zur startseite

weitere infos glaube und naturwissenschaft

weitere Hefte der Reihe „Schönberger Blätter

 

 

 

Schönberger BlätterNr. 37

Ernst Haeckel im Originalton

Zitate aus seinen Büchern „Die Lebenswunder“ und „Die Welträthsel

© Joachim Krause 2012

 

HIER die unten ausgewählten Zitate als PDF-Datei

 

 

 

 

 

 

Ernst Haeckel: Die Lebenswunder, Volksausgabe,
Alfred Kröner Verlag Stuttgart, 1904-1906)

 

HIER der gesamte Text des Buches „Die Weltwunder“ als PDF gescannt: http://caliban.mpipz.mpg.de/haeckel/lebenswunder/index.html

 

 

·         (Vorwort 1904, S.III f.) jene tiefen und unversöhnlichen Gegensätze zwischen Wissen und Glauben, zwischen wahrer Naturerkenntnis und angeblicher „Offenbarung“;
…. ist eine Vermittlung nicht möglich: Entweder Naturerkenntnis und Erfahrung – oder Glaubensdichtung und Offenbarung!;

·         (Seite 1) … meine monistische Erkenntnistheorie ... als die beiden einzigen sicheren Wege hatte ich „Erfahrung und Denken – oder Empirie und Spekulation“ bezeichnet und dabei betont, dass diese beiden gleichberechtigten Erkenntnismethoden sich gegenseitig ergänzen, dass sie allein durch die Vernunft uns zur Wahrheit führen. Dagegen hatte ich zwei andere, vielbetretene Wege, die angeblich direkt zur tieferen Erkenntnis leiten, nämlich „Gemüt und Offenbarung“, als irreführend zurückgewiesen; beide widerstreiten der „reinen Vernunft“, indem sie den Glauben an Wunder verlangen.;
(2ff) (Gustav Kirchhoff, Entdecker der Spektralanalyse): „Die Aufgabe der Wissenschaft ist, die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen zu beschreiben, und zwar vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben.“. Diese Weisung hat nur dann einen Sinn, wenn man dem Begriffe „Beschreibung“ eine ganz andere Bedeutung unterlegt, als üblich ist, d.h. wenn die „vollständige Beschreibung“ zugleich eine Erklärung enthält. Denn alle wahre Wissenschaft geht seit Jahrtausenden nicht auf einfache Kenntnis durch Beschreibung der einzelnen Tatsachen, sondern auf deren Erklärung durch die bewirkenden Ursachen. Freilich bleibt deren Erkenntnis immer mehr oder weniger unvollkommen oder selbst hypothetisch ...
Das Streben nach möglichster Genauigkeit und Objektivität der Beobachtung lässt vielfach den wichtigen Anteil übersehen, den die subjektive Geistestätigkeit des Beobachters an ihrem Ergebnis hat; das Urteilen und Denken seines Gehirns wird gering geschätzt gegenüber der Schärfe und Klarheit seines Auges. Vielfach ist das Mittel der Erkenntnis zum Zweck geworden. Bei der Widergabe des Beobachteten wird häufig die objektive Photographie, die alle Teile des Bildes gleichmäßig wiedergibt, höher geschätzt als die subjektive Zeichnung, die nur das Wesentliche hervorhebt und das Unwesentliche fortlässt; und doch ist in vielen Fällen ... die letztere viel wichtiger und richtiger als die erstere. ...
In dem modernen Kampfe um die Deszendenztheorie ist nicht selten der Versuch unternommen worden, die Entstehung neuer Arten experimentell zu beweisen oder zu widerlegen. Dabei wurde ganz vergessen, dass der Begriff der Art oder Spezies nur relativ ist und dass kein Naturforscher eine befriedigende absolute Definition dieses Begriffes geben kann. Nicht minder verkehrt ist es, das Experiment auf historische Probleme anwenden zu wollen, wo alle Vorbedingungen für sein Gelingen fehlen.
Geschichte und Tradition.
Die Sicherheit der Erkenntnis, die wir empirisch durch Beobachtung und Experiment gewinnen, ist direkt nur möglich in der Gegenwart. Dagegen sind wir bei der Erforschung der Vergangenheit auf andere Methoden der Erkenntnis angewiesen, die minder zuverlässig und zugänglich sind, auf Geschichte und Tradition. ...
Trotzdem bleiben hier stets unzählige Pforten des Irrtums offen, da diese Urkunden meist unvollständig sind, und da ihre subjektive Deutung oft ebenso zweifelhaft ist wie ihr objektiver Wahrheitsgehalt.

·         (156) … die Unmöglichkeit, historische Ereignisse überhaupt „exakt“ zu ergründen …

·         (4) nachdem Darwin (1859) der von Lamarck 50 Jahre früher aufgestellten Deszendenztheorie durch seine Selektionstheorie das sichere Fundament gegeben hatte …

·         (5ff) Kant behauptete bekanntlich, dass bloß ein Teil unserer Erkenntnisse empirisch sei und a posteriori, d.h. durch Erfahrung, gewonnen werde, dass dagegen ein anderer Teil der Erkenntnis (z.B. die mathematischen Lehrsätze) a priori, d.h. durch das Schlussvermögen der „Reinen Vernunft“, unabhängig von aller Erfahrung entstehe. Dieser Irrtum führte dann weiter zu der Behauptung, dass die Anfangsgründe der Naturwissenschaft metaphysisch seien und dass der Mensch mittelst der angeborenen „Anschauungsformen: Raum und Zeit“ zwar einen Teil der Erscheinungen zu erkennen, das dahinter steckenden „Ding an sich“ aber nicht zu begreifen vermöge. ... Kants kritischer „Erkenntnistheorie“ fehlten die physiologischen und phylogenetischen Grundlagen, die erst 60 Jahre nach seinem Tode durch Darwins Reform der Entwicklungslehre und durch die Entdeckungen der Gehirnphysiologie gewonnen wurden. Er betrachtete die Seele des Menschen mit ihren angeborenen Eigenschaften der Vernunft als ein fertig gegebenes Wesen und fragte gar nicht nach ihrer historischen Herkunft ... er dachte nicht daran, dass diese Seele sich phylogenetisch aus der Seele der nächstverwandten Säugetiere entwickelt haben könne. Die wunderbare Fähigkeit zu Erkenntnissen a priori ist aber ursprünglich entstanden durch Vererbung von Gehirnstrukturen, die bei den Vertebraten- Ahnen des Menschen langsam und stufenweise (durch Anpassung an synthetische Verknüpfung von Erfahrungen, von Erkenntnissen a posteriori) erworben wurden. Auch die absolut sicheren Erkenntnisse der Mathematik und Physik, die Kant für synthetische Urteile a priori erklärt, sind ursprünglich durch die phyletische Entwicklung der Urteilskraft entstanden und auf stetig wiederholte Erfahrungen und darauf gegründete Schlüsse a posteriori zurückzuführen.;

