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Hirnforschung und Willensfreiheit
Argumente – Interpretationen - Deutungen
© Joachim Krause 2006
1. Einleitung
Bei
unserem Thema geht es um einen neu aufgebrochenen Konflikt zwischen Naturwissenschaft
und Geisteswissenschaft, konkreter zwischen Neurobiologie und Philosophie (und
damit ist auch das Gebiet der Theologie berührt).
Wie steht
es eigentlich mit der „Willensfreiheit“ des Menschen?
Gibt es überhaupt einen freien Willen?
Können wir unsere eigenen Handlungen wirklich selbst bestimmen?
Sind wir für unser Tun verantwortlich?
Um die
Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Freiheit ringt die Geistesgeschichte, die
Philosophie seit 2500 Jahren. Aber in unseren Tagen ist das ein Thema für die
Medien in erstaunlicher Breite geworden – nicht nur die ZEIT, der SPIEGEL oder
die Frankfurter Allgemeine Zeitung widmen ihm Schlagzeilen, auch in der
BRIGITTE und in meiner Fernsehprogrammzeitschrift wird darüber sinniert. Das
Thema hat offenbar einen gewissen Unterhaltungswert ...
Und es hat
praktische Bedeutung, berührt auch den Alltag von manchen von uns. Viele haben
Kinder in der Familie, oder sie haben beruflich mit Bildung und Erziehung von
anderen Menschen zu tun. Und dort appellieren wir ständig: Mach mal! Du willst
doch! Du musst Verantwortung übernehmen! - und wir hoffen, dass der Appell an
das Wollen sinnvoll ist und Veränderungen bewirkt.
Im weiteren stellt sich auch die Frage nach der Schuldfähigkeit von Straftätern
ganz neu, wenn z.B. ein Gutachter beurteilen soll, ob ein Straftäter auch
anders hätte handeln können.
Es geht um
neue und irritierende Einsichten in der Biologie und Medizin
Führende
(und damit auch meinungsbildende) Neurowissenschaftler deuten die Befunde und
Experimente ihrer Wissenschaft in provozierenden Sätzen:
„Unser Leben ist eine Illusion.“
„Wir haben keinen freien Willen!““
„Nicht unser ICH entscheidet - Wir können nur nachträglich zur Kenntnis
nehmen, was sich im elektrischen Netz unserer Nervenbahnen längst ereignet
hat.“
In dieser
Bewertung ist nicht nur die Willensfreiheit eine Illusion. Zu den Illusionen
gehört das ICH selbst und die ganze Art, wie es seine Lebenswelt erlebt – also
nicht nur sein Denken, sondern auch sein Fühlen und Wollen, sein Glauben, Hoffen
und Lieben.
Einer der
Akteure ist Gerhard Roth (Prof. für Verhaltensphysiologie Uni Bremen), und er
benennt die Grenzüberschreitung klar: Die Neurowissenschaft dringt in Bereiche
vor, die (bisher) zu den Kernbestandteilen der Philosophie gehör(t)en, wie
Erkenntnistheorie ... sie befasst sich (jetzt) gar mit Fragen der Moral, Ethik,
Willensfreiheit !
Bei der Diskussion über die Gehirne geht es auch um Machtfragen: Wer kann und
darf uns zukünftig die Welt erklären und deuten? Darüber gibt es Streit zwischen
Naturwissenschaftlern auf der einen Seite und Philosophen und Theologen auf
der anderen.
Das Thema
hat Unterhaltungswert und Vortragende können volle Säle erwarten.
Über der Eingangstür steht vielleicht eine verwirrende Mitteilung: „Der freie
Wille ist eine Illusion. Eltern haften trotzdem für ihre Kinder.“
Die
Reaktionen des Publikums fallen unterschiedlich aus. Die einen rufen: Das darf
doch nicht wahr sein!
Andere kommen ins Nachdenken.
2. Einige knappe
Anmerkungen zur Geschichte des Leib-Seele-Problems und der Frage nach dem
freien Willen
In der
Bibel finden wir eines der ältesten schriftlichen Zeugnisse dafür, dass sich
Menschen mit der seltsamen Verbindung von Leib und Seele auseinandergesetzt
haben. Wir lesen in den ersten Kapiteln der Bibel: Nachdem Gott Himmel und
Erde geschaffen hatte und er sich der Krone der Schöpfung zuwandte, genügte es
ihm nicht, allein den Körper des Menschen aus Erde zu formen. Es fehlte noch
etwas, das den aus Ton gestalteten Leib erst zu einem „lebenden Wesen“ machte.
Gott hauchte Adam seinen Atem ein – den Lebensgeist.
Die Israeliten glaubten damit nicht etwa daran, dass Leib und Seele getrennte
Einheiten seien, auch wenn die Schilderung der Schöpfung das vielleicht nahe
legte. Für sie waren beide untrennbar miteinander verbunden.
Im Hebräischen steht das Wort nefesh (Seele) immer auch für den belebten
Körper und das Blut, das Wort ruach meint sowohl den Atem, den Gott dem
Menschen einhauchte, wie auch einfach die Luft, die bei jedem Atemzug in die
Lunge strömt, und laev schließlich bezeichnet das schlagende Herz
genauso wie es als die Quelle der Emotionen und Gedanken gilt. Das Wort, das
Organ „Gehirn“ kommt (interessant für unser Thema) im Zusammenhang mit dem
Denken überhaupt nicht vor ! (Im Verständnis des Altertums dachten die Menschen
mit den Nieren, den Därmen und selbstverständlich mit dem Herzen.)
Im Herzen vermutete z.B. auch Aristoteles den Sitz der Gedanken, das Gehirn
deutete er als ein Kühlsystem.
Streit über das Verhältnis von Leib und Seele gab es schon in der Antike:
Aristoteles verstand
Leib und Seele als zwei Aspekte einer Natur.
Anders ging der griechische Philosoph Plato davon aus, dass Leib und
Seele zwei verschiedene Dinge sind; der Leib sei vergänglich, die Seele aber
unsterblich, sie sei im Körper nur zeitweilig gefangen.
Leib
Seele
Gehirn
? Materie
Geist
Bewusstsein
Gehorchen die
natürliche und die geistige Welt EINEM PRINZIP (Monismus)
oder ZWEI PRINZIPIEN (Dualismus)?
Ein großer
Sprung hin zum Beginn der Neuzeit zeigt:
Der Philosoph Descartes teilte die Welt auf in „res cogitans“ und „res
extensa“. Er nahm an, es gäbe neben der Welt, die die Physik vermessen und erklären
kann, noch eine nicht-materielle Welt des Denkens, der Seele.
Sein Phiosophen-Kollege Spinoza dagegen vertrat die Ansicht, dass Leib
und Seele sind keine verschiedenen Substanzen seien, sondern sich nur – in
unterschiedlicher Gestalt - Eigenschaften einer Substanz zeigten (die man
„Gott“ oder (austauschbar, gleichgesetzt) „Natur“ nennen könne).
Die Ansichten wogten zu allen Zeiten hin und her (zum Streit zwischen Luther
und Erasmus von Rotterdam siehe die Anmerkungen im Anhang).
Auch uns muss klar sein, dass SEELE, BEWUSSTSEIN oder GEIST Begriffe aus der
Alltagspsychologie sind, die im Laufe der Geschichte (und in jedem
individuellen Einzelleben) mit verschiedensten Bedeutungsnuancen aufgeladen
wurden – was heute das Gespräch nicht einfach macht.
Und nun
kommt die aktuelle Debatte:
Manche
Hirnforscher sind felsenfest davon überzeugt: Wir können Denken und Gefühle
endlich umfassend und ausschließlich erklären - aus dem Aufbaus des Gehirns
und der Tätigkeit von Nervenzellen in den vorgefundenen komplexen Strukturen!
mit der kühnen Schlussfolgerung: Es gibt keine Freiheit – der Mensch ist festgelegt!
Zwischenruf
„Es gibt keine Freiheit - Der Mensch ist festgelegt!“
Sind wir da nicht längst desillusioniert?
Haben wir nicht schon früher erfahren, dass wir durch äußere Größen, durch das
Schicksal oder durch Einflüsse aus der Umwelt festgelegt sind?
·
Für Unabänderlichkeit sorgte früher das Schicksal,
·
dann die göttliche Vorherbestimmung.
(der Streit wurde noch in der Zeit der Reformation – mit theologischen
Argumenten - kämpferisch ausgefochten: Erasmus von Rotterdam vertrat die
Ansicht, dass Gott den Menschen mit einem freien Willen und der Möglichkeit,
Verantwortung übernehmen zu können, beschenkt habe; Martin Luther sprach vom
„unfreien Willen“ und begründete dies mit den Argumenten der „Erbsünde“ und der
allein frei machenden „Gnade“ Gottes)
·
Als Naturwissenschaftler rätselten schon die
griechischen Atomisten, wo in einer Welt, in der Ursache und Wirkungen lückenlos
miteinander verknüpft sind (Kausalketten), überhaupt Platz für einen
freien Willen sein könne.
·
Derselben Linie folgten im 18. und 19. Jahrhundert
viele Naturwissenschaftler und Philosophen: In ihrem mechanistischen Weltbild
war durch die Naturgesetze alles Geschehen in der Natur lückenlos
vorherbestimmt (Determinismus).
·
In den letzten Jahrzehnten erfuhren wir dann, dass es
die Gene sind, die Erbanlagen in unseren Zellkernen, die unser Dasein
total bestimmen. Die Forschung an Zwillingen schien das später eindrucksvoll zu
bestätigen.
·
Freud hatte zwischendurch entdeckt, dass es doch wohl
das Unbewusste sei, was unser Verhalten festlege.
·
Dann war es die Umwelt, die natürliche, aber vor allem
die soziale, die den Menschen allein festlegte (der Behaviorismus wie auch das
marxistische Erziehungsmodell gingen davon aus, dass der Mensch wesentlich
unter dem Einfluss äußerer Bedingungen geformt wird).
·
Und nun erfahren wir, dass es die Verschaltungen
unseres Gehirns sind, die uns eisern im Griff haben ...
Wir wollen nun zunächst der Frage nachgehen, mit welchem
Denkansatz Hirnforscher arbeiten und was sie über das menschliche Gehirn
wissen.
3. Hirnforschung I:
ihr naturwissenschaftliches Denkmodell und einige grundlegende Erkenntnisse
Zunächst einige Feststellungen, die sich mit
unserer Alltagserfahrung decken und auch für Laien plausibel sind:
Ich folge hier Darlegungen von Wolf Singer, der Direktor
des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt / Main ist und Wolfgang
Prinz (in: Geyer s.u.).
(Zusammen mit Gerhard
Roth dominieren vor allem die Thesen Wolf Singers die öffentliche Debatte,
weshalb im Folgenden immer wieder vor allem auf diese beiden Autoren Bezug
genommen wird.)
Wir Menschen haben zwei Zugänge zur Welt:
Zum einen leben wir in der physischen Welt. Wenn
wir uns von außen betrachten, wissen wir: Unser eigener Leib ist Teil
dieser Welt, Teil der Natur. In unserem Körper kommen die gleichen Bausteine
vor (Erbsubstanz, Eiweiß-Moleküle, Zellen, Organe), die wir auch in anderen
Lebewesen vorfinden, da laufen im Grundsatz die gleichen Prozesse im
Stoffwechsel und in der Tätigkeit von Nerven ab, wie wir sie z.B. auch bei
Tieren beobachten.
Aber wir sind nicht nur Teil der physischen
Welt, wir erleben uns auch als seelisch-geistige Wesen: Wir nehmen unsere
physische Umwelt wahr, wir empfinden körperliche Zustände wie
Schmerz, Lust oder Hunger, wir fühlen uns erleichtert, traurig,
glücklich oder voller Hass, erinnern uns, planen für zukünftige
Situationen, wollen etwas, entscheiden uns. Solche inneren
Zustände wie Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Gedanken, Meinungen,
Vorstellungen, Wünsche, Absichten, Träume werden mentale Zustände genannt.
Jeder erlebt seine eigenen mentalen Zustände direkt und unmittelbar in einer Innenperspektive,
die nur ihm selbst zugänglich ist, und aus dieser Innenperspektive erwächst die
Gewissheit des ICH: Ich bin es, der erlebt, ich bewerte, ich entscheide!
Anderen Menschen ist nur mein „äußeres“ Verhalten und meine
Mitteilungen über mein Innenleben direkt zugänglich.
Und wenn diese andere Person ein Hirnforscher ist, dann setzt er mir vielleicht
Elektroden auf den Schädel oder schiebt mich in einen Tomographen. Ihn
interessiert die objektive, äußere Sicht: er will herausfinden: Was geht da im
Gehirn vor, wenn ein Mensch ICH-Erlebnisse hat, denkt und fühlt?
In
der Bewertung vertritt der Hirnforscher Singer das folgende Denkmodell:
·
Selbstwahrnehmung:
(„Erste-Person-Perspektive“; von „innen“ begreifen wir uns als beseelte Wesen,
die subjektive Erfahrungen machen) und Außenwahrnehmung
(„Dritte-Person-Perspektive“; Befunde der Neurowissenschaften) sind nicht
miteinander verträglich.
·
Neurowissenschaftler sind Naturwissenschaftler (und damit
fällt die Entscheidung zugunsten der äußeren, objektiven Sicht - sie ist verlässlicher und wahrer).
