpretiert werden. Das Sterben jedes Menschen ist anders. Phasen können
gleichzeitig oder in anderer Reihenfolge ablaufen. Aspekte können sich wiederholen
oder überhaupt nicht beobachtet werden. Vor allem: Es ist nicht gesagt, dass
jede Person alle Phasen durchläuft.
In
den letzten Jahren ist sogar die Beschreibung des Sterbeverlaufs in Phasen kritisch hinterfragt worden.
Nach Untersuchungen des Heidelberger Gerontologen Andreas Kruse (Kruse, A.;
Schmitz-Scherzer, R.: Sterben und Sterbebegleitung, in: Psychologie der
Lebensalter, Darmstadt, 1995, 289-299) verändert sich die Art und Weise, wie sich Menschen mit ihrem Sterben auseinandersetzen,
weit weniger als dies Elisabeth Kübler-Ross herausgearbeitet hat. Auf der
Grundlange von Interviews mit fünfzig Krebspatienten im Endstadium ihrer
Erkrankung beschreibt Kruse fünf Formen
der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Eine erste Gruppe von
Menschen akzeptierte das eigene Sterben und suchte gleichzeitig nach
Möglichkeiten, die das Leben noch bot. Eine zweite Gruppe empfand in
zunehmenden Maße Resignation und Verbitterung. Sie sahen das eigene Leben nur
noch als Last. In einer dritten
Auseinandersetzungsform wurden die Todesängste durch die Erfahrung eines neuen
Lebenssinns und die Überzeugung, noch wichtige Aufgaben wahrnehmen zu können,
gelindert. Für eine vierte Personengruppe
stand das Bemühen im Vordergrund, die Bedrohung der eigenen Existenz nicht in
das Zentrum des Erlebens treten zu lassen. Eine fünfte Gruppe durchschritt Phasen tiefer Depression bis zur
Hinnahme des Todes.
Zu
welcher Auseinandersetzungsform ein Mensch neigt, hängt nach Kruse sowohl von
biographischen als auch von sozialen, strukturellen und medizinischen Faktoren
ab. Menschen mit einem positiven Lebensrückblick, so arbeitete er heraus,
tendierten eher zur Annahme oder der Suche nach neuen Aufgaben. Personen
wiederum, die an starken chronischen Schmerzen litten, reagierten eher mit
Resignation und Verbitterung.
Für
die Begleitung sterbender Menschen ist es wichtig, die verschiedenen Faktoren
gleichermaßen im Blick zu haben: die persönliche Lebensrückschau und
Sinnorientierung ebenso wie die sozialen Beziehungen, die strukturellen Bedingungen
und eine effektive Schmerzkontrolle.