·         (18) Die „moderne Maschinentheorie des Lebens“ … verlangt für die Entstehung des Organismus ebenso einen zweckmäßig bauenden „Maschineningenieur“, wie er tatsächlich für die Entstehung und Wirkung der Maschine im „vernünftigen Menschen“ gegeben ist. Mit besonderer Vorliebe wird dabei der Organismus mit einer Taschenuhr oder mit einer Lokomotive verglichen. Für den geregelten Gang eines solchen komplizierten Kunstwerks ist die genaueste Berechnung des Zusammenwirkens aller Teile erforderlich, und die geringste Verletzung eines kleinen Rädchens genügt, um den Gang der Uhr zu zerstören. Dieser Vergleich ist namentlich von Louis Agassiz (1858) ausgebeutet worden, der in jeder Tier- und Pflanzenart einen „verkörperten Schöpfungsgedanken Gottes“ findet. In neuester Zeit hat ihn besonders Reinke oft angewendet, um seinen theosophischen Dualismus zu stützen; er bezeichnet „Gott“ oder die „Weltseele“ mit Vorliebe als die „kosmische Intelligenz“, schreibt aber diesem mystischen immateriellen Wesen ganz dieselben Eigenschaften zu, welche man im Schulunterricht und in schönen Predigten dem „lieben Gott“ als „Schöpfer Himmels und der Erde“ andichtet. Die menschliche Intelligenz, die der Uhrmacher auf das verwickelte Räderwerk der Uhr verwendet hat, vergleicht Reinke mit der „kosmischen Intelligenz“, die Gott der Schöpfer in den Organismus gelegt hat, und betont dabei besonders die Unmöglichkeit, ihre zweckmäßige Organisation aus ihrer materiellen Beschaffenheit ableiten zu können.

·         (21) Als um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Physiologie sich selbständig zu gestalten begann, erklärte sie die Eigentümlichkeiten des organischen Lebens durch die Annahme einer besonderen Lebenskraft (vis vitalis);

·         (22) Die Deszendenztheorie von Lamarck (1809) wurde ebenso totgeschwiegen wie sein fundamentaler Grundsatz: „Das Leben ist nur ein verwickeltes physikalisches Problem.“

·         (23) Drittes Kapitel. Wunder.
Unter „Wunder“ versteht man im gewöhnlichen Sprachgebrauch sehr verschiedene Vorstellungen. Wir nennen eine Erscheinung wunderbar, wenn wir sie nicht erklären und ihre Ursachen nicht begreifen können. Wir nennen aber ein Naturobjekt oder ein Kunstwerk wunderschön oder wundervoll, wenn es außerordentlich schön oder großartig ist, wenn es die gewohnten Grenzen unseres Vorstellungskreises überschreitet. Nicht in diesem übertragenen relativen Begriff sprechen wir hier vom Wunder, sondern in dem absoluten Sinne, in welchem eine Erscheinung die Grenzen der Naturgesetze überschreitet und für die menschliche Vernunft überhaupt unerklärbar ist. Der Begriff des Wunders fällt hier mit dem des Übernatürlichen oder Transzendenten zusammen. Die Naturerscheinungen können wir durch die Vernunft erkennen und unserem Wissen unterwerfen; das übernatürliche Wunder können wir nur glauben.

·         (25) Die Verstandestätigkeit der Wilden bewegt sich in den engsten Grenzen, so dass man von der Vernunft bei ihnen ebensowenig (- oder ebensoviel-) sprechen kann als bei den intelligentesten Tieren. …
dass auch unsere eigenen Vorfahren, vor zehntausend Jahren und darüber hinaus ... niedere Wilde waren …

·         (27f) Wunderglaube von Plato.
… gelang es Plato und seinem großen Schüler Aristoteles (im 4. Jahrhundert v. Chr.), diesen Dualismus, den Gegensatz von Physik und Metaphysik, zur weitesten Anerkennung zu bringen. Die Physik beschäftigt sich auf Grund der Erfahrung mit des Erscheinungen der Dinge (Phaenomena), die Metaphysik hingegen mit dem wahren Wesen der Dinge, das hinter den Erscheinungen verborgen ist (Noumena). Diese inneren Wesenheiten sind transzendent, unzugänglich für die empirische Forschung; sie bilden die metaphysische Welt der ewigen Ideen, die von der realen Welt unabhängig ist und in Gott, als dem Absoluten, ihre höchste Einheit findet. Die Seele, die als ewige Idee zeitweilig in dem vergänglichen menschlichen Körper lebt, ist unsterblich. Dieser konsequente Dualismus im Sinne von Plato hat die scharfe Sonderung  des Diesseits vom Jenseits, des Leibes von der Seele, der Welt von Gott, als wichtigstes Merkmal. Sie wurde bald deshalb überaus einflussreich, weil sein Schüler Aristoteles sie mit seiner empirischen, auf reiche naturwissenschaftliche Erfahrung gegründeten Metaphysik verband … besonders aber deshalb, weil bald das Christentum (400 Jahre später), in diesem Dualismus eine willkommene philosophische Ergänzung seiner eigenen transzendenten Richtung fand. …
In der Philosophie (des Mittelalters) blieb ganz überwiegend die Autorität des Aristoteles; sie wurde von der herrschenden christlichen Kirche ihren Zwecken dienstbar gemacht. …
Allen Glaubenssätzen voran standen die drei großen Zentraldogmen der Metaphysik, die zuerst Plato in ihrer ganzen Bedeutung geltend gemacht hatte: der persönliche Gott als Weltschöpfer, die Unsterblichkeit der Seele und der freie Wille des Menschen.