·
Bei der Tätigkeit menschlicher Zellen, Organe und dem
vom Gehirn gesteuerten Verhalten sind keine un-natürlichen Ursachen im Spiel (alle
Vorgänge folgen Naturgesetzen und Kausalketten)
·
Der Mensch gehört der materiellen Welt an.
Er steht in einer kontinuierlichen Geschichte, die alle Lebewesen umfasst
(Evolution).
Alle Lebensprozesse sind Naturphänomene, die sich im Rahmen naturwissenschaftlicher
Systeme fassen und erklären lassen.
Das Verhalten von Tieren erfahren wir als vollkommen festgelegt durch
Reize, Gehirnzustände und Reaktion. Menschliches Verhalten unterscheidet sich
aber nicht grundsätzlich von dem Verhalten von Tieren (deshalb sollten hier
die gleichen Prinzipien gelten).
·
Damit werden psychische Vorgänge (auch beim
Menschen) zu objektivierbaren Verhaltensleistungen, die aus der
Dritten-Person-Perspektive untersucht und beschrieben werden können; auch
solche Leistungen, die uns bereits aus der Ersten-Person-Perspektive vertraut
sind: Wahrnehmen, Vorstellen,, Erinnern, und Vergessen, Bewerten, Planen und
Entscheiden, die Fähigkeit, Emotionen zu haben ...
alle können im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse
zurückgeführt werden (!) ...
Damit wird die naturwissenschaftliche Sicht der Welt zum
allein gültigen und umfassenden Erklärungsmodell („alle“) für Vorgänge
im menschlichen Bewusstsein.
Singer sagt zusätzlich, er könne „bei der Erforschung von Gehirnen nirgendwo
ein mentales Agens wie den freien Willen oder die eigene Verantwortung finden“
(Die Zeit 13.9.2001, S.37)
Sitz des
Willens
(Darstellung
etwa 1930)
Zwischenruf
Die Existenz des freien
Willens an der Hirnstruktur festzumachen erscheint ebenso naiv wie die Aussage
des ersten Kosmonauten im Weltraum, er habe dort Gott nicht getroffen.
In der erklärten alleinigen Zuständigkeit der Naturwissenschaft begegnet das
mechanistische, deterministische Weltbild des 19. Jahrhunderts im modernen
Gewand. Der elitäre Alleinerklärungsanspruch der Welt durch die
Naturwissenschaften ist eigentlich schon seit Jahrzehnten nicht mehr aufrecht
zu erhalten. Die Physiker wissen, dass es in unserer Welt keine durchgehende
Kausalität gibt (Quantenphysik), und dass Naturvorgänge nicht immer (klassisch)
deterministisch ablaufen. Schon seit Jahren steht in Schulbüchern, „dass das
naturwissenschaftliche Bild der Welt nur ein Teilbild ist, und es ist immer ein
vorläufiges Bild“, also grundsätzlich verbesserungsbedürftig.
Auf eine weitere Beschränkung soll hier noch hingewiesen
werden: Die Hirnforschung bezieht sich im Wesentlichen auf „individuelle
erlebbare Zustände“. Damit bleiben alle religiösen (philosophischen JK) und
sonstigen überindividuellen geistigen Zustände unberücksichtigt. Gerade
überindividuelle Gedächtnisinhalte aber sind in der menschlichen Entwicklung
wichtig (Monumente und Dokumente, Archive, Netzwerke, soziokulturelle Phänomene)
(Krüger in Geyer S.183).
Vielleicht
kann das folgende Beispiel verdeutlichen, dass Allein-Erklärungsansprüche der
Vielschichtigkeit der Wirklichkeit nicht gerecht werden.
Manchmal
nähern wir Menschen uns der Wirklichkeit auf völlig unterschiedlichen Ebenen.
Wir wollen ein Gemälde betrachten (nach Peter Bieri,
in: Spiegel 2/05 S.124f; die Analogie wäre: Der Mensch als ein noch viel
komplexeres Phänomen).
Wir können
·
das Bild als physikalischen Gegenstand beschreiben
(Maße, Gewicht; das ist z.B. wichtig, wenn das Bild aufgehängt oder transportiert
werden soll)
·
die eingesetzten Materialien beschreiben (Rahmen,
Mal-Untergrund, Farben, Werkzeuge)
·
vom dargestellten Thema sprechen
·
über den Stil des Malers reden,
·
uns anregen lassen von Schönheit und Ausdruckskraft
·
über den Marktwert reden
·
(wie erlebt ein Blinder unser Gespräch?) ...
Keine der genannten Beschreibungen ist näher an der
Wirklichkeit oder wichtiger als die anderen !
Wir haben
unterschiedliche Systeme der Beschreibung für unterschiedliche Zwecke entwickelt,
keines ist einem anderen ohne Rücksicht auf den Zweck, also absolut,
überlegen.
Wenn jemand das Bild zerlegte (mit Schere und Chemikalien), um (mit exakten
Methoden als Naturwissenschaftler) herauszufinden, was es darstellt, aussagt,
bedeutet – wir würden ihn für verrückt halten. Es geht nie gut, wenn Fragen,
die sich auf einer Beschreibungsebene stellen, auf einer anderen beantwortet
werden sollen.
Auch beim Menschen gibt es immer eine physiologische Geschichte (dazu gehört
auch das neurobiologische Geschehen in seinem Gehirn); und es gibt eine
psychologische Geschichte, in der er als Person beschrieben wird.
Aber wie man in der materiellen Zusammensetzung eines Gemäldes vergebens nach
Darstellung und Schönheit sucht, sucht man in der neurobiologischen Mechanik
des Gehirns vergebens nach Freiheit oder Unfreiheit.
Es gilt aber auch umgekehrt: man kann weder das Motiv noch die ästhetischen
Qualitäten eines Gemäldes verändern, ohne seine materielle Beschaffenheit zu
verändern. Die thematischen und ästhetischen Eigenschaften sind von den
materiellen (dem Untergrund, den gewählten Farben, dem Stil des Malers)
abhängig. So ändert sich zweifellos auch das psychologische Profil einer
Person, wenn chemische oder elektrische Vorgänge in seinem Gehirn anders
ablaufen.
4. Hirnforschung II:
Befunde, Messmethoden,
Experimente – und ihre Deutung
Dabei
wurde über Erfolge „auf der untersten Ebene“ berichtet: „Wir verstehen heute
weithin die Vorgänge auf dem Niveau einzelner Zellen und Moleküle: Ausstattung
der Nervenzellenmembranen mit Rezeptoren, Funktion von Neurotransmittern,
Ablauf von intrazellulären Signalprozessen, Entstehung und Weiterleitung
neuronaler Erregung ...“.
4.1. Nervenzellen und
Gehirn: Entwicklung, Aufbau und Funktion
Das Objekt
der Begierde ist das Gehirn: dreieinhalb Pfund eines hoch spezialisierten,
grauen Zellgewebes, in dem wir dem elektrischen Gebrabbel von zig Milliarden
Nervenzellen zuhören können. Von besonderer Bedeutung für das bewusste Wahrnehmen
der Welt ist dabei die Großhirnrinde, eine anderthalb bis vier Millimeter
dicke, zerfurchte Schicht, die sich wie eine Badekappe über das gesamte
Großhirn stülpt.
Unser
Gehirn besteht aus über 10 Milliarden Nervenzellen (vielleicht sind es auch 100
Milliarden), von denen jede über viele Kontaktfasern (bis zu 10.000 können von
einer Nervenzelle ausgehen!) mit anderen Nervenzellen verbunden ist.
Eine
Nervenzelle (= Neuron) besteht aus dem Zellkörper (= Soma), und einem
langen Fortsatz, dem Neuriten bzw. Axon (dieser kann über einen Meter
lang sein; er endet in zahlreichen Verästelungen; er leitet Signale als
elektrische Impulse zu anderen Nervenzellen weiter). Vom Soma gehen zusätzlich
viele kürzere, meist verzweigte Fortsätze aus, die Dendriten. Hier
docken die Neuriten von anderen Nervenzellen an und übertragen von dort
Signale.
Die Verbindungsstellen zwischen Neuronen heißen Synapsen; ein Neuron
kann bis zu 10.000 Synapsen haben; bei genauerer Betrachtung zeigt sich ein
Spalt (1/1000 mm breit) - um die elektrischen Impulse zu übertragen, werden
chemische Substanzen freigesetzt und zur anderen Seite des Spaltes
weitergeleitet (Neurotransmitter).
Die
intensive Ver-Netz-ung ist von besonderer Bedeutung. Anteilig sind nur
relativ wenige Verbindungen des Nervensystems nach außen gerichtet (Empfang
der Signale von Sinneszellen oder Auslösen von Reaktions-Reizen z.B. in
Muskelzellen), die überwiegende Zahl an Verknüpfungen verbindet Zellen im
Inneren des Gehirns miteinander, sodass man sagen kann: „Das Gehirn
beschäftigt sich im Wesentlichen mit sich selbst!“
Weitere Informationen zu Aufbau und Arbeitsweise des Gehirns sind im Anhang
zusammengestellt.
Die
Reifungsprozesse des menschlichen Gehirns (Synapsenbildung und Verknüpfung zu
Netzen) hängen ab
·
von genetischen Voraussetzungen, aber auch
·
von der Prägung durch (natürliche) Umwelteinflüsse
nach der Geburt und
·
von der Erziehung des Heranwachsenden und damit
von der Interaktion zwischen Menschen (soziale Umwelt)
Lange
hatte man angenommen, das Hirn sei eine nach der frühen Kindheit fixierte
Masse, von der im Laufe des Lebens immer mehr Zellen verloren gehen und neue
nicht gebildet werden. Inzwischen jedoch steht fest, dass „Neurogenese“ zum
normalen Leben gehört, dass nicht nur in verschiedenen Gehirnbereichen
lebenslang neue Nervenzellen gebildet werden, sondern dass auch immer wieder
neue Verknüpfungen zwischen Nervenzellen gebildet werden (Bedingung für die
Bildung und das dauerhafte Bestehen der neuen Formationen ist allerdings, dass
neue Reize und Erfahrungen gezielt gesucht und „trainiert“ werden). Das Gehirn
zeigt eine erstaunliche Plastizität, Regenerationskraft und
Verwandlungsfähigkeit, und zugleich erweist es sich für unsere Selbst- und
Weltwahrnehmung als erstaunlich stabil.
Gehirne sind nicht getrennt in „Hardware“ und „Software“. Es gibt keinen
„zentralen Speicher“ - in den Einheiten, die „rechnen“, werden auch
Gedächtnisinhalte gespeichert. Das Gehirn wird in seiner Struktur ständig umgebaut.
Eine raffinierte Verknüpfung der Elemente in Netzwerken macht es möglich, dass
Verarbeitungsprozesse auch parallel stattfinden können. Sämtliche Teile der
Netzwerke können sich gegenseitig beeinflussen. Insgesamt ist weniger das Bild
vom „Experten“ sondern das vom „Lernenden Kind“ zutreffend.
Zur
Aufgabe und Arbeitsweise des Gehirns teilen Neuroforscher mit:
·
Die Hauptaufgabe des Gehirns ist, ein Verhalten
zu erzeugen, mit dem ich als Mensch in meiner spezifischen Umwelt – der
natürlichen und der sozialen – gut überleben kann.
·
Das Gehirn nimmt verfügbare Signale aus der Umwelt
und dem Körper auf.
·
Es prüft, wählt aus, was in der jeweiligen
Situation wichtig ist.
·
Es fragt im Gedächtnis nach vergleichbaren
Erfahrungen (Vorwissen aus dem genetischen Erbe und aus individuell
im Laufe des Lebens erworbenen Erfahrungen;
Sinnessignale werden interpretiert und in größere Zusammenhänge eingeordnet.
·
Entstehende Erregungsmuster in miteinander vernetzten
Hirnarealen werden miteinander verglichen; ein Erregungsmuster setzt sich
durch.
·
Wir nehmen nur das bewusst wahr, was mit
Aktivitäten in den „assoziativen Gebieten“ der Großhirnrinde (des Kortex)
einhergeht; elementare Prozesse außerhalb der Großhirnrinde bleiben dem
Bewusstsein völlig unzugänglich, auch wenn diese Hirnbereiche gleichzeitig
aktiv sind.
Dann
erinnert Singer daran, dass wir mit der Alltags-Vorstellung leben, dass es eine
alles koordinierende Instanz („ICH“) gibt, die in einem Zentrum sitzt, wo alle
Verarbeitungsergebnisse des Gehirns zusammenkommen und interpretiert werden,
um mitzuteilen:
ABER unsere Intuition irrt sich auf dramatische Weise: es gibt keine solche
Kommandozentrale!
Es gibt kein ICH, keinen freien Willen.
Das Gehirn selbst, in seiner Gesamtheit,
entscheidet !
Wie
kommen Hirnforscher zu so weit reichenden Schlussfolgerungen?
4.2. Messmethoden,
Experimente und Befunde
In
dem bereits erwähnten „Manifest“ werden die „großen Fragen“ benannt, mit denen
sich die moderne Hirnforschung beschäftigt:
„... was innerhalb von ... Verbänden von Zellen
geschieht... was abläuft, wenn Hunderte Millionen oder gar eine Milliarde
Nervenzellen miteinander reden ...
Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet,
dass unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie
das innere Tun als „seine“ Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige
Aktionen plant ...
Wie entstehen Bewusstsein und Ich-Erleben, wie werden rationales und
emotionales Handeln miteinander verknüpft, was hat es mit der Vorstellung
des „freien Willens“ auf sich?
Das sind die großen Fragen der Neurowissenschaften ...