·         (33) Die Verdienste von Lamarck, dem eigentlichen Begründer der Deszendenztheorie …

·         (35) Diese Ansicht wird auch gegenwärtig von den meisten Physikern und Chemikern festgehalten; sie betrachten die Massenanziehung (Gravitation) und die Wahlverwandtschaft (Chemismus) als reien Mechanik der Atome und diese als allgemeinen Urgrund aller Erscheinungen; sie wollen aber nicht zugeben, dass jene Bewegungen notwendig eine Art (unbewusster) Empfindungen voraussetzen. … dass sie von einer solchen „Beseelung“ der Atome nichts wissen wollen. Nach meiner Überzeugung ist dieselbe eine notwendige Annahme für die Erklärung der einfachsten physikalischen und chemischen Prozesse

·         (36) Naturalismus.
Unser Monismus …
In dem streng monistischen Sinne von Spinoza fallen für uns die Begriffe von Gott und Natur zusammen (Deus sive Natura). Ob es jenseits der Natur ein Gebiet des „Übernatürlichen“ oder eine „Geisterreich“ gibt, wissen wir nicht.

·         (37) Unsere Einbildungskraft strebt beim höheren Kulturmenschen in Kunst und Wissenschaft nach der Produktion einheitlicher Gebilde, und wenn sie bei deren Herstellung durch Assozion von Vorstellungen auf Lücken stößt, so sucht sie diese durch Neubildungen zu auszufüllen. Solche selbständige, die Lücken der Vorstellungskreise ergänzende Produkte des Phronema nennen wir Hypothesen, wenn sie mit den erfahrungsmäßig festgestellten Tatsachen logisch vereinbar sind, dagegen Mythen, wenn sie diesen Tatsachen widersprechen

·         (37) Der rohe Naturmensch, wie er uns heute noch im Wedda und Australneger entgegentritt, steht in psychologischer Beziehung dem Affen näher als dem hochentwickelten Kulturmenschen.

·         (38) Metaphysik.
… Wenn man den Begriff der Physik auf die empirische Erforschung der Erscheinungen (durch Beobachtung und Versuch) beschränkt, so kann schon jede Hypothese, die deren Lücken ausfüllt, und jede Theorie derselben als Metaphysik betrachtet werden. In diesem Sinne sind bereits die unentbehrlichen Theorien der Physik (z.B. die Annahme, dass die Substanzen aus Molekülen und diese aus Atomen bestehen) metaphysisch; ebenso d unsere Annahme, dass alle Substanz nicht nur Ausdehnung (Materie), sondern auch Empfindung besitzt. Diese monistische Metaphysik …

·         (39) Realismus.
Wie alle Naturwissenschaft, so ist auch deren biologischer Teil, unsere Lebenskunde, realistisch; d.h sie betrachtet ihre Objekte, die Organismen, als wirklich existierende Dinge, deren Eigenschaften uns durch unsere Sinne (Sensorium) und unsere Denkorgane (Phronema) bis zu einem gewissen Grade erkennbar sind. Dabei sind wir uns kritisch bewusst, dass beiderlei Erkenntnisorgane – also auch die durch sie gewonnene Erkenntnis selbst – unvollkommen sind und dass vielleicht noch ganz andere Eigenschaften der Organismen existieren, die uns unzugänglich sind.

·         (49) Selbstmord.
… Für den gläubigen Theisten freilich, der das individuelle Leben als ein „gnädiges Geschenk des lieben Gottes“ betrachtet, kann es zweifelhaft sein, ob er dasselbe verschmähen oder gar zurückgeben darf; - obwohl der freiwillige Opfertod für einen anderen Menschen als hohe Tugend gepriesen wird! …
Die bedeutungsvollen Fortschritte der Befruchtungslehre in den letzten dreißig Jahren haben die sichere Erkenntnis festgestellt, dass das individuelle Leben des Menschen, wie aller anderen Wirbeltiere, mit dem Momente beginnt, in welchem die Eizelle der Mutter mit der Spermazelle des Vaters zusammentrifft; - der blinde Zufall spielt dabei dieselbe gewaltige Rolle wie bei den wichtigsten anderen Lebensverhältnissen …

·         (50ff) Der moderne „Kulturstaat“ hat die allgemeine Wehrpflicht eingeführt; er verlangt jetzt von jedem Staatsbürger, dass er auf Kommando sein Leben für das Vaterland lässt, und dabei im Kriege aus irgendwelchen politischen Gründen möglichst viel Menschenleben des „Feindes“ vernichtet (- eine treffende Illustration zu den Worten des Evangeliums: „Lieber eure Feinde!“ -). Aber derselbe Kulturstaat gewährt nicht einmal allen seinen Staatsbürgern die Mittel zur menschenwürdigen Existenz und zur freien geistigen Entwicklung der Individualität, - ja nicht einmal das „Recht zur Arbeit“, durch die er seine und seiner Familie Existenz fristen kann. …
Die Irrenhäuser nehmen alljährlich an Zahl und Umfang zu; allenthalben entstehen Sanatorien, in denen der gehetzte Kulturmensch Zuflucht und Heilung von seinen Übeln sucht. Viele von diesen Übeln sind völlig unheilbar, und viele Kranke gehen dem sicheren Tode unter namenlosen Qualen entgegen. Sehr viele von diesen armen Elenden warten mit Sehnsucht auf ihre „Erlösung vom Übel“ und sehnen das Ende ihres qualvollen Lebens herbei; da erhebt sich die wichtige Frage, ob wir als mitfühlende Menschen berechtigt sind, ihren Wunsch zu erfüllen und ihre Leiden durch einen schmerzlosen Tod abzukürzen ...
Ich gehe von meiner persönlichen Ansicht aus, dass das Mitleid (Sympathie) nicht nur eine der edelsten und schönsten Gehirnfunktionen des Menschen, sondern auch eine der ersten und wichtigsten sozialen Bedingungen für das gesellige Leben der höheren Tiere ist. ...
… sollte man das hehre Gebot der Nächstenliebe nicht auf den Menschen allein beschränken, sondern auch auf seine „nächsten Verwandten“, die höheren Wirbeltiere, ausdehnen, und überhaupt auf alle Tiere, bei denen wir auf Grund ihrer Gehirnorganisation bewusste Empfindung, das Bewusstsein von Lust uns Schmerz annehmen dürfen. ...
Treue Hunde und edle Pferde, mit denen wir jahrelang zusammen gelebt haben, und die wir lieben, töten wir mit Recht, wenn sie in hohem Alter hoffnungslos erkrankt sind und von schmerzlichen Leiden gepeinigt werden. Ebenso haben wir das Recht oder, wenn man will: die Pflicht, den schweren Leiden unserer Mitmenschen ein Ende zu bereiten, wenn schwere Krankheit ohne Hoffung auf Besserung ihnen die Existenz unerträglich macht, und wenn sie uns selbst um „Erlösung vom Übel“ bitten. ... Viele erfahrene Ärzte, die ihren schweren Beruf mit reiner Menschenliebe und frei von dogmatischen Vorurteilen ausüben, tragen kein Bedenken, die schweren Leiden von hoffnungslosen Kranken auf deren Wunsch durch eine Gabe Morphium oder Zyankalium abzukürzen; tatsächlich wird ja vielfach durch einen solchen plötzlichen schmerzlosen Tod nicht nur dem Notleidenden selbst, sondern auch seiner mitleidenden Familie der größte Dienst erwiesen. Andere Ärzte hingegen, und wohl die meisten Juristen, sind der Ansicht, dass diese Handlung des Mitleids nicht erlaubt oder sogar ein Verbrechen sei: der Arzt habe die Pflicht, unter allen Umständen das Menschenleben so lange als möglich zu erhalten. Warum? …
Lebenserhaltung.
Als ein traditionelles Dogma müssen wir auch die weitverbreitete Meinung beurteilen, dass der Mensch unter allen Umständen verpflichtet sei, das Leben zu erhalten und zu verlängern, auch wenn dasselbe gänzlich wertlos, ja für den schwer Leidenden und hoffnungslos Kranken nur eine Quelle der Pein und der Schmerzen, für seine Angehörigen ein Anlass ständiger Sorgen und Mitleiden ist. Hunderttausende von unheilbar Kranken, namentlich Geisteskranke, Aussätzige, Krebskranke usw., werden in unseren modernen Kulturstaaten künstlich am Leben erhalten und ihre beständigen Qualen sorgfältig verlängert, ohne irgendeinen Nutzen für die selbst oder für die Gesamtheit. Unter der Gesamtzahl der Bevölkerung von Europa befinden sich mindestens zwei Millionen Geisteskranke, unter diesen mehr als 200000 Unheilbare. Welche ungeheure Summe von Schmerz und Leid bedeuten diese entsetzlichen Zahlen für die unglücklichen Kranken selbst, welche namenlose Fülle von Trauer und Sorge für ihre Familien, welche Verluste an Privatvermögen und Staatskosten für die Gesamtheit! Wie viel von diesen Schmerzen und Verlusten könnte gespart werden, wenn man sich endlich entschließen wollte, die ganz Unheilbaren durch eine Morphiumgabe von ihren namenlosen Qualen zu befreien! Natürlich dürfte dieser Akt des Mitleids und der Vernunft nicht dem Belieben eines einzelnen Arztes anheimgestellt werden, sondern müsste auf Beschluss einer Kommission von zuverlässigen und gewissenhaften Ärzten erfolgen. Ebenso müsste auch bei anderen unheilbaren und schwer leidenden Kranken (z.B. Krebskranken) die „Erlösung vom Übel“ nur dann durch eine Dosis schmerzlos und rasch wirkenden Giftes erfolgen, wenn sie ausdrücklich auf deren eigenen, eventuell gerichtlich protokollierten Wunsch geschähe und durch eine offizielle Kommission ausgeführt würde.

·         (131) Geist des Embryo.
… Beseelt ist schon die Eizelle der Mutter und die Spermazelle des Vaters; eine individuelle Seele besitz schon die Stammzelle (Cytula), die nach erfolgter Befruchtung durch die Verschmelzung beider Elternzellen entstanden ist.

·         (137ff) Fünfzehntes Kapitel. Lebensursprung.
… a) Das Wunder des Lebensursprungs (Creatismus);
gründet auf der Schöpfungsgeschichte von Moses, wie sie im ersten Kapitel der Genesis geschrieben steht
b) Agnostizismus – Resignation auf das Problem des Lebensursprungs.
… diejenigen Naturforscher, welche die Frage vom Lebensursprung für unlösbar oder transzendent halten. als Vertreter dieser agnostischen Ansicht können Darwin und Virchow genannt werden; sie halten die Entstehung der ersten Organismen für eine Frage, von der wir nichts wissen und wissen können. So erklärt Darwin in seinem Hauptwerke 1859, das er „nichts mit dem Ursprunge der geistigen Grundkräfte noch mit dem Ursprung des Lebens selbst zu schaffen habe“. ...
sehr zahlreiche und angesehene Naturforscher sind zwar mehr oder weniger der Überzeugung, dass auch der Ursprung des Lebens ein „Naturprozess“ ist, glauben aber, dass wir keine Mittel zu dessen Erkenntnis besitzen
c) Dualistische Äternal-Hypothesen (Annahme der Ewigkeit der Zelle).
Richter … 1865 … Hypothese … dass der unendliche Weltraum überall von Keimen organischer Wesen, ebenso wie von anorganischen Weltkörpern erfüllt sei;
Helmholtz … 1884 … meint, dass die im Weltraum umhertreibenden Meteore Keime von Organismen eingeschlossen enthalten könnten;
d) Autogonie-Hypothese (Haeckel);
chemischer Prozess der Plasmodomie ... im Beginne des Lebens von selbst eingetreten ist, d.h. als ein katalytischer (oder der Katalyse analoger) Prozess (Einzelheiten Seite 145 JK)

·         (147) Sechzehntes Kapitel. Lebensentwicklung.
Evolutismus (oder Genetik) …
dass der biogenetische Prozess (- d.h. die Entwicklung des organischen Lebens auf der Erde vom Beginn bis zur Gegenwart -) mehr als hundert Millionen Jahre umfasst …
Wenn wir nun auch annehmen, dass auf vielen anderen Weltkörpern unter denselben Bedingungen wie auf unserer Erde sich in ähnlicher Weise organisches Leben entwickelt …

·         (148) Der Kampf ums Dasein selbst ist ein mechanischer Prozess, in welchem die Naturzüchtung das Missverhältnis zwischen der Überzahl der Keime und der beschränkten Existenzmöglichkeit der aktuellen Individuen, im Verein mit der Variabilität der Spezies, benutzt, um ohne vorbedachten Zweck mechanisch neue zweckmäßige Einrichtungen hervorzubringen.

·         (149) Lamarck erklärt die langsame und allmählich Umbildung der organischen Arten durch die Wechselwirkung von zwei physiologischen Funktionen, Anpassung und Vererbung. Die Anpassung (Veränderung der Organe durch Übung) beruht auf ihrer Fortbildung durch Gebrauch, Rückbildung durch Nichtgebrauch; die Vererbung bewirkt die Fortpflanzung der neuen, so erworbenen Eigenschaften auf die Nachkommen.