(„Das Manifest. Über Gegenwart und Zukunft der
Hirnforschung“, Zeitschrift Gehirn und Geist, Heft 4/2004 S.12ff)
Um diese Fragen beantworten zu können, werden medizinische
Befunde ausgewertet und Experimente und Messungen durchgeführt.
4.2.1. Beobachtungen an
Patienten
Hirnforschung hat viel gelernt aus Beobachtungen an
Patienten.
So ist es möglich, Rückschlüsse aus Ausfallerscheinungen zu
ziehen. Wenn beispielsweise durch einen Unfall oder durch eine Krankheit
(Tumor, Stoffwechselstörungen) Hirnbereiche so geschädigt sind, dass sie
ausfallen, kann man verstehen, welche Funktionen sie vorher wahrgenommen haben.
Man kann auch untersuchen, in welchen Gehirnregionen
bestimmte Reize verarbeitet werden und was dadurch bewirkt wird. Dabei kann es
zu überraschenden Interpretationen durch die untersuchten Personen kommen, die
subjektiv als richtig erlebt werden und doch – bei objektiver Betrachtung von
außen – falsch sind.
·
Beispiel 1:
Mediziner suchen bei einer Epileptikerin mit Elektroden nach dem „epileptischen
Herd“, dem winzigen Bereich, in dem das krankhafte Neuronengewitter beginnt.
Als die Ärzte bestimmte Stellen im vorderen Bereich der linken Hirnhälfte
reizen, fängt die Patientin unvermittelt zu lachen an. Als sie gefragt wird,
warum sie lache, kommt prompt die Antwort: „Ihr seid so komisch“. Ein andermal
erfolgt die Stimulation des Gehirns, während Patientin ein Bild mit einem Pferd
betrachtet. Sie lacht wieder. Diesmal lautet ihre Begründung: „Das Tier ist so
lustig!“. So findet sie immer einen Grund für ihr (eindeutig künstlich
ausgelöstes) Lachen, und ist felsenfest von der Stimmigkeit überzeugt.
(Hier erfolgt offenkundig eine Interpretation der Sinnesdaten nach den Regeln,
die nach Erfahrung am besten dazu passen.)
(Gehirn & Geist, Dossier 1/2003: Angriff auf das Menschenbild)
·
Beispiel 2:
Es werden zwei einfache Experimente durchgeführt:
a) Man kann Menschen in bestimmten Gehirnbereichen (dem sog. Thalamus)
künstlich so reizen, dass sie einen Finger bewegen. Wenn sie danach befragt
werden, ob sie selbst diese Bewegung geplant und gewollt haben, verneinen sie
dies erwartungsgemäß.
b) Man kann die gleiche Fingerbewegung auch durch Reizung in einem anderen
Gehirnbereich (dem motorischen Kortex) auslösen. In diesem Experiment behaupten
die Versuchspersonen erstaunlicherweise, dass sie die Bewegung willentlich
ausgeführt hätten. Sie erleben subjektiv die Bewegung des Fingers als Ergebnis
einer freien Entscheidung - obwohl klar ist, dass die Bewegung von außen
ausgelöst wurde.
(Holk Kruse in: Geyer s.u. S.223ff)
·
Beispiel 3:
Eine der typischsten „Geisteskrankheiten“ noch im 19. Jahrhundert war die
„progressive Paralyse“ (in ihren Symptomen der Schizophrenie ähnlich).
Dann wurde die ihr zugrunde liegende Syphilis-Erkrankung mit Antibiotika
behandelbar. Die „Geisteskrankheit“ verschwand, weil wir eine Infektion zu
behandeln lernten.
(Gerd Kempermann in: Geyer s.u. S.235ff)
4.2.2. neue Mess-Methoden in der modernen
Hirnforschung
Ein
selbstbewusster Satz mancher Hirnforscher lautet:
„Wir
können dem Gehirn beim Denken zusehen!“
Möglich ist zum einen die Messung der elektrischen
Ströme, die bei Gehirnaktivität auftreten
(diese Methoden arbeiten mit hoher Zeitauflösung, d.h. Veränderungen in der
elektrischen Aktivität des Gehirns können praktisch sofort festgestellt
werden; der genaue Ort der Gehirnaktivität lässt sich allerdings nicht
erfassen)
Bei Veränderungen der geistigen Aktivität kommt es in
bestimmten Gehirnbereichen zu Veränderungen im Stoffwechsel (erhöhter
Blutfluss zur verbesserten Versorgung mit Sauerstoff oder Zucker); die Orte
erhöhter Stoffwechselaktivität lassen sich recht genau erfassen, allerdings
benötigen die Untersuchungen längere Zeiten im Bereich von Sekunden bis
Minuten.
Einige wichtige Verfahren sollen knapp
vorgestellt werden:
·
Elektroenzephalographie (EEG)
Hier geht es um die Messung von Potentialschwankungen des Gehirns mittels auf
der Haut angebrachter Elektroden. In einem Bild: Wir hören gewissermaßen
von außen in ein Fußballstadion hinein und bekommen eine aktuelle
Momentaufnahme der Gesamt-Stimmung (Lautstärke - ohne zu wissen, WAS sich dort
gerade ereignet und an welcher Stelle gerade etwas Interessantes passiert).
·
Magnetenzephalographie
(MEG)
Die Aktivität einzelner Synapsen, Zellen oder Zellverbände werden mit
Mikroelektroden registriert, die vor Ort im Gehirn platziert werden. Im Bild:
Wir erfahren etwas über die Aktivität bzw. die momentane Befindlichkeit eines
bestimmten FANS oder einer kleinen Gruppe, wissen aber nichts über die
Gesamtsituation.
·
Elektromyographie (EMG)
Messung von Aktionsströmen oder Muskelaktionspotentialen über eingestochene
Nadelelektroden oder Oberflächenelektroden
·
Positronen-Emissions-Tomographie (PET)
Hier werden radioaktiv markiertes Wasser oder radioaktive
Zuckermoleküle (Sauerstoffisotop O-15) dem Körper über die Atemwege oder direkt
über die Blutbahn zugeführt. Bei verstärkter Gehirntätigkeit kommt es zu
verstärktem Blutfluss in die betroffenen Regionen. Damit steigt dort auch die
Radioaktivität. Dabei werden Positronen (Antimaterie!) abgestrahlt.
Ringförmig um den Kopf sind Detektoren angebracht, die die resultierende
Gammastrahlung messen. Aus der Strahlungsaktivität berechnet der Computer ein
dreidimensionales Bild der Hirnaktivität. Allerdings dauert es eine Weile, die
Messdauer beträgt heute in der Regel wenige Sekunden (bei Auflösung im
Millimeterbereich allerdings bis zu 90 Sekunden; der Zeitraum ist zu groß, wenn
man z.B. kognitive Prozesse studieren will, die sich im Millisekundenbereich
abspielen).
BILD: aktive Bereiche rotorange eingefärbt
(PET) Hirnaktivität bei verschiedenen Sprachaufgaben
·
Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT),
auch Kernspintomographie (NMR)
Den Körper des Patienten umschließt ein Ring, in dem ein sehr starkes
Magnetfeld erzeugt wird (10.000fache Stärke des Erdmagnetfeldes). Unter der
Wirkung des Magnetfeldes richten sich die Wasserstoff-Atome des Körpers aus
(sie verhalten sich wie kleine Kompassnadeln). Alle Atome schwingen mit
gleicher Frequenz. Dann wird von außen ein Radiowellensignal eingestrahlt.
Durch diese Störung wird die Lage der Atome verändert. Wenn das Signal gestoppt
wird, kippen die Atome wieder in ihre Anfangsstellung zurück und senden dabei
selbst Hochfrequenzsignale aus, die gemessen werden können (der Körper dient
also bei diesem Experiment sowohl als Empfänger als auch als Sender von
Radiowellen - deshalb „Resonanz“). Die Wasserstoffatome in unterschiedlichen
Gewebearten verhalten sich geringfügig unterschiedlich, und so können anatomische
Strukturen gut unterschieden und abgebildet werden. Bei schichtweiser
Durchmusterung (Schnittdicke 5 mm) sind
so feinste Strukturen erkennbar.
(fMRT) Unterschied (aktive Bereiche rot eingefärbt):
Der Proband bewegt einen Finger;
Mittelwert aus 30 Messungen
·
funktionelle Magnet-Resonanz-Tomographie
(fMRT))
Mit fMRT können auch Änderungen im Sauerstoffgehalt des Blutes nachgewiesen
werden (die Messung nutzt hier die magnetischen Eigenschaften des roten
Blutfarbstoffs Hämoglobin). Bei fMRT werden Schwankungen im Sauerstoffgehalt
in Abhängigkeit von der Stoffwechselaktivität erfasst. Die Bilder zeigen, WO
im Gehirn die neuronale Tätigkeit lokal erhöht ist.
einige Erläuterungen und (kritische) Einschränkungen
·
Keines der vorgenannten bildgebenden Verfahren misst
neuronale Prozesse direkt.
·
Man geht von der (plausiblen) Annahme aus, dass eine
erhöhte Gehirnaktivität einhergeht mit erhöhter elektrischer Aktivität oder
mit erhöhter Stoffwechselaktivität (= erhöhter Verbrauch an Sauerstoff oder
Zucker).
·
Die Kontrastschärfe der Bilder täuscht eine
irreführende Genauigkeit vor.
Es wird ein Reiz ausgelöst oder eine
Aktivität eingeleitet, und zum Vergleich wird die Aktivität in der Ruhephase
(ohne Reiz bzw. spezifische Aktivität) gemessen. Dann wird das Signal der
„normalen“ Aktivität vom Signalpegel der erhöhten Aktivität subtrahiert. Die
dabei gemessenen Unterschiede sind in der Regel gering: das ganze übrige Gehirn
ist auch aktiv, die untersuchten Bereich sind nur ein bisschen
mehr aktiv (die Unterschiede in der Signalstärke betragen bei
fMRT wenige Prozent des Gesamtsignals).
Um zu auswertbaren Ergebnissen zu kommen, müssen mehrere Messungen stattfinden
(z.B. 30 in einem Versuchslauf), deren Ergebnisse dann rechnerisch gemittelt
werden.
In der graphischen Präsentation wird der Untergrund (die Aktivität des
„unaufgeregten“ Gehirns im Normalzustand) grau dargestellt, der davon nur
gering abweichende „Unterschied“ dagegen oft in Signalfarben hervorgehoben.
·
Wir erfahren mit den bildgebenden Verfahren, WO die
Funktion sitzt, aber NICHTS über den INHALT, WAS dort passiert, und erst recht
nichts darüber, wie Denken und Fühlen zustande kommen!
4.2.3. Der
Libet-Versuch
Bejamin
Libet hat ab 1979 Versuche durchgeführt, die immer wieder im Zentrum der
Diskussion um die Willensfreiheit stehen.
Die
Vorgabe von Libet an seine Versuchspersonen lautete:
Sie sollten mit den Fingern schnippen (oder das Handgelenk
beugen). Zusätzlich sollten sie den Zeitpunkt angeben,
zu dem sie
den Entschluss für das Ausführen der Bewegung
gefasst hatten. Dabei wurde während der gesamten
Versuchsdauer
ständig die
Hirnstromaktivität gemessen (EEG), und der Zeitpunkt
der Muskelaktivität wurde erfasst (EMG). Damit die
Versuchsteil-
nehmer
möglichst exakt den Zeitpunkt angeben konnten, zu dem
sie den
Entschluss gefasst hatten, beobachteten sie eine Kreisfläche,
die ein
Lichtfleck in 2,96 Sekunden einmal umrundete, und merkten
sich seinen Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der Entscheidung.
Die Erwartung (auch bei Libet) war: Im zeitlichen Ablauf
zuerst würde der Entschluss gefasst werden, dann würde das Gehirn aktiv und
noch etwas später würde der Muskel aktiviert und die Bewegung sichtbar.
Das
Ergebnis aber war ein anderes:
Stets wurde die gleiche Abfolge beobachtet. Zuerst entstand im Gehirn das
„Bereitschaftspotential“ (etwa 550 Millisekunden, d.h. etwa eine halbe Sekunde
vor dem Ausführen der Handlung), danach (etwa 350 ms später) erlebten die
Versuchspersonen bewusst ihren „Willensakt“ (der Entschluss wird bewusst:
JETZT will ICH drücken!), und dann (noch einmal 200 ms später) werden die
Finger-Muskeln aktiv.
bei vorheriger spontanem Wahrnehmung des Muskels
Planung Beschluss des Wunsches (EMG)
-
1050 - 550 - 200 0
Milli-Sekunden
Libet
schlussfolgerte daraus: Der Willensprozess wird unbewusst eingeleitet! Das
Gehirn ist schon bereit und startet den Vorgang, ehe ich mich bewusst zum
Handeln entscheide.
Einige Hirnforscher
ziehen aus dem Ergebnis solcher Versuche weitreichende Schlussfolgerungen und
wagen philosophische Deutungen (so Singer in: Geyer s.u.):
·
Die Prägung und Formung des Gehirns ist total – es
gibt keinen Raum für einen freien Willen!
·
Alles Wissen und Erleben ist in der funktionellen
Architektur des Gehirns festgelegt.
·
Unser rationales Denken wie Gefühlserleben haben
durchgehend und ausschließlich neuronale Grundlagen.
·
Hirninterne Abwägungsprozesse laufen unbewusst ab:
wir nehmen nur das Ergebnis wahr, und
wir interpretieren es als unsere eigene Entscheidung
·
Das Gehirn ist der eigentliche Akteur! Es hat sich vor
dem Willensakt schon entschieden!