·         (149) trat diesem metaphysischen Kreatismus der physikalische Evolutismus gegenüber …

·         (151) dass das Karyoplasma des Zellkerns die Funktion der Fortpflanzung und Vererbung besorgt. Diese Ansicht hatte ich zuerst 1866 ... ausgesprochen ...später genauere empirische Bestätigung durch ... Strasburger , Hertwig u.a. ... Die verwickelten feineren Verhältnisse, welche diese Forscher bei der Zellteilung aufdeckten, führten zu der Annahme, dass der färbbare Bestandteil des Zellkerns, das „Chromatin“, die eigentliche Erbmasse sei, das materielle Substrat der „Vererbungsenergie“. Weismann fügte nun zu dieser Erkenntnis die Annahme, dass dieses Keimplasma vollkommen von den übrigen Substanzen der Zelle gesondert lebe, und dass letztere (- das Somaplasma -) die durch Anpassung erworbenen neuen Eigenschaften nicht auf das Keimplasma übertragen können; gerade auf dieser Annahme beruht seine Opposition gegen die progressive Vererbung oder die „Vererbung erworbener Eigenschaften“. Die Verteidiger der letzteren, zu denen ich gehöre, nehmen an, .... dass eine teilweise Mischung beider Plasmaarten eintritt.

·         (151) Mutation.
(bedeutet bei Haeckel noch Makro-Mutation, d.h. Mechanismus für plötzliches Auftreten neuer Arten JK)

·         (153) Darwin war von der hohen Bedeutung der „Vererbung erworbener Eigenschaften“ und insbesondere von der Erblichkeit funktioneller Anpassungen ebenso fest überzeugt wie Lamarck und wie ich selbst; er schrieb ihnen nur einen beschränkteren Wirkungskreis zu als Lamarck.

·         (155) Die Ontogenesis ist eine kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenesis, bedingt durch die physiologischen Funktionen der Vererbung und Anpassung. …
Kern meines biogenetischen Grundsatzes …
Biogenetisches Grundgesetz.
Das umfassende “Grundgesetz der organischen Entwicklung, das ich 1866 … aufgestellt habe “ ...
ist der Anspruch eingeschlossen, dass dasselbe ganz allgemeine Gültigkeit besitzt ... dass diese immer eine teilweise und abgekürzte Widerholung des ursprünglichen phyletischen Entwicklungsganges ist...

·         (157ff) Siebzehntes Kapitel. Lebenswert.
Unser Monismus überzeugt uns, dass das Universum seinen Namen wirklich verdient und ein allumfassendes, einheitliches Ganzes darstellt -, gleichviel, ob man dasselbe „Gott“ oder „Natur“ nennt.
Lebenszweck.
Jedes lebende Wesen ist sich selbst Zweck … Die alte anthropistische Auffassung, dass die Tiere und Pflanzen „zum Nutzen des Menschen erschaffen“, dass überhaupt die Beziehungen der Organismen zu einander durch „planvolle Schöpfung“ geregelt seien, findet heute in wissenschaftlichen Kreisen keinen Glauben mehr. …
Jede besondere Lebensform, ebenso jedes Individuum wie jede Spezies, ist also nur eine biologische Episode, eine vorübergehende Erscheinungsform im Wechsel des Lebens. …
sind vielfach falsche teleologische Schlüsse gezogen worden. Indem man die jüngste und höchst entwickelte Form jeder Stammreihe als deren vorbedachtes Ziel hinstellte, erblickte man in ihren unvollkommenen Vorläufern und Ahnen „Vorbereitungsstufen“ zur Erreichung dieses Zieles ...
Obgleich die Stammesgeschichte der Pflanzen und Tiere, ebenso wie die Kulturgeschichte des Menschen, im großen und ganzen eine aufsteigende Stufenleiter darstellt und sich von niederen zu höheren Stufen erhebt, so finden doch im einzelnen vielfach Schwankungen derselben statt.

·         (159ff) Lebenswert der Menschenrassen.
Obgleich die bedeutenden Unterschiede in dem Geistesleben und Kulturzustande der höheren und niederen Menschenrasen allgemein bekannt sind, werden sie doch meistens sehr unterschätzt und demgemäß ihr sehr verschiedner Lebenswert falsch bemessen. Das, was den Menschen  so hoch über die Tiere, auch die nächst verwandten Säugetiere, erhebt, und was seinen Lebenswert unendlich erhöht, ist die Kultur, und die höhere Entwicklung der Vernunft, die ihn zur Kultur befähigt. Diese ist aber größtenteils nur Eigentum der höheren Menschenrassen und bei den niederen nur unvollkommen oder gar nicht entwickelt. Diese Naturmenschen (z.B. Weddas, Australneger) stehen in psychologischer Hinsicht näher den Säugetieren (Affen, Hunden) als dem hochzivilisierten Europäer; daher ist auch ihr individueller Lebenswert ganz verschieden zu beurteilen. Die Anschauungen darüber sind bei europäischen Kulturnationen, die große Kolonien in den Tropen besitzen und seit Jahrhunderten in engster Berührung mit Naturvölkern leben, sehr realistisch und sehr verschieden von den bei uns in Deutschland noch herrschenden Vorstellungen. Unsere idealistischen Anschauungen, durch unsere Schulweisheit in feste Regeln gebracht und von unseren Metaphysikern in das Schema ihres abstrakten Idealmenschen gezwängt, entsprechen sehr wenig den realen Tatsachen. …
Der Abstand zwischen dieser denkenden Seele des Kulturmenschen und der gedankenlosen tierischen Seele des wilden Naturmenschen ist aber ganz gewaltig, größer als der Abstand zwischen der letzteren und der Hundeseele …

·         (160) Die fortgeschrittene Arbeitsteilung der sozialen Individuen einerseits, die Zentralisation der Gesellschaft anderseits, befähigt den sozialen Körper zu viel höheren Leistungen als den solitären und steigert seinen Lebenswert in hohem Maße.

·         (163) Denn je weiter die Differenzierung der Stände und Klassen infolge der notwendigen Arbeitsteilung im Kulturstaate geht, desto größer werden die Unterschiede zwischen den hochgebildeten und ungebildeten Klassen der Bevölkerung, desto verschiedener ihre Interessen und Bedürfnisse, also auch ihr Lebenswert. Am größten erscheint dieser Unterschied natürlich dann, wenn man den Blick zu den „führenden Geistern“ des Jahrhunderts oben auf den höchsten Höhen der Kulturmenschheit erhebt und wenn man sie mit der Masse der niederen Durchschnittsmenschen vergleicht, die tief unten im Tal ihren einförmigen und mühseligen Lebenspfad mehr oder weniger stumpfsinnig wandeln.

·         (164) Für unsere Justiz ist der Wert jedes einzelnen Menschenlebens derselbe, gleichviel, ob es ein Embryo von sieben Monaten ist oder ein neugeborenes Kind (das noch kein Bewusstsein hat!), ein taubstummer Kretin oder ein hochbegabter Genius.

·         (164) Subjektiver und objektiver Lebenswert. (Individuelle und generelle Schätzung des Lebens).
Zunächst ist für jeden einzelnen Organismus sein individuelles Leben nächster Zweck und höchster Wert. Daher rührt das allgemeine Streben nach Selbsterhaltung … Diesem subjektiven Lebenswerte steht der objektive gegenüber, der auf der Bedeutung des Einzelwesens für die Außenwelt beruht …
Daraus entsteht ein beständiger Kampf zwischen den Interessen der Einzelwesen, die ihren besonderen Lebenszweck verfolgen, und denjenigen des Staates, für dessen Zwecke dieselben nur Wert haben als Teile einer Maschine.

·         (176) Alexander Sutherland hat recht, wenn er „die leitenden Nationen Europas und ihre Abkömmlinge“ (in der Vereinigten Staaten von Amerika) als niedere Kulturvölker charakterisiert. Zum Teil sind wir noch Barbaren!

·         (31) moderne Naturwissenschaft und Technik ... deren natürlicher Todfeind die orthodoxe (preußische) Kirche ist

·         (183) der „große Heide“ Goethe; sein Glaubensbekenntnis ist der reine Monismus, und zwar die pantheistische Richtung desselben, die wir als die einzig naturgemäße anerkennen

·         (198) 20. Monistische Theologie.
… (in vielen Bereichen der Gesellschaft JK) … die Vorstellung eines Gottes, als des „höchsten Wesens“ in irgendeiner Gestalt; da, wie Goethe sagt, „ein jeder das Beste, was er kennt, als Gott, ja seinen Gott benennt“: …
... gelangt die monistische Theologie zum Pantheismus im Sinne von Spinoza und Goethe

 

 

 

 

 

Ernst Haeckel: Die Welträthsel, Volksausgabe,
Alfred Kröner Verlag Stuttgart, 1899-1903

 

HIER der gesamte Text des Buches „Die Welträthsel“ im Internet: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Haeckel,+Ernst/Die+Weltr%C3%A4tsel

 

 

·         (Seite 6) (Inhaltsverzeichnis) Nachwort: Das Glaubensbekenntnis der reinen Vernunft

·         (8) Zwar haben einzelne denkende Forscher schon seit Jahrtausenden von »Entwicklung« der Dinge gesprochen, daß aber dieser Begriff das Universum beherrscht, und daß die Welt selbst weiter nichts ist als eine ewige »Entwicklung der Substanz«, dieser gewaltige Gedanke ist ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts. Erst in der zweiten Hälfte desselben gelangte er zu voller Klarheit und zu allgemeiner Anwendung. Das unsterbliche Verdienst, diesen höchsten philosophischen Begriff empirisch begründet und zu umfassender Geltung gebracht zu haben, gebührt dem großen englischen Naturforscher Charles Darwin; er lieferte uns 1859 den festen Grund für jene Abstammungslehre, welche der geniale französische Naturphilosoph Jean Lamarck schon 1809 in ihren Hauptzügen erkannt, und deren Grundgedanken unser größter deutscher Dichter und Denker, Wolfgang Goethe, schon 1799 prophetisch erfaßt hatte.

·         (11) Eine der mächtigsten Stützen gewährt jener rückständigen Weltanschauung der Anthropismus oder die »Vermenschlichung«. Unter diesem Begriffe verstehe ich »jenen mächtigen und weit verbreiteten Komplex von irrtümlichen Vorstellungen, welcher den menschlichen Organismus in Gegensatz zu der ganzen übrigen Natur stellt, ihn als vorbedachtes Endziel der organischen Schöpfung und als ein prinzipiell von dieser verschiedenes, gottähnliches Wesen auffaßt. Bei genauerer Kritik dieses einflußreichen Vorstellungskreises ergibt sich, daß derselbe eigentlich aus drei verschiedenen Dogmen besteht, die wir als den anthropozentrischen, anthropomorphischen und anthropolatrischen Irrtum unterscheiden I. Das anthropozentrische Dogma gipfelt in der Vorstellung, daß der Mensch der vorbedachte Mittelpunkt und Endzweck alles Erdenlebens – oder in weiterer Fassung der ganzen Welt – sei. Da dieser Irrtum dem menschlichen Eigennutz äußerst erwünscht, und da er mit den Schöpfungsmythen der drei großen Mediterran-Religionen, mit den Dogmen der mosaischen, christlichen und mohammedanischen Lehre innig verwachsen ist, beherrscht er auch heute noch den größten Teil der Kulturwelt. – II. Das anthropomorphische Dogma knüpft ebenfalls an die Schöpfungsmythen der drei genannten und anderer Religionen an. Es vergleicht die Weltschöpfung und Weltregierung Gottes mit den Kunstschöpfungen eines sinnreichen Technikers und mit der Staatsregierung eines weisen Herrschers. »Gott der Herr« als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt wird dabei in seinem [18] Denken und Handeln durchaus menschenähnlich vorgestellt. Daraus folgt dann wieder umgekehrt, daß der Mensch gottähnlich ist. »Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde Die ältere naive Mythologie ist reiner Homotheismus und verleiht ihren Göttern Menschengestalt, Fleisch und Blut. Weniger vorstellbar ist die neuerer mystische Theosophie, welche den persönlichen Gott als »unsichtbares Wesen« verehrt und ihn doch nach Menschenart denken, sprechen und handeln läßt; sie gelangt dadurch zu dem paradoxen Begriff eines »gasförmigen Wirbeltieres«. …
Da überzeugen wir uns[19] von folgenden wichtigen, nach unserer Ansicht jetzt größtenteils bewiesenen »kosmologischen Lehrsätzen«.
1. Das Weltall (Universum oder Kosmos) ist ewig, unendlich und unbegrenzt. …