·
„Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen,
was wir tun“ (Prinz in Geyer S.20ff)
·
Unser bewusster Willensimpuls ist so etwas wie ein Ratifizieren
(= Bestätigen) einer Entscheidung, die das Gehirn schon getroffen hat: Ich rede
mir nachträglich ein, dass ich will, was das Gehirn bereits tut.
Sind diese Schlussfolgerungen wirklich so eindeutig und
zwingend aus dem Libet-Versuch abzuleiten?
Zwischenruf
einige Ergänzungen und kritische Anmerkungen zum Libet-Versuch
·
Die grundlegenden Versuche stammen aus den Jahren
1979 ff (das ist lange her!)
·
Libet hat anfangs nur 40 Versuche mit 9 verschiedenen
Personen ausgewertet.
·
Libet stellt zusätzlich fest:
(Der Ablauf ist mit der einsetzenden Gehirnaktivität nicht endgültig
determiniert:) Aber die Bewusstseinsfunktion kann den Ausgang immer noch
steuern; sie kann die Handlung (innerhalb eines Zeitfensters von 100 bis 200
ms) durch ein Veto verbieten. Willensfreiheit ist daher nicht
ausgeschlossen.
der freie Wille ... würde eine Willenshandlung nicht einleiten, würde aber den
Vollzug der Handlung steuern. ...
·
Libet liefert gleich noch zwei religiöse Deutungen
mit:
a) Sind wir vollständig durch die deterministische Natur physikalischer Gesetze
bestimmt? Ein von Gott auferlegtes unausweichliches Schicksal erzeugt
ironischerweise einen ähnlichen Endeffekt.
b) Diese Art von Rolle für den freien Willen stimmt tatsächlich mit religiösen
und ethischen Mahnungen überein. Diese befürworten gewöhnlich, dass man „sich
selbst unter Kontrolle hat“. Die meisten der zehn Gebote geben die Anweisung,
dass man etwas nicht tun soll.
Kritisches zum
LIBET-Experiment
·
Die Versuchsteilnehmer entscheiden sich frei-willig
zur Teilnahme an einem Versuch, der den „freien Willen“ in Frage stellt (???).
·
Die eigentliche Entscheidung, bei einem Experiment
den Finger zu bewegen, wird bereits gefällt, wenn sich die Person
bereiterklärt, an dem Experiment teilzunehmen.
·
Der Ablauf wird geübt und ist im Gehirn gespeichert
(Vergleich: Torwart springt schon „vorsorglich“ beim Elfmeter).
·
Der letzte Willensruck für den Knopfdruck ist nur der
Exekutivakt, eine kleine Teilentscheidung, es geht nicht mehr um das OB,
sondern nur noch um das WANN (und das eingeengt auf einen eng begrenzten
Zeitraum).
·
Handlungen im Alltag haben meist einen viel größeren
zeitlichen Abstand zwischen Absicht und Handlung und sind nicht nur auf die
Durchführung konkreter motorischer Abläufe bezogen (ein von langer Hand
geplantes Verbrechen oder Berufswahl bzw. Partnerwahl sind etwas anderes als
Fingerschnipsen).
·
Die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse wird
vorausgesetzt, aber fallen das Bewusstwerden der Handlungsentscheidung und das bewusste
Wahrnehmen der Zeigerstellung zeitlich wirklich zusammen?
Im Ergebnis des
Libet-Versuchs kommen verschiedene Hirnforscher dann doch zu unterschiedlichen
Bewertungen (Geyer in: Geyer S.86ff.)):
„Es gibt keine Willensfreiheit!“
·
das bedeutet bei Singer: wegen der ständigen
Verfeinerung der Messverfahren gelten die Einsichten, die Libet für motorische
Abläufe gewonnen hat, grundsätzlich immer, auch für Erinnern, Vergessen,
Bewerten, Planen, Emotionen-Haben.
·
Roth schränkt ein: Die Geltung des Libet-Versuchs
erstreckt sich nur auf klar fassbares Verhalten (z.B. Bewegungen) - fühlen,
glauben oder wollen sind aber so klar nicht objektivierbar.
·
Noch vorsichtiger äußert sich Libet selbst.
Nicht nur, dass er ein Veto für möglich hält (siehe oben), er sagte sogar 20
Jahre nach seinen Versuchen:
Meine Schlussfolgerung zur Willensfreiheit, die wirklich frei im Sinne der
Nicht-Determiniertheit ist, besteht dann darin, dass die Existenz eines freien
Willens zumindest eine genauso gute, wenn nicht bessere wissenschaftliche
Option ist als ihre Leugnung durch die deterministische Theorie.
Libet selbst weist darauf hin,
dass die Ausübung des freien Willens doch möglich bleibt, und zwar dadurch,
dass zunächst zwar ein Impuls im Gehirn entsteht (gewissermaßen „hochsprudelt“),
dass aber die Person dieses „Handlungs-Angebot“, diese noch nur mögliche
Option, zur Kenntnis nimmt und ein „Veto“ einlegen kann, das den weiteren
Handlungsablauf stoppt (siehe dazu unten 11.8).
5. Gibt es den freien
Willen ?
Wir müssen
uns darüber im Klaren sein, dass „Willensfreiheit“ kein klar definierter
Begriff ist, was zu mancherlei Verwirrung führen kann.
Es gibt
einen starken Begriff von Willensfreiheit. Er stützt sich (nach Peter
Bieri, 7. Berliner Junitagung für Forensische Psychiatrie, 27.6.03) in der
Regel auf eine der folgenden Annahmen:
a)
Freier Wille ist durch nichts bedingt, entfaltet sich
völlig unabhängig,
ganz neue Kausalketten fangen an
(das aber wäre ein Wille, der zu niemandem gehört, hinter dem keine
Lebensgeschichte steht, der vollkommen zufällig agiert, unbelehrbar,
unkontrollierbar; Verantwortung ist nicht möglich;
das wäre nicht die Erfahrung von Freiheit, sondern ein Alptraum!)
b)
Freier Wille wird als nicht-physisches (nicht
weltliches, nicht „natürliches“, nicht körperliches) Phänomen verstanden, das
keine materielle Basis (Bedingtheit) hat
(es ist aber tausendfach belegt, dass es keine psychologische Veränderung gibt,
ohne dass gleichzeitig auch eine physiologische Veränderung stattfindet,
Energie ausgetauscht wird, Stoffwechsel stattfindet);
Nur dieses
„starke“ Verständnis von Willensfreiheit lehnt Roth ab (ich meine: zu
recht). Er definiert: „Man muss genau unterscheiden zwischen subjektiver
Freiheit und Handlungsautonomie des gesamten Menschen ... erstere ist
schlichtweg eine Illusion, letztere halte ich für gegeben. Autonomie ist die
Fähigkeit, als ganzes Wesen, samt Gehirn und Körper, Bewusstsein und
Unbewusstem, aus der individuellen Erfahrung heraus aktiv zu werden;
evolutionäre Vergangenheit, frühkindliche Erfahrungen spielen mit ...
subjektiver Wille zum Handeln ist nicht frei, aber erziehbar“ (Die Zeit 13.9.01
S.37).
Schon wenn
man andere Begriffe wählt oder genauere Definitionen versucht, kann mancher
schroffe Kontrast verblassen:
·
Der Kontrast zum Determinismus ist der
Indeterminismus (der reine Zufall, die blanke Willkür!).
·
Der Kontrast zu Freiheit ist nicht Determinismus,
sondern Zwang.
(Bieri, Spiegel 2/05 S.125)
·
Jeder Mensch ist bestimmt, nicht determiniert;
(Hans J. Schneider, Tagung EAMeißen 10/05)
·
„Besonnenheit“ besser geeignet als „Freiheit“?
(Hans-Ludwig Kröber, Tagung EAMeißen 10/05)
7. Lösungen im Konflikt ?
oder
Die Suppe wird nicht so
heiß gegessen, wie sie gekocht wird -
und vielleicht ist sie ja doch genießbar.
Das selbstbewusste Auftreten mancher Hirnforscher und ihre
kühnen Thesen vernebeln ein wenig die wirkliche Situation.
Im „Manifest“ der Hirnforscher aus dem Jahr 2004
(unterzeichnet auch von Singer und Roth) – ist eine gar nicht so selbstbewusste
Bilanz zu lesen, nämlich, dass es wohl Fortschritte in der Hirnforschung gibt,
„aber NICHT auf der mittleren Ebene: Wir wissen
„erschreckend wenig“, was innerhalb von ... Verbänden von Zellen geschieht:
„Völlig unbekannt ist, was abläuft, wenn Hunderte Millionen oder gar eine Milliarde
Nervenzellen miteinander reden“;
“Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, dass
unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie
das innere Tun als „seine“ Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige Aktionen
plant, all dies verstehen wir nach wie vor noch nicht einmal in Ansätzen.“;
“Wie entstehen Bewusstsein und Ich-Erleben, wie werden rationales und
emotionales Handeln miteinander verknüpft, was hat es mit der Vorstellung des
„freien Willens“ auf sich? Die großen Fragen der Neurowissenschaften zu
stellen, ist heute schon erlaubt – dass sie sich bereits in den nächsten zehn
Jahren beantworten lassen, ist allerdings eher unrealistisch.“
Das alles läuft auf ein Nichtwissen gerade auf der entscheidenden Ebene der
Hirnaktivitäten hinaus.
Es gibt von den Vorkämpfern des neuen Weltbildes auch
inkonsequente Äußerungen.
So teilt Wolf Singer mit : „... gehe ich abends nach Hause
und mache meine Kinder dafür verantwortlich, wenn sie irgendwelchen Blödsinn
angestellt haben, weil ich natürlich davon ausgehe, dass sie auch anders hätten
handeln können“ (Die Zeit 13.9.05 S.37)
Und Gerhard Roth ist auf der einen Seite überzeugt davon,
dass „die Steuerung von Handlungen durch das limbische System erfolgt“ (einen
Gehirnteil, der nicht zur Großhirnrinde gehört und dessen Aktivität uns deshalb
nicht bewusst wird), er ergänzt dann aber, dass „darin (im limbischen System
JK) die neuronale Grundlage dessen, was man die „Handlungsautonomie des
Individuums“ nennen kann, nämlich die Steuerung unserer Handlungen durch
eigene Erfahrung.“ (Gehirn & Geist, Dossier 1/2003: Angriff auf das
Menschenbild) – und eigene Erfahrungen sind ja schon wieder etwas sehr
Individuelles und nahe bei einem ICH.
Im Weiteren schließe ich mich einer Argumentation an, die
von Michael Pauen stammt, einem Philosophen aus Magdeburg (Gehirn & Geist,
Dossier 1/2003: Angriff auf das Menschenbild).
Er bezieht sich auf die „Identitätstheorie“, die davon
ausgeht. dass Bewusstseinsvorgänge identisch sind mit physischen Vorgängen. Sie
gehören zu derselben Wirklichkeit.
Die Theorie erklärt die Unterschiede zwischen Gehirn und Bewusstsein damit,
dass hier zwei unterschiedliche Formen des Zugangs vorliegen.
a) Erfolgt der Zugang aus der Innenperspektive der ersten Person, dann sprechen
wir von Vorgängen im Bewusstsein.
b) Nehmen wir dagegen derselben Aktivität gegenüber die Außenperspektive der
dritten Person ein, dann können wir diese als neuronalen bzw. allgemein als
materiellen Vorgang beschreiben.
Es handelt sich also um zwei Seiten derselben Medaille. Für den
Identitätstheoretiker sind beide Beschreibungen gleichrangig, keine ist
„wahrer“ oder wissenschaftlich respektabler als die andere (vergleiche hier
auch die Anmerkungen zur Betrachtung eines Bildes – weiter oben im Text). Aus
der Sicht der Identitätstheorie ist schließlich auch leicht zu verstehen,
warum geistige Vorgänge etwas verursachen können – schließlich sind sie
identisch mit elektrischen und chemischen Vorgängen im Gehirn, die ihrerseits
zweifellos in der Lage sind, andere materielle Vorgänge zu beeinflussen.
ABER ein solches Denken scheint schwerwiegende Konsequenzen zu haben:
Wenn unsere geistigen Aktivitäten mit Hirnprozessen gleichzusetzen sind, die
Naturgesetzen folgen, kann doch wohl von Freiheit nicht mehr die Rede sein.
Unsere Handlungen würden dann eben nicht von uns selbst bestimmt, sondern von
jenen Gesetzen.
Bevor man dieser Argumentation zustimmt, sollte man sich vor Augen führen, dass
Freiheit an drei Bedingungen geknüpft ist:
Einerseits würden wir ein Tun nie als frei bezeichnen, wenn wir von außen
dazu genötigt werden. Freiheit setzt also Autonomie voraus.
Andererseits muss Freiheit aber auch gegen den bloßen Zufall (die reine
Willkür) abgegrenzt werden.
Drittens erwarten wir von einer freien Handlung, dass sie sich einer Person
zurechnen lässt. Zur Freiheit gehört also auch Urheberschaft.