·         (12) In der berühmten Rede, welche Emil du Bois-Reymond 1880 in der Leibniz-Sitzung der Berliner Akademie der Wissenschaften hielt, unterscheidet er »Sieben Welträtsel« und führt dieselben in nachstehender Reihenfolge auf: I. das Wesen von Materie und Kraft, II. der Ursprung der Bewegung, III. die erste Entstehung des Lebens, IV. die (anscheinend absichtsvoll) zweckmäßige Einrichtung der Natur, V. das Entstehen der einfachen Sinnesempfindungen und des Bewußtseins, VI. das vernünftige Denken und der Ursprung der damit eng verbundenen Sprache, VII. die Frage nach der Willensfreiheit. Von diesen sieben Welträtseln erklärt der Rhetor der Berliner Akademie drei für ganz transzendent und unlösbar (das erste, das zweite und fünfte); drei andere hält er zwar für schwierig, aber für lösbar (das dritte, vierte und sechste); bezüglich des siebenten und letzten »Welträtsels«, welches praktisch das wichtigste ist, nämlich der Willensfreiheit, verhält er sich unentschieden.

·         (14) Sehr häufig werden auch heute noch die verschiedenen Begriffe Monismus und Materialismus und ebenso die wesentlich verschiedenen Richtungen des theoretischen und des praktischen Materialismus verwechselt. Da diese und andere ähnliche Begriffsverwirrungen höchst nachteilig wirken und zahlreiche Irrtümer veranlassen, wollen wir zur Vermeidung aller Mißverständnisse nur kurz noch folgendes bemerken: I. Unser reiner Monismus ist weder mit dem theoretischen Materialismus identisch, welcher den Geist leugnet und die Welt in eine Summe von toten Atomen auflöst, noch mit dem theoretischen Spiritualismus (neuerdings vielfach als Energetik bezeichnet), welcher die Materie leugnet und die Welt nur als eine räumlich geordnete Gruppe von Energien oder immateriellen Naturkräften betrachtet. II. Vielmehr sind wir mit Goethe der festen Überzeugung, daß »die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann«. Wir halten fest an dem reinen und unzweideutigen Monismus von Spinoza: Die Materie, als die unendlich ausgedehnte Substanz, und der Geist (oder die Energie), als die empfindende oder denkende Substanz, sind die beiden fundamentalen Attribute oder Grundeigenschaften des allumfassenden göttlichen Weltwesens, der universalen Substanz

·         (33) Die mannigfaltigsten Schöpfungsmythen entwickeln sich bei allen älteren Kulturvölkern im Zusammenhang mit der Religion, und während des Mittelalters war es naturgemäß das zur Herrschaft gelangte Christentum, welches die Beantwortung der Schöpfungsfrage für sich in Anspruch nahm. Da die Bibel als die unerschütterliche Basis des christlichen Religionsgebäudes galt, wurde die ganze Schöpfungsgeschichte dem ersten Buche Moses entnommen. Auf dieses stützte sich auch noch der große schwedische Naturforscher Carl Linné, als er 1735 in seinem grundlegenden »Systema Naturae« den ersten Versuch zu einer systematischen Ordnung, Benennung und Klassifikation der unzähligen verschiedenen Naturkörper unternahm. …
Höchst verhängnisvoll aber wurde für die Wissenschaft das theoretische Dogma, welches schon von Linné selbst mit seinem praktischen Speziesbegriffe verknüpft wurde. Die erste Frage, welche sich dem denkenden Systematiker aufdrängen mußte, war natürlich die Frage nach dem eigentlichen Wesen des Speziesbegriffes, nach Inhalt und Umfang desselben. Und gerade diese Fundamentalfrage beantwortete sein Schöpfer in naivster Weise in Anlehnung an den allgemein gültigen mosaischen Schöpfungsmythus: »Species tot sunt diversae, quot diversas formas ab initio creavit infinitum ens.« (- Es gibt so viel verschiedene Arten, als im Anfange vom unendlichen. Wesen verschiedene Formen erschaffen worden sind. -) Mit diesem theosophischen Dogma, war jede natürliche Erklärung der Artentstehung abgeschnitten. Linné kannte nur die gegenwärtig existierende Tier-und Pflanzenwelt; er hatte keine Ahnung von den viel zahlreicheren ausgestorbenen Arten, welche in den früheren Perioden der langen Erdgeschichte unseren Erdball in wechselnder Gestaltung bevölkert hatten.