Diesen Kriterien können wir gerecht werden, wenn wir „Freiheit“ mit „Selbstbestimmung“
übersetzen. Diese Übersetzung ist weit mehr als ein Spiel mit Worten; sie
verdeutlicht etwas, das in der Diskussion um die Willensfreiheit häufig
übersehen wird: Freiheit benötigt eine Person, ein „Selbst“, das sich
bestimmt. Doch dann kann nicht jede Form der Determination die Freiheit
beeinträchtigen. Wenn dieses „Selbst“ sich bestimmt, wird die Freiheit nicht
eingeschränkt – die Festlegung durch das „Selbst“ ist gerade das, was
eine freie Handlung von einer bloß zufällig entstehenden Aktivität
unterscheidet.
Veranschaulichen lässt sich dieses durch den Vergleich mit einer
parlamentarischen Demokratie (siehe Kasten).
Vergleich zum Finden von
Willensentscheidungen mit einer parlamentarischen Demokratie
Die Interessen und
Gewohnheiten der Bürger entsprechen dabei den Motiven und dem Charakter der
Person, die Beschlüsse des Parlaments den Willensakten (den Wirkungen nach außen JK). Wann würden wir Entscheidungen des
Parlaments als frei bezeichnen? Offenbar spielen auch hier die beiden genannten
Bedingungen eine entscheidende Rolle: eine freie Entscheidung darf weder durch
äußeren Zwang noch durch bloßen Zufall zustande gekommen sein, vielmehr muss
sie von den Interessen und Wünschen der repräsentierten Staatsbürger abhängen
(und damit ihre Traditionen und Erfahrungen berücksichtigen JK). Würde sich
das Parlament nicht an diesen Interessen orientieren, dann würde man nicht mehr
von Freiheit, sondern von bloßer Willkür sprechen.
Doch zurück zu individuellen Willensakten. Was ist das „Selbst“,
von dem die Rede war? Man darf sich hier nicht eine Art inneres Objekt, eine
Seele oder wieder einen Homunculus vorstellen, der unsere Geschicke lenkt.
Gemeint ist vielmehr ein Kern von wichtigen Persönlichkeitsmerkmalen und
Überzeugungen, die einen Menschen kennzeichnen.
Es gibt noch eine letzte Schwierigkeit. Die hier
vorgestellte Sicht steht im Gegensatz zu einer nicht nur in der philosophischen
Tradition verbreiteten Auffassung: Ihr zufolge sind Freiheit und Determination
unvereinbar. Diese Auffassung ist
jedoch unplausibel, weil eine überhaupt nicht determinierte Handlung auch nicht
von den Überzeugungen, Wünschen und sonstigen Eigenschaften des Urhebers
abhängig sein kann.
Wenn eine bestimmte Überzeugung Grundlage eines freien Willensaktes ist,
dann kann die Willensfreiheit nicht dadurch bedroht werden, dass diese
Überzeugung eine neuronale Grundlage hat. Das Gegenteil ist der Fall:
Indem der neuronale Vorgang ein zentrales Persönlichkeitsmerkmal
realisiert (zum Tragen kommen, wirksam werden lässt JK), verschafft er unseren
Wünschen und Überzeugungen erst Wirksamkeit in der physischen Realität – er
bildet also eine Bedingung für selbstbestimmtes Handeln.
Dass es in der Debatte um „Hirnforschung und
Willensfreiheit“ nicht um ENTWEDER – ODER geht, sondern um SOWOHL – ALS AUCH,
und dass die Begrenzungen menschlicher Freiheit gerade die Person, das „ICH“
ermöglichen und prägen, wird auch aus Äußerungen anderer Teilnehmer an der
Diskussion deutlich:
Schon 1983 war bei Hoimar
von Ditfurth zu lesen:
„Wenn mir etwas begegnet, wenn ich eine Erfahrung mache, dann
behalte ich das in meiner Erinnerung. „Erfahrungen machen“, das heißt
tatsächlich doch nichts anderes, als bestimmte Erlebnisse im Gedächtnis
anzusammeln. Ihre Spur bleibt so in mir bewahrt, die Fülle der
Erfahrungen bestimmt mich und mein Verhalten der Umwelt gegenüber im Lauf
meines Lebens mehr und mehr und legt mein Verhalten so in zunehmendem Maß
fest.
Das ist ein wesentlicher
Teil davon, was wir als eine Reifung, als die allmählich erfolgende
„Ausprägung“ einer Persönlichkeit mit zunehmendem Lebensalter erkennen.
Diese Entwicklung ist unvermeidlich gleichbedeutend mit einer gewissen
Erstarrung. Ein Kind ist, innerhalb der Grenzen seiner Veranlagungen, ein
offenes Feld vielfältiger Möglichkeiten für die Zukunft ...
Leben besteht daraus, dass
man sich unter dem Einfluss der Umwelt und der von ihr ausgehenden
Erfahrungen für bestimmte einzelne Möglichkeiten entscheidet und auf sie
festlegt.“
(Hoimar von Ditfurth: Kinder des Weltalls, dtv München 1983, S. 226 ff)
„... natürlich geschieht
(bei allen geistigen Prozessen) etwas Materielles im Kopf. Die organische
Natur (des Gehirns JK) begrenzt und ermöglicht Freiheit – die
soziale Welt übrigens auch. Die kognitiven Prozesse und Leistungen sind in
dem Sinn von neuronalen Prozessen abhängig, dass sie nicht ohne diese möglich
sind. Aber dass etwas nicht ohne etwas anderes vorkommen kann, bedeutet
nicht, dass es damit zusammenfällt.“
(Lutz Wingert in: Geyer s.u. S.194ff)
„Regenerationskraft
... Verwandlungsfähigkeit des Gehirns, seine „Plastizität“ ... dieser
konstruktive Prozess ermöglicht dem Menschen einen Willen, der so frei ist wie
bei keinem anderen Organismus auf der Erde. Zugleich gibt es aber biologische,
gehirnarchitektonische, evolutiv und biographisch gewachsene Grenzen des freien
Willens. Der Gegensatz von biologischem Prozess und freiem Willen,
von unbewussten chemischen Reaktionen und Selbstbewusstsein, ist daher
konstruiert. Je schärfer die Biologie die neuronalen Prozesse beschreibt, desto
stärker werden diese als ermöglichende Kräfte von Lernen, Abwägen und freiem
Willen hervortreten anstatt als einschränkende Determinanten, von denen ...
Singer ...und Roth schreiben.“
(Christian Schwägerl in: Geyer s.u. 240ff)
„Der Spielraum unseres Denkens und Handelns ist nicht in
jeder Hinsicht festgelegt. Ob es den freien Willen gibt oder nicht gibt, ist
nicht die entscheidende Frage, sondern die Frage ist allein, wie wir Spielräume
dieser Art ausfüllen.“
(Mittelstraß in: bild der wissenschaft 9/96 S.54ff)
8. Eine persönliche (Zwischen-)Bilanz
Meine
persönlichen Einsichten lauten derzeit etwa wie folgt:
Ich habe
keinen freien Willen, wenn unter „frei“ verstanden wird: schrankenlos, bedingungslos,
ohne jede Bindung.
Ich bin
gebunden – durch Ererbtes und durch individuelle Lebenserfahrung:
·
durch mein biologisches Erbe
(Aufbau und Vernetzung meiner Gehirnstrukturen, biochemische und physikalische
Vorgänge, die nach Naturgesetzen in meinen Zellen und zwischen ihnen ablaufen)
·
durch meine natürliche Umwelt (einwirkende Reize,
Naturerfahrung, Klima, Nahrungsangebot, Feinde)
·
durch meine soziale Umwelt (Anregung durch und
Erfahrungen mit anderen Menschen, Beziehungen, Erziehung, Bildung).
All das
hat Spuren im Aufbau, in der Vernetzung (meiner „Gehirnarchitektur“) und in der
Funktion meines Gehirns und in den
gespeicherten Gedächtnisinhalten hinterlassen (meine persönlichen
Lebens-Erfahrungen).
Das
begrenzt mich und meine Möglichkeiten.
Dadurch
bin ich geprägt und das bindet mich.
Aber
gerade das bestimmt mein „Selbst“, macht ganz zentral mein „Ich“ aus. Diese
Sammlung von Erfahrungen, diese Nervennetze zur Verarbeitung - das gibt es nur
einmal, DAS BIN ICH.
Und mit diesen
Möglichkeiten (dem Werkzeug Gehirn), in diesem Rahmen
kann ich spielen, abwägen, entscheiden:
kann ich mich selbst bestimmen, Selbstbestimmung ausüben.
Und wenn mein Gehirn mich da nicht in jedem Einzelfall nach einer Entscheidung
fragt und die meisten Routineaufgaben stumm im Hintergrund erledigt, entlastet
mich das, und meine Willensbildung kann sich auf die wichtigeren Dinge
konzentrieren.
Neben dem
wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt an sich sowie den bisherigen und
möglichen zukünftigen Interventionsmöglichkeiten in das menschliche Gehirn
haben vor allem weitreichende erkenntnistheoretische und philosophische Thesen
führender Neurowissenschaftler zu den Möglichkeiten einer
naturwissenschaftlichen Erklärung geistiger Prozesse in den vergangenen Jahren
für öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt. Diesen Thesen zufolge würden die
Erkenntnisse der modernen Neurowissenschaften zu einer Umwälzung des
menschlichen Selbstverständnisses, d.h. unserer Vorstellungen von Subjektivität
und personaler Identität, von Selbstbewusstsein, Willen und Handlungssteuerung
führen.
Der im vorliegenden Bericht unternommene Durchgang durch die Diskussion
zwischen Neurowissenschaften, Philosophie und Kulturwissenschaften zeigt
allerdings, dass weitreichende Thesen zur Determination geistiger Vorgänge
durch neuronales Geschehen im Gehirn und zum illusionären Charakter der
Willensfreiheit bisher empirisch nicht hinreichend gestützt sind. …
… ist vorläufig kein Anlass für eine grundsätzliche Revision unserer
Alltagsauffassung von Schuld und Verantwortung, freiem Willen sowie des
strafrechtlichen Schuldbegriffs gegeben.
(Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag; Hennen,
Grünwald, Revermann und Sauter: „Hirnforschung“, Endbericht zum TA-Projekt, Arbeitsbericht
Nr. 117, April 2007, A4 - 204 Seiten; S.6f.; Bestelladresse: TAB, Neue
Schönhauser Straße 10, 10178 Berlin, buero@tab.fzk.de)
9. Nachtrag:
GOTT im Gehirn? – „Neurotheologie“?
Die
Hirnforschung hat sich in den letzten Jahren auch mit Fragen von Gott und
Religion beschäftgt.
Neurobiologen schieben betende Nonnen in den Kernspintomographen.
Ärzte studieren die gesundheitsfördernde Wirkung von
Gebeten.
Molekularbiologen suchen nach dem „Gottes-Gen“
Es gab erste Versuche, einen „neurobiologischen
Gottesbeweis“ zu führen.
Sogar ein neuer Begriff - „Neurotheologie“ – wurde bereits
1984 von dem amerikanischen Theologen Ashbrook geprägt. Neurotheologie
untersucht, wie die Gehirnaktivitäten und deren evolutionäre Grundlagen mit
Religiosität und Spiritualität zusammenhängen, wie das Verhältnis von Gott und
Gehirn zu beschreiben wäre, ob zwischen diesen Begriffen das Wörtchen „und“,
„über“, „vor“, „in“ oder „aus“ einzusetzen ist.
9.1. Das „Gott-Modul“
Schon seit
1970 deuteten manche Nervenärzte Trancezustände besonders Frommer als Zeichen
für Schläfenlappenepilepsien.
Eine bestimmte Form der Epilepsie ist häufig mit extremen religiösen
Ausrichtungen korreliert.
Bei einer „Schläfenlappen-Persönlichkeit“ bleiben die Veränderungen im Gehirn
auf relativ kleine Hirnregionen im Schläfenlappen beschränkt, besonders in der
linken Hirnhälfte. Und oft gehen dann Anfälle solcher Patienten einher mit dem
Erlebnis göttlicher Gegenwart, der Erfahrung direkter Kommunikation mit Gott.
Ramachandran (USA) entdeckte Ende der 1990er Jahre eine Region im
Gehirn, die allem Anschein nach in enger Verbindung mit spirituellen Gedanken
steht. Er nannte das hinter dem linken Ohr liegende Areal „Gottes-Modul“ und
schloss aus seinen Befunden, dass „es eine neuronale Basis für religiöse
Erfahrungen gibt“.
Bei Patienten mit Temporallappenepilepsie (TLE) wurde festgestellt: wenn der
epileptische Fokus in einem Areal hinter dem linken Ohr liegt, berichten die
Betroffenen oft von „spirituellen Visionen“.
Nun wurde gemutmaßt, dass auch der Apostel Paulus oder Johanna von Orleans
vielleicht an TLE erkrankt waren und ihre Visionen so erklärt werden könnten.
Manche Interpreten kamen zu der kühnen Schlussfolgerung, dass wir Menschen
gewissermaßen dafür geschaffen sind, an Gott zu glauben! Wie tief die
religiösen Gefühle sind, hängt nach Ramachandran von der natürlichen elektrischen
Aktivität im Temporallappen ab und von der Bereitschaft, sich auf spirituelles
Erleben einzulassen.
GOTT-MODUL ?
9.2. Gottes-Erlebnisse
durch magnetische Stimulation?
Michael Persinger (Kanada) kann mittels
transzerebraler Magnetstimulation Gottes-Erlebnisse förmlich hervorrufen.
Er hat in den letzten 20 Jahren mehr als 1000 Personen in einer
reizabgeschirmten Kammer einen umgebauten Motorradhelm aufgesetzt. Dann werden
mittels drei bis vier darin integrierten Magnetspulen, die um die Schläfen- und
Scheitellappen gruppiert waren, künstlich fluktuierende Magnetfelder
horizontal durch den Schädel geleitet. Die Magnetfelder waren relativ schwach
(1-5 Mikrotesla, das ist vergleichbar mit der Strahlung eines
Computerbildschirms), die Versuchdauer betrug 30 Minuten und länger.
Vier von fünf untersuchten Personen berichteten anschließend von spirituellen,
als übernatürlich gedeuteten Empfindungen (der Körper vibriert oder schwebt,
lebhafte Erinnerungen werden hervorgerufen, Stimmen oder Befehle werden
vernommen, die Probanden spüren die Gegenwart eines höheren Wesens, eine
Berührung Gottes, oder sie haben den Eindruck, ihren Körper zu verlassen).
Die Medizin weiß schon länger: Auch Schlaf- und Sauerstoff- und Glukose-Mangel
, Angstzustände und Depressionen können vergleichbare Effekte bewirken.
Persinger meint, durch seine Versuche Gott als bloßes Hirngespinst entlarvt zu
haben.
9.3. Einswerden mit Gott nachgewiesen?
Andrew Newberg (USA) untersuchte einen Bewusstseinszustand, von dem
Gläubige fast aller Religionen berichten: dem Gefühl, eins zu werden mit dem
Universum.
8 Buddhisten und 3 franziskanische Nonnen wurden in den Kerspintomographen
gelegt. Sie begannen zu meditieren und zogen im Moment tiefster Versenkung an
einer Schnur. Daraufhin erfolgte über Infusion die Zufuhr einer radioaktiven
Substanz in die Vene. Die Strahlungsaktivität des Gehirns wurde gemessen, und
verstärkte Strahlung zeigte an, in welchen Bereichen des Gehirns verstärkte
Durchblutung auftrat, das Gehirn also gerade besonders aktiv war. Es zeigte
sich eine Aktivierung des präfrontalen Kortex hinter der Stirn. Die
überraschende Entdeckung aber war: eine Region in den Scheitellappen, das
„Orientierungs-Assoziations-Areal“ (OAA) war besonders wenig aktiv!
Aufgabe dieser Region ist es, im Bewusstsein die Grenze klar zu machen, wo
unser Körper endet und wo die Außenwelt beginnt. Diese „Deaffizierung“ deutet
Newberg als Reizblockade, wodurch die normale Unterscheidung zwischen Innen
und Außen, zwischen dem Selbst und der Welt aufgehoben werde, und so werde ein
elementares Einswerden mit „Gott“ oder mit dem „Kosmos“ erzeugt.
Damit sei ein „neurobiologischer Gottesbeweis“ erfolgt. Unser Nervensystem sei
schon immer auf die Begegnung mit „transzendenten Mächten“ programmiert.
(Der Spiegel 7/2005 S.28ff.; Friedrich Wilhelm Graf in: Geyer s.u. S.143ff.)
10. Quellen und Tipps zum Weiterlesen:
·
Christian Geyer (Hrsg.): Hirnforschung
und Willensfreiheit – Zur Deutung der neuesten Experimente, edition suhrkamp
2387, Frankfurt/Main 2004
·
Zeitschrift „Gehirn & Geist“ (Verlag Spektrum
der Wissenschaft), Dossier Nr 1/2003: „Angriff auf das Menschenbild“
·
Der Spiegel 20/2005 Titelgeschichte
„Hirn, kuriere dich selbst“ S.164ff.
·
Hans Küng: Der Anfang aller Dinge –
Naturwissenschaft und Religion, Piper München 2005
·
Das Manifest - zur Lage und Zukunft der Hirnforschung
(Gehirn und Geist Heft 6/2004 S.30ff) als PDF
·
Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen
Bundestag; Hennen, Grünwald, Revermann und Sauter: „Hirnforschung“, Endbericht
zum TA-Projekt, Arbeitsbericht Nr. 117, April 2007, A4 - 204 Seiten; Bestelladresse: TAB, Neue Schönhauser
Straße 10, 10178 Berlin, buero@tab.fzk.de
Hier finden Sie im Internet eine
ausführliche Sammlung von verwendeten Zitaten und weiteren Quellen
11. Anhang
11.1. Wie steht es mit der Schuldfähigkeit von Straftätern ?
·
Der Bundesgerichtshof legt fest:
„Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie,
verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist,
sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden.“
·
Wenn ein forensischer Psychiater ein Gutachten macht,
dann prüft er bei einem Angeklagten, ob dieser denkend Kontrolle über seinen
Willen auszuüben vermochte, oder ob er zum Zeitpunkt der Tat in dieser
Tätigkeit beschädigt war. Im ersten Fall schreibt er ihm Verantwortung zu, im
anderen nicht.
(Peter Bieri, 7. Berliner Junitagung für Forensische Psychiatrie, 27.6.03)
·
Schuldfähigkeit und freier Wille;
Manche Hirnforscher gehen davon aus, dass es spezifische, genetisch oder durch
Verletzung bedingte Hirnläsionen (Schädigung, Verletzung, Störung JK) gibt,
die eine Prädisposition für verbrecherische Aktivitäten darstellen und damit
Frage nach Schuldfähigkeit aufwerfen – danach wäre jeder Mensch ohne Schädigung
verantwortliches Subjekt und schuldfähig.
ABER:
Andere Hirnforscher gehen davon aus, dass alle Menschen nicht schuldfähig sind,
weil das Gehirn ihnen trügerischerweise vorspielt, verantwortlich zu sein.
Im ersten Fall schränkt also nur das defizitär arbeitende Gehirn die
Willensfreiheit ein, im anderen ist es der Determinator schlechthin.
(Michael Hagner, in Geyer s. Quellen S250ff)
·
Roth: „Menschen können im Sinne eines persönlichen
Verschuldens nicht für das, was sie wollen oder wie sie sich entscheiden“.
Das gilt unabhängig davon, ob ihnen die einwirkenden Faktoren bewusst sind oder
nicht, ob sie schnell entscheiden oder lange hin und her überlegen.
(Hans-Ludwig Kröber, Tagung Ev. Akademie Meißen Oktober 2005)
·
Singer: (Beispiel) Eine Person begeht eine Tat,
offenbar bei klarem Bewusstsein, voll verantwortlich. Zufällig wird ein Tumor
in den Strukturen des Frontalhirns entdeckt, die für das Einhalten sozialer
Regeln zuständig sind – Ergebnis: wir üben Nachsicht in der Beurteilung der
Tat.
Der gleiche Defekt kann auch unsichtbare neuronale Ursachen haben (genetische
Dispositionen, dadurch Verschaltungen, die das Speichern sozialer Regeln
erschweren) ... die Person ist nicht verantwortlich zu machen;
„Keiner kann anders, als er ist.“
Singer fordert eine humanere Beurteilung von Mitmenschen, die das Pech hatten,
mit einem Organ volljährig zu werden, dessen funktionelle Architektur ihnen kein
angepasstes Verhalten erlaubt
(Singer in: Geyer S.30)
11.2.
Der griechische Philosoph Plato berichtet, dass sein Lehrer Sokrates NICHT aus
dem Gefängnis flieht, weil er seinem Gewissen folgen und die Gesetze des
Staates achten wollte.
Der Hirnforscher Gerhard Roth meint: Er wäre geflohen, wenn er andere Gene
gehabt und ihn seine Mutter anders erzogen hätte ...
(Der Spiegel
52/2004 S.116ff)
11.3.
Ludwig van Beethoven:
Klaviersonate Nr. 14 cis-Moll op. 27.2 „Mondscheinsonate“
·
Schallwellen bestimmter Frequenz, Amplitude und Rhythmik
in einem Raum
·
Rillen auf einer CD
·
eine musikwissenschaftliche Beschreibung der Sonate
·
eine längere Folge von Zeichen (Noten) in einem Heft
·
ein trainiertes Bewegungsmuster in den Fingern,
Händen und Armen des Pianisten
·
ein bestimmter Erregungs- und Aktivierungszustand der
Saiten eines Steinway-Flügels
·
eine Folge von Reaktionen meines Innenohres auf
Schallwellen
·
das Feuern von Neuronen in bestimmten Hirnregionen
·
das Feuern von Neuronen im Kopf des Pianisten
·
das Erinnern der Musik der Sonate im Kopf, ohne dass
außerhalb ein Ton zu hören ist
·
ein tiefer, auch zu bebildernder Gefühlszustand, der
gleichwohl das Denken anregt
·
wie geht jemand mit all dem um, der taub ist
(„Musik“)?
Welcher dieser Sachverhalte
verursacht oder erklärt alle anderen?
(nach: Hans-Ludwig Kröber,
Tagung EAMeißen 10/05)
Gewicht des Gehirns
|
1,5 kg |
Gewicht des Großhirns |
1,25 kg |
Mehrzahl der Neuronen im Gehirn entsteht während der
ersten Hälfte der Schwangerschaft |
Bildung von 250.000 Neuronen je Sekunde |
Zahl der Nervenzellen des Gehirns |
Schätzungen: 10 bis 100 Milliarden |
nach der Geburt bilden sich Fortsätze an den Nervenzellen,
an denen andere Nervenzellen über Synapsen „andocken“ können |
Entstehung von bis zu 1.800.000 Synapsen je Sekunde |
Zahl der Verknüpfungen untereinander (über Synapsen); |
Schätzung: 100 Billionen (1014) |
Dicke der Großhirnrinde |
2 bis 5 mm |
Länge der Nervenfasern im Großhirn |
500.000 km |
Anzahl der in einer Hirnzelle aktiven unterschiedlichen
Eiweißstoffe |
10.000 |
Zufluss an Informationen über die Sinnesorgane |
109 bis 1011 bit/s |
11.5.
Gehirnentwicklung
am 19. Tag nach der Befruchtung der Eizelle entwickelt sich
die so genannte Neuralplatte; erstes Nervengewebe entsteht; die Neuralplatte
ändert ihre Form, wird zur Neuralleiste, schließlich zum Neuralrohr; am 26. Tag
zeigt sich am Kopfende des Rohrs eine Verdickung; das Gehirn entsteht;
jetzt folgt in der Bildung der Nervenzellen zunächst eine
Bevölkerungs-Explosion, gefolgt von einer Völkerwanderung;
die Mehrzahl der Gehirnzellen, die wir im Leben brauchen werden, entsteht
bereits in der ersten Hälfte der Schwangerschaft, also bis zur 19. Woche;
eine Viertel bis halbe Million Neuronen werden in einer einzigen Minute
gebildet;
zur Geburt besitzen wir einige Milliarden Telefone, aber sie sind noch nicht
angeschlossen;
nach der Geburt beginnt die Hauptarbeit: Neuronen nehmen miteinander Kontakt
auf, Synapsen bilden sich (bis ins zweite Lebensjahr hinein);
in Spitzenzeiten entstehen 1,8 Millionen neue Synapsen pro Sekunde;
Verknüpfungen werden zunächst viel zu zahlreich und aufs Geratewohl angelegt
(später: Beseitigung bei Nichtgebrauch; Synapsen, die selten oder nie
aktiviert werden, verkümmern und sterben ab);
“wichtige“ und häufig benutzte Verbindungs-„Leitungen“ werden stabil isoliert
(mit Myelin verkleidet); zuerst ältere Teile des Nervensystems, die unbewusste
Prozesse wie Atmung, Kreislauf, Verdauung regeln;
eine NEUE Erkenntnis:
nach dem Ende der Kindheit durchläuft das Hirn des Menschen noch einmal einen
drastischen Wachstums- und Regenerationsschub, der dem als Embryo ähnelt;
zwischen 6. und 12. Lebensjahr entstehen nochmals neue Synapsen;
werden erneut ausgedünnt; und die überlebenden Bahnen werden mit Myelin
isoliert; das Gehirn wird bis zum 20. Lebensjahr total umgebaut (Pubertät!);
(bild der wissenschaft 2/06 S.23ff)
Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es;
du verstehst meine Gedanken von ferne.
Ich gehe oder liege, so bist du um mich
und
siehst alle meine Wege.
Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge,
das du, Herr, nicht schon wüsstest ...
Es war dir mein Gebein nicht verborgen,
als ich im Verborgenen gemacht wurde,
als ich gebildet wurde unten in der Erde.
Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war,
und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,
die noch werden sollten und von denen keiner da war. ...
11.7. Allein-Erklärungs-Anspruch der Naturwissenschaft ?
·
Die Naturwissenschaft weiß, dass es Bereiche der
Wirklichkeit gibt, für die sie nicht zuständig ist und die sie nicht erklären
kann.
·
„Das naturwissenschaftliche Weltbild kann nur ein
Teilbild der Welt sein, und es kann nur ein vorläufiges Bild sein.
(Linder Biologie; Bayerhuber/Kull: Lehrbuch für die Oberstufe, Stuttgart 1994)
·
Die Naturwissenschaft geht von Voraussetzungen aus,
die sie nicht beweisen kann (Axiome; Aktualismus: Die Naturgesetze gelten immer
und überall in gleicher Weise. Der Kosmos ist homogen und isotrop.)
·
Naturwissenschaft hat als ihren Arbeitsgegenstand das
von der Welt, was man sehen und
(an-)fassen kann, was sich zählen, wiegen und messen lässt
(manches, das auch zur Wirklichkeit gehört, schlüpft durch die Maschen dieses
Netzes – z.B. das Phänomen „Musik“).
·
Naturwissenschaftliche Erkenntnis findet nicht zu
endgültigen Wahrheiten, ihre Ergebnisse sind Modelle, Hypothesen, Theorien,
die immer vorläufig sind.
·
„Der Gegenstand der Forschung ist nicht die Natur an
sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur, und insofern
begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst.“ (Werner Heisenberg)
·
Es gibt in der Natur keinen durchgehenden
Determinismus (Zufall in der Quantenphysik, bei Mutationen in der Erbsubstanz;
Chaosphänomene)
·
Die Naturwissenschaft sagt uns, was IST, aber sie
kann nicht sagen, was sein SOLL (Ethik)
11.8. Benjamin Libet zu
seinen Versuchen (vgl. 4.2.3):
„Freien Willenshandlungen geht eine spezifische Veränderung im Gehirn
voraus, das „Bereitschaftspotential“ (BP), das 550 Millisekunden (ms) vor der
Handlung einsetzt. Menschliche Versuchspersonen wurden sich der Handlungsintention
350 bis 400 ms nach Beginn von BP bewusst, aber 200 ms vor der motorischen
Handlung. Der Willensprozess wird daher unbewusst eingeleitet. Aber die
Bewusstseinsfunktion kann den Ausgang immer noch steuern; sie kann die Handlung
durch ein Veto verbieten. Willensfreiheit ist daher nicht
ausgeschlossen. Diese Befunde stellen Beschränkungen für mögliche Ansichten
darüber dar, wie der freie Wille funktionieren könnte; er würde eine Willenshandlung
nicht einleiten, würde aber den Vollzug der Handlung steuern. Die Befunde haben
auch Implikationen für Ansichten über Schuld und Verantwortung. ...“
tatsächlich stehen etwa 100 ms zur Verfügung, in denen die Bewusstseinsfunktion
das Endergebnis noch verändern könnte (Veto) ...
„Der bewusste Wille beeinflusst also das Ergebnis des Willensprozesses, auch
wenn letzterer durch unbewusste Gehirnprozesse eingeleitet wurde. Der bewusste
Wille könnte den Prozess blockieren oder verbieten, so dass keine Bewegung
auftritt. ... auch wenn die Versuchperson in den letzten 100 bis 200 ms ihr
„Veto“ einlegte, gab es vorher ein starkes BP (die Versuchperson bereitete eine
Handlung vor);
trotz Veto-Möglichkeit kein Prozess des freien Willens; die Person würde sich
nur einer unbewusst eingeleiteten Entscheidung bewusst; würde aber ihre
Handlungen nicht bewusst steuern;
Veto hat nur Kontrollfunktion; ihm muss keine spezifische neuronale Aktivität
vorausgehen;
Die Rolle des bewussten freien Willens wäre also nicht, eine Willenshandlung
einzuleiten, sondern vielmehr zu kontrollieren, ob die Handlung stattfindet.
Wir können die unbewussten Initiativen zu Willenshandlungen als ein „Hochsprudeln“
im Gehirn verstehen. Der bewusste Wille entscheidet dann, was stattfindet und
was abgebrochen wird.
Diese Art von Rolle für den freien Willen stimmt tatsächlich mit religiösen und
ethischen Mahnungen überein. Diese befürworten gewöhnlich, dass man „sich
selbst unter Kontrolle hat“. Die meisten der zehn Gebote geben die Anweisung,
dass man etwas nicht tun soll. ...
Sind wir vollständig durch die deterministische Natur physikalischer Gesetze
bestimmt? Ein von Gott auferlegtes unausweichliches Schicksal erzeugt
ironischerweise einen ähnlichen Endeffekt.
11.9.
„Die Daten, die mit modernen bildgebenden Verfahren gewonnen
wurden, weisen darauf hin, dass sämtliche innerpsychischen Prozesse mit
neuronalen Vorgängen in bestimmten Hirnarealen einhergehen – zum Beispiel
Imagination, Empathie, das Erleben von Empfindungen und das Treffen von
Entscheidungen beziehungsweise die absichtsvolle Planung von Handlungen. Auch
wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, können wir davon ausgehen, dass
all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar
sind. Diese näher zu erforschen ist die Aufgabe der Hirnforschung in den
kommenden Jahren und Jahrzehnten. Geist und Bewusstsein – wie einzigartig sie
von uns auch empfunden werden – fügen sich also in das Naturgeschehen ein und
übersteigen es nicht. Und: Geist und Bewusstsein sind nicht vom Himmel
gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich
herausgebildet. Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis der modernen
Neurowissenschaften.“
(aus: Das Manifest. Elf
führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung; In
„Geist und Gehirn“ Heft 6, 2004)
11.10.
Wenn Sie einem
Neurobiologen begegnen, der allen Ernstes behauptet, es gebe keinen freien
Willen, dann erzählen Sie ihm doch folgende Geschichte:
Ein Mann geht in ein Restaurant. Der Kellner bringt
ihm die Karte und nach einem Meinungsaustausch über das Wetter fragt der
Kellner: „Wünschen Sie Kalbfleisch oder Schweinefleisch?“ - „Wissen Sie“, sagt
der Gast, „ich bin Neurobiologe. Ich glaube nicht an den freien Willen. Ich
werde einfach warten und sehen, was ich bestelle.“
Die Geschichte macht auf
ironische Weise darauf aufmerksam, dass auch derjenige, der die Möglichkeit des
freien Willens in Abrede stellt, indem er sich weigert, eine Entscheidung zu
treffen, seinen freien Willen ausübt – ob er will oder nicht.
(GeoWissen Heft 35, 2005; „Sünde und Moral“,
Beitrag von Wolfgang Michal: „Wir sind so frei“ - S.36ff.)
Der Streit
um den freien Willen ist nicht neu. Er wurde bereits vor 480 Jahren zwischen
dem großen humanistischen Gelehrten Erasmus von Rotterdam und Martin Luther,
dem noch jungen Reformator, ausgetragen. Erasmus von Rotterdam
veröffentlichte 1524 die Schrift „Vom freien Willen“ (de libero arbitrio), ein
Werk, mit dem der Bruch mit Luther besiegelt wurde. Während Erasmus die These
aufstellte, Gott habe dem Menschen die freie Entscheidung beispielsweise
zwischen dem Guten und dem Bösen gegeben (Argumente: Existenz der Sünde und der
10 Gebote als Hinweis auf Willensfreiheit), argumentierte Luther 1525 in der
Schrift „Vom unfreien Willen“ (de servo arbitrio, 1525) mit der „Erbsünde“
und der „Gnade
Gottes“.
Damals
spielte also im Streit, ob der Mensch einen freien Willen besitzt, das Wort
„Gehirn“, um das es heute vor allem geht, keine Rolle, wohl aber das Wort
„Gott“. Erasmus vertrat unter Berufung auf die Bibel und die übergroße Mehrheit
der Kirchenlehrer und Theologen die Auffassung, Gott habe dem Menschen einen
freien Willen gegeben, mittels dessen der Mensch sich auch ohne Gottes Gnade
dem Heil ein wenig zuwenden oder vom Heil abwenden könne und darum trage der
Mensch die Verantwortung für seinen Unglauben und sein Unheil und nicht Gott.
Luther hingegen vertrat in seiner Schrift „Vom unfreien Willen“ unter Berufung
auf die Bibel und einen einzigen Kirchenlehrer, nämlich Augustin, und einen –
noch dazu umstrittenen – Theologen, nämlich Wyclif, die Auffassung, der Mensch
könne ohne Gottes Gnade nichts tun, um sich dem Heil zuzuwenden, sondern es
liege allein an Gott, ob einem Menschen der Glaube zuteil werde oder nicht.
11.11.2 Martin Luther: „Vom verknechteten
Willen“
(189) Zusammenfassung:
Wenn wir nämlich glauben, dass es wahr ist, dass Gott alles vorherweiß und
vorausordnet, dann kann er in seinem Vorherwissen und Vorherbestimmen weder getäuscht
noch behindert werden; ferner kann nichts geschehen, wenn er selbst es nicht
will .... zugleich kann es nach dem Zeugnis der gleichen Vernunft keinen
„freien“ Willen im Menschen oder in einem Engel oder in irgendeinem Geschöpf
geben ...;
(45) dass der Glaube auf die unsichtbaren Dinge gerichtet ist ... muss alles,
was geglaubt wird, verborgen werden;
so verbirgt Gott seine ewige Gnade und sein Erbarmen unter ewigem Zorn,
Gerechtigkeit unter Ungerechtigkeit ...;
(49f) der menschliche Wille ... wie ein Reittier, wenn Gott es bestiegen hat,
will und geht es, wohin Gott will ... wenn der Teufel aufgestiegen ist, will
und geht es, wohin der Teufel will, und es liegt nicht in seinem Willen, zu
welchem Reiter es läuft, sondern die Reiter selbst kämpfen darum ...;
(55) der Mensch hat nach seinen Möglichkeiten und seinem Eigentum das Recht,
sie nach freiem Willen zu benutzen, zu tun und zu lassen; obwohl auch dies
allein durch Gottes freien Willen gelenkt wird, wohin es ihm gefällt;
in bezug auf Gott oder in Dingen, die sich auf Erlösung oder Verdammnis
beziehen, keinen freien Willen, sondern er ist Gefangener, Unterworfener und
Sklave entweder des Gotteswillens oder des Teufelswillens;
(77) Erasmus von Rotterdam, Definition: „Nun aber verstehen wir ... unter dem
Willen die Kraft des menschlichen Willens, durch die sich der Mensch an das
anpassen kann, was zum ewigen Heil führt, oder auch davon sich abwenden kann“
(137) Wenn Gott also alles bewegt und lenkt, bewegt und handelt er
notwendigerweise auch im Satan und Gottlosen ... dass Gott nicht schlecht
handeln kann, wenn er auch durch die Bösen Böses bewirkt ... er benutzt die
Bösen als Werkzeuge, die der Gewalt und Wirkung seiner Macht nicht entgehen
können;
(143) wenn er auch in seiner Weisheit dieses Böse zu seinem Ruhme und unserem
Heile gut benutzt;
(173) dass es zwei Reiche in der Welt gibt, die sich gegenseitig heftigst
bekämpfen; in dem einen herrscht Satan ... (Fürst dieser Welt) ... im anderen
Reich herrscht Christus ... in dieses werden wir nicht versetzt durch unsere
Kraft, sondern durch die Gnade Gottes
(Quellen, Ausgewählte Texte aus der Geschichte der christlichen Kirche; Martin
Luther (Vom verknechteten Willen), EVA Berlin 1964)
11.12. offene Fragen aus Veranstaltungen
·
es gibt eine Methode, bei der Patienten allein durch
ihre eigenen Hirnströme, die mittels aufgeklebter Elektroden vom Schädel abgeleitet
werden (EEG), einen Cursor über einen Computermonitor steuern und damit ...
selbständig Texte schreiben können;
ähnlich funktioniert eine andere Methode: glasummantelte Elektroden direkt in
Gehirnbereiche eingesetzt, die für Steuerung von Bewegungen zuständig sind
(in beiden Fällen bewirkt die Willensanstrengung des Patienten
energetische/materielle Veränderungen)
(Spiegel 19/2000 S.135ff)
·
Wie ist das bei plötzlicher Eingebung,
Geistesblitzen, Gedanken, die noch nie jemand gedacht hat?
·
Wie ist es mit künstlerischer oder wissenschaftlicher
Kreativität (Musik, Mathematik, Naturwissenschaften), bei der NEUES entsteht,
was noch nie gedacht oder gemacht wurde, wo es für das Ergebnis vielleicht doch
keine klare Vorgeschichte (Kausalketten) gibt?
·
Wie steht es um Theorien, die gegen die
Alltagserfahrung stehen (Quantenphysik, absolute Grenze der
Lichtgeschwindigkeit).
·
Wieso kann ich mir vornehmen, an einer Stelle, wo ich
gestern „aufgehört habe zu denken“, den Faden wieder zu suchen und Gedanken
weiter zu „spinnen“ (Nervennetze nach meinem Willen in einen bestimmten
„Schwingungszustand“ versetzen) ?
·
Ich habe einen Gegenstand verlegt, gehe an den Ort
zurück, an dem ich ihn zuletzt gehabt habe, und versetze mein Gehirn gezielt
wieder in den zurückliegenden Zustand, in der Hoffnung, dass mein Gehirn in
denselben Bahnen losläuft ...
11.13. Benedikt Grothe, Prof. für
Neurobiologie LMU München:
Publikationen über eine neue Art des Lügendetektors (USA): mit Hilfe von
bildgebenden Verfahren zur Messung neuronaler Aktivität Falschaussagen
nachweisen (90%ige Sicherheit);
fMRI (functional magnetic resonance imaging);
die sehr einfache Prämisse: Mehr (erhöhte Aktivität an einem Ort im Gehirn,
Durchblutung, Stoffwechsel) ist besser, mehr ist entscheidend;
tatsächlich aber gehen heute einige Kollegen davon aus, dass in den so
genannten „höheren Zentren“ unseres Gehirns spezifische Verarbeitungsprozesse
sogar eine Verminderung der Gesamtaktivität bewirken; dann würde gelten:
weniger ist mehr;
eine euphorisch geführte Kampagne einiger Vertreter der Neurowissenschaften
(Betonung auf „einige“), letztlich nicht seriös; sie basiert auf mangelhafter
Darstellung der Grenzen der modernen neurowissenschaftlichen Methoden, dem
weiten Interpretationsspielraum, den die durch sie gewonnen Ergebnisse
erlauben, ...
Die modernen Messmethoden ermöglichen uns faszinierende Einblicke in die
Aktivität unseres Gehirns. Derzeit sind die nicht invasiven Methoden nur
geeignet, Korrelate neuronaler Aktivität zu messen (z.B. fMRI), oder sehr
spezifische und in ihrer Bedeutung nicht wirklich verstandene Phänomene, wie
beispielsweise Synchronizität neuronaler Entladungen (z.B. EEG). Was die
gemessenen Aktivitäten aber letztlich bedeuten, wie sie mit den Gedanken und
Intentionen des Probanden in Verbindung stehen, das bleibt ungewiss.;
wir sind Beobachter, die vieles in Beziehung setzen, aber wenig verstehen
können;
(Das Parlament 2./8.1.2007 S.9)
11.14. Philipp Reemtsma:
Der höchste Ausdruck von Freiheit drückt sich in dem Luther-Satz aus:
“Hier stehe ich, ich kann nicht anders(, Gott helfe mir, Amen)“
(Spiegel 31/2007 S.117)
11.15. Wolf Singer:
Die Grundannahme der Hirnforschung ist, dass sich die Funktionen des
Gehirns naturwissenschaftlich beschreiben und erklären lassen müssen, da
neuronale Prozesse den Naturgesetzen unterworfen sind;
dies legt wiederum nahe, dass mentale Prozesse wie das Bewerten von Situationen
und das Planen des je nächsten Handlungsschrittes auf neuronalen
Wechselwirkungen beruhen, die ihrer Natur nach bestimmten Gesetzen folgen, in
der Sprache der Wissenschaft also „deterministisch“ sind: Der jeweils nächste
Zustand ist die notwendige Folge des jeweils unmittelbar vorausgegangenen.
Sollte sich das Gesamtsystem in einem Zustand befinden, für den es gleich
mögliche Folgezustände gibt, deren Eintreten ähnlich wahrscheinlich ist, so
können minimale Schwankungen der Systemdynamik den einen oder anderen Schritt
favorisieren. Es kann also wegen der unübersehbaren Zahl der Einflussfaktoren
nicht vorausgesagt werden, für welchen Schritt sich das System „entscheiden“
wird. Es kann völlig neue, bislang noch nie aufgesuchte Orte in einem
Zustandsraum mit unzähligen Dimensionen besetzen – was dann als kreativer Akt
in Erscheinung tritt. Jeder der kleinen Schritte, die aneinandergefügt die
Entwicklungsbahnen des Gesamtsystems ausmachen, beruht auf neuronalen
Wechselwirkungen, die im Prinzip festen Naturgesetzen folgen.;
Hirnforschung ... Anstoß für eine überfällige Rezeption naturwissenschaftlicher
Erkenntnisse durch die Humanwissenschaften;
(ZEIT, Beilage September 2007, zur ZEIT-Wissenedition)
11.16 Libet-Versuch --- Version 2.0 -
neue Argumente für die primäre autonome Aktivität des Gehirns !?
(Arbeitsgruppe um den
Hirnforscher John-Dylan Haynes von der Berliner Charité)
Wenn unser Bewusstsein
scheinbar autonom eine Entscheidung fällt, sind die Würfel oft längst gefallen
– im Unterbewusstsein.
Der Zeitvorsprung des Unterbewussten beträgt dabei selbst bei einfachen,
reflexhaft anmutenden Entscheidungen häufig nicht Millisekunden, wie bislang
angenommen, sondern teils mehrere Sekunden … Um die Zeitverzögerung zu messen,
hatten die Forscher Probanden gebeten, entweder mit der rechten oder mit der
linken Hand einen Schalter zu betätigen; derweil durchleuchtete ein
Magnetresonanztomograph das Gehirn. …
aus den Aktivitätsmustern ließ sich mit einer 60%igen Wahrscheinlichkeit
ableiten, welchen der beiden Knöpfe eine Person später drücken wird und zwar
bereits 7 Sekunden bevor die Person bewusst diese Entscheidung traf …
der Kernspintomograph zeigt
die Hirnaktivitäten mit einer Verzögerung von 3 bis 4 Sekunden, tatsächlich
sind die Hirnareale also bereits etwa 10 Sekunden aktiv, bevor die Entscheidung
als bewusst erlebt wird …
(Der Spiegel, Heft 16-2008, S.141)
John-Dylan
Haynes zu seinem Versuch:
„Ich interpretiere unsere Studie so: Eine Kaskade von unbewussten Prozessen
fängt an, eine Entscheidung vorzubereiten, lange bevor diese ins Bewusstsein
dringt.“
Doch wer entscheidet denn da nun? Der Mensch denkt, das Gehirn lenkt? …
“Mein Gehirn, das bin ja ich …“ Unsere Gedankentätigkeit sei mit einem Eisberg
vergleichbar. „Was uns bewusst ist, ist nur dessen Spitze. 90% liegen unter
Wasser – das sind die unbewussten Prozesse in unserem Gehirn. Aber die Spitze
gehört ja zum Eisberg dazu, beide bilden eine Einheit.“ Es sei ein
Missverständnis, zu meinen, nur weil etwas unbewusst ablaufe, sei es zufällig
und nicht begründbar. „Alle unsere Handlungen sind die Überlagerungen von
Tausenden kleinen Ursachen – Erfahrungen
in Kindheit und Beruf, unsere Kultur, die Menschen, mit denen wir uns umgeben,
die Medien, die wir zu Rate ziehen,… auch unbewusste Prozesse folgen einer
Logik. Doch diese können wir bei uns selber nicht beobachten. Und die bewussten
Gründe, die wir dafür angeben, stimmen oft nicht.“;
(DIE ZEIT, 17.4.08, S.37)
11.17.
Vater unser
im Himmel
Geheiligt
werde dein Name.
Dein
Reich komme.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.
Unser
tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib
uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe
uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn
dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
11.18.
(Seite 50) … 2004 … als sich eine Gruppe deutscher Neurowissenschaftler
(darunter Gerhard Roth und Wolf Singer) in einem „Manifest“ direkt und mit
appellativem Gestus an die Öffentlichkeit wandte …
Trotz einiger eher zurückhaltender Einschätzungen hinsichtlich des Standes der
neurowissenschaftlichen Erklärung mentaler Phänomene ist auch hier die zentrale
Botschaft, dass lebensweltliche Vorstellungen von freiem Willen, vom Ich als
steuerndem Zentrum geistiger Prozesse und intentionalen Handelns letztlich
nichts weiter als Epiphänomene oder illusionäre Begleiterscheinungen
physiologischer, naturwissenschaftlich erklärbarer Prozesse seien und deswegen
einer grundlegenden Revision unterzogen werden müssten. Die Autoren räumen zwar
ein, dass die Forschung heute noch weit davon entfernt ist, die Frage nach der
Entstehung von Bewusstsein oder nach dem Status unserer Vorstellungen von
freiem Willen letztgültig beantworten zu können. Langfristig werde die Forschung
aber zu einer vollständigen biologischen Erklärung des Geistes führen, d.h.
alle geistigen Prozesse wären (dann) auf materielle Vorgänge im Gehirn
rückführbar.
Solche Thesen werden bei Weitem nicht von allen Neurowissenschaftlern
mitgetragen. …
(Seite 180) Fazit und Ausblick …
bleiben Thesen etwa zum illusionären Charakter lebensweltlicher Vorstellungen
von Willensfreiheit … bisher empirisch und theoretisch unzureichend fundiert.
Darüber, ob und wie sich mentale Prozesse kausal neurowissenschaftlich erklären
lassen und sich Kultur sozusagen auf Natur zurückführen lässt, kann bis heute
nur spekuliert werden. Wissenschaftlich unbestritten ist, dass der Geist im
Gehirn durch neuronale Prozesse realisiert wird und dass es keine davon
unterschiedene geistige Substanz gibt.
(Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag; Hennen,
Grünwald, Revermann und Sauter: „Hirnforschung“, Endbericht zum TA-Projekt,
Arbeitsbericht Nr. 117, April 2007)
11.19.
Freiheitsbegriff bei Kant …
Dieser stimmt der Annahme, dass jedes Ereignis verursacht ist, zu, leitet
daraus aber nicht die Unmöglichkeit von Freiheit ab. Dem Menschen steht die
Möglichkeit offen, sein Handeln an (technischen, pragmatischen und moralischen)
Gesetzen auszurichten. Von Willensfreiheit spricht Kant insofern, als der
Handelnde sich diese Gesetze selbst gibt bzw. sich entschließt, diese zur
Maxime seines Handelns zu machen, z.B. nicht zu lügen, auch wenn er sich selbst
damit schaden könnte. Entscheidend für das Vorliegen von Freiheit ist dabei
nicht, ob der Handelnde diesem moralischen Gesetz tatsächlich folgt (oder nicht
doch um eines Vorteils willen dem gesetz zuwider handelt). Entscheidend ist das
Wissen darum, dass es ihm prinzipiell möglich ist, dem moralischen Gesetz
entsprechend zu handeln. …
(Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag; Hennen,
Grünwald, Revermann und Sauter: „Hirnforschung“, Endbericht zum TA-Projekt,
Arbeitsbericht Nr. 117, April 2007, S.65)
11.20.
Habermas …
stellt dem naturwissenschaftlichen Modell der Kausalität als „Raum der
Ursachen“ den „Raum der Gründe“ gegenüber: Menschen handeln auf der Grundlage
von Überlegungen, indem sie Gründe erwägen und sich selbst an das Ergebnis
ihrer Überlegungen binden. …
Diese Freiheit ist keine unbedingte, sondern bedingt (oder bestimmt) durch den
dem Handelnden zur Verfügung stehenden Möglichkeitsraum, der durch
„Fähigkeiten, Charakter und Umstände begrenzt“ ist. Diese Bedingungen seines
Handelns reflektiert der Handelnde als Gründe und motiviert so seine
Entscheidung. In diesem Sinne ist Bedingtheit des Handelns (durch als Gründe
erwogene Aspekte der Handlungssituation) geradezu eine Voraussetzung freien
Handelns.
Gründe binden den Handelnden durch Überzeugung. …
Habermas sieht hier zwei miteinander unvereinbare Perspektiven auf die Realität
am Werk: Die Perspektive des Teilnehmers, in der man sich über die Gründe und
Motive des Handelns verständigen kann und damit nachvollzieht, warum der
Handelnde so und nicht anders entschieden hat, und die naturwissenschaftliche
Beobachterperspektive, die Vorgänge in der Welt nach dem Prinzip von Ursache
und Wirkung erklärt, dabei aber „Gründe“ nicht in den Blick nehmen kann, weil
diese sozusagen in der naturwissenschaftlichen Sprache nicht abbildbar sind.
Habermas geht von einem methodischen
Dualismus dieser beiden nicht aufeinander reduzierbaren Perspektiven aus,
nicht von einem Dualismus zweier Substanzen Geist und Materie ...
(Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag; Hennen,
Grünwald, Revermann und Sauter: „Hirnforschung“, Endbericht zum TA-Projekt,
Arbeitsbericht Nr. 117, April 2007, S.66ff.)
11.21.
Ich glaube nicht an die
Freiheit des Willens. Schopenhauers Wort „Der Mensch kann wohl tun, was er
will, aber er kann nicht wollen, was er will“, begleitet mich in allen
Lebenslagen und versöhnt mich mit den Handlungen der Menschen, auch wenn sie
mir recht schmerzlich sind. Diese Erkenntnis von der Unfreiheit des Willens
schützt mich davor, mich selbst und die Mitmenschen als handelnde und
urteilende Individuen allzu ernst zu nehmen und den guten Humor zu verlieren.
(Albert Einstein, in „Mein
Glaubensbekenntnis“)
Der freie Wille: Vor der
Vernunft ist er nicht zu erweisen, aber doch muss man ihn fordern, sonst hört
alle Selbstverantwortung auf.
(Wilhelm Busch, in „Spruchweisheiten und
Gedichte“)
Wir klagen die Natur nicht
als unmoralisch an, wenn sie uns ein Donnerwetter schickt und uns nass macht:
Warum nennen wir einen Menschen unmoralisch? Weil wir hier einen willkürlich waltenden,
freien Willen, dort Notwendigkeit annehmen. Aber diese Unterscheidung ist ein
Irrtum.
(Friedrich Nietzsche, in „Menschliches,
Allzumenschliches“)
Wäre der Wille eines jeden
Menschen frei, das heißt, könnte jeder Mensch so handeln, wie er gerade will,
dann würde die Geschichte aus einer Reihe von zusammenhanglosen Zufälligkeiten
bestehen.
(Leo Tolstoi, in „Krieg und Frieden)
Hören wir auf, von Freiheit zu reden. Reden wir von Motiven.
(Klaus Jürgen Grün)
(Freie Presse Chemnitz, 2.1.2009 S.B2)
11.22. Trügerisches Bild
Um die Grenzen bildgebender
Verfahren in der Medizin aufzuzeigen, hat Craig Bennet von der University of
California einen toten Lachs in einen Tomografen gesteckt. um mittels fMRT
dessen Hirnaktivitäten zu messen. Streng nach den Regeln des Verfahrens zeigte
er dem toten Fisch in der Röhre Fotos unterschiedlicher Menschen und befragte
ihn zu seinen Gefühlen. Die Scans des Fischhirns hätte man tatsächlich als
emotionale Reaktion des – toten – Fischs interpretieren können. Der Autor warnt
vor falsch positiven Ergebnissen der Hirnscans.
(Die Zeit, 24.9.09 S.46)