·         (34) Daß die herrschenden Vorstellungen von der absoluten Beständigkeit und übernatürlichen Schöpfung der organischen Arten tiefer denkende Forscher nicht befriedigen konnten, ist leicht einzus1ehen. Daher finden wir denn schon in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts einzelne hervorragende Geister mit Versuchen beschäftigt, zu einer naturgemäßen Lösung des großen »Schöpfungsproblems« zu gelangen. Allen voran war unser größter Dichter und Denker Wolfgang Goethe durch seine vieljährigen und eifrigen morphologischen Studien bereits vor mehr als hundert Jahren zu der klaren Einsicht in den inneren Zusammenhang aller organischen: Formen und zu der festen Überzeugung eines gemeinsamen natürlichen Ursprungs gelangt. In seiner berühmten »Metamorphose der Pflanzen« (1790) leitete er alle verschiedenen Formen der Gewächse von einer Urpflanze ab und alle verschiedenen Organe derselben von einem Urorgane, dem Blatt. In seiner Wirbeltheorie des Schädels versuchte er zu zeigen, daß die Schädel aller verschiedenen Wirbeltiere – mit Inbegriff des Menschen! – in gleicher Weise aus bestimmt geordneten Knochengruppen zusammengesetzt seien, und daß diese letzteren nichts anderes seien als umgebildete Wirbel. Gerade seine eingehenden Studien über vergleichende Osteologie hatten Goethe zu der festen Überzeugung von der Einheit der Organisation geführt; er hatte erkannt, daß das Knochengerüst des Menschen nach demselben Typus zusammengesetzt sei wie das aller übrigen Wirbeltiere – »geformt nach einem Urbilde, das nur in seinen sehr beständigen Teilen mehr oder weniger hin und her weicht und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet« –. Diese Umbildung oder Transformation läßt Goethe durch die beständige Wechselwirkung von zwei gestaltenden Bildungskräften geschehen, einer inneren Zentripetalkraft des Organismus, dem »Spezifikationstrieb«, und einer äußeren Zentrifugalkraft, dem Variationstrieb oder der »Idee der Metamorphose«; erstere entspricht dem, was wir heute Vererbung, letztere dem, was wir Anpassung nennen. Wie tief Goethe durch diese naturphilosophischen Studien über »Bildung und Umbildung organischer Naturen« in deren Wesen eingedrungen war, und inwiefern er demnach als der bedeutendste Vorläufer von Darwin und Lamarck betrachtet werden kann, ist aus den interessanten Stellen seiner Werke zu ersehen, welche ich im vierten Vortrage der Natürlichen Schöpfungsgeschichte zusammengestellt habe. In meinem Vortrage über »Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck« (Eisenach 1882) habe ich dies näher begründet. Indessen kamen doch diese naturgemäßen Entwicklungsideen von Goethe ebenso wie ähnlich (ebenda zitierte) Vorstellungen von Kant, Oken, Treviranus und anderen Naturphilosophen im Beginne des neunzehnten Jahrhunderts nicht über gewisse allgemeine Überzeugungen hinaus. Es fehlte ihnen noch der große Hebel, dessen die »natürliche Schöpfungsgeschichte« zu ihrer Begründung durch die Kritik des Speziesdogmas bedurfte, und diese verdanken wir erst Lamarck.
Den ersten eingehenden Versuch zu einer wissenschaftlichen Begründung des Transformismus unternahm im Beginne des neunzehnten Jahrhunderts der große französische Naturphilosoph Jean Lamarck, der bedeutendste Gegner seines Kollegen Cuvier in Paris. Schon 1802 hatte derselbe in seinen »Betrachtungen über die lebenden Naturkörper« die bahnbrechenden Ideen über die Unbeständigkeit und Umbildung der Arten ausgesprochen, welche er dann 1809 in den zwei Bänden seines tiefsinnigsten Werkes, der Philosophie zoologique, eingehend begründete. Hier führte Lamarck zum erstenmal – gegenüber dem herrschenden Speziesdogma – den richtigen Gedanken aus, daß die organische »Art oder Spezies« eine künstliche Abstraktion sei, ein Begriff von relativem Werte, ebenso wie die übergeordneten Begriffe der Gattung, Familie, Ordnung und Klasse. Er behauptete ferner, daß alle Arten veränderlich und im Laufe sehr langer Zeiträume aus älteren Arten durch Umbildung entstanden seien. Die gemeinsamen Stammformen, von denen dieselben abstammen, waren ursprünglich ganz einfache und niedere Organismen; die ersten und ältesten entstanden durch Urzeugung. Während durch Vererbung innerhalb der Generationsreihen der Typus sich beständig erhält, werden anderseits durch. Anpassung, durch Gewohnheit und Übung der Organe, die Arten allmählich umgebildet. Auch unser menschlicher Organismus ist auf dieselbe natürliche Weise durch Umbildung aus einer Reihe von affenartigen Säugetieren entstanden. Für alle diese Vorgänge, wie überhaupt für alle Erscheinungen in der Natur und im Geistesleben, nimmt Lamarck ausschließlich mechanische, physikalische und chemische Vorgänge als wahre, bewirkende Ursachen an.

·         (36) (Biogenetisches Grundgesetz) »Die Ontogenesis ist eine kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenesis, bedingt durch die physiologischen Funktionen der Vererbung (Fortpflanzung) und Anpassung (Ernährung)«. Schon Darwin hatte (1859) die große Bedeutung seiner Theorie für die Erklärung der Embryologie betont

·         (37) Der weitschauende Begründer der Abstammungslehre, Lamarck, hatte schon 1809 richtig erkannt, daß dieselbe allgemeine Geltung besitze, und daß also auch der Mensch, als das höchstentwickelte Säugetier, von demselben Stamme abzuleiten sei wie alle anderen Mammalien, und diese weiter hinauf von demselben älteren Zweige des Stammbaumes wie die übrigen Wirbeltiere. Er hatte auch schon auf die Vorgänge hingewiesen, durch welche die Abstammung des Menschen vom Affen, als dem nächstverwandten Säugetiere, wissenschaftlich erklärt werden könne. Darwin, der naturgemäß zu derselben Überzeugung gelangt war, ging in seinem Hauptwerk (1859) über diese anstößigste Folgerung seiner Lehre absichtlich hinweg und hat dieselbe erst später (1871) in seinem Werke über »Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl« geistreich ausgeführt. Inzwischen hatte aber schon sein Freund Huxley (1863) jenen wichtigen Folgeschluß der Abstammungslehre sehr scharfsinnig erörtert in seiner berühmten kleinen Schrift über die »Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur«. An der Hand der vergleichenden Anatomie und Ontogenie und gestützt auf die Tatsachen der Paläontologie zeigte Huxley, daß die »Abstammung des Menschen vom Affen« eine notwendige Konsequenz des Darwinismus sei, und daß eine andere wissenschaftliche Erklärung von der Entstehung des Menschengeschlechtes überhaupt nicht gegeben werden könne

·         (55) Willensfreiheit. …
Der gewaltige Kampf zwischen Deterministen und Indeterministen, zwischen den Gegnern und den Anhängern der Willensfreiheit, ist heute, nach mehr als zwei Jahrtausenden, endgültig zugunsten der ersteren entschieden. Der menschliche Wille ist ebensowenig frei als derjenige der höheren Tiere, von welchem er sich nur dem Grade, nicht der Art nach unterscheidet. Während noch im achtzehnten Jahrhundert das alte Dogma von der Willensfreiheit wesentlich mit allgemeinen, philosophischen und kosmologischen Gründen bestritten wurde, hat uns dagegen das neunzehnte Jahrhundert ganz andere Waffen zu dessen definitiver Widerlegung geschenkt, die gewaltigen Waffen, welche wir dem Arsenal der vergleichenden Physiologie und Entwicklungsgeschichte verdanken. Wir wissen jetzt, daß jeder Willensakt ebenso durch die Organisation des wollenden Individuums bestimmt und ebenso von den jeweiligen Bedingungen der umgebenden Außenwelt abhängig ist wie jede andere Seelentätigkeit. Der Charakter des Strebens ist von vornherein durch die Vererbung von Eltern und Voreltern bedingt; der Entschluß zum jedesmaligen Handeln wird durch die Anpassung an die momentanen Umstände gegeben, wobei das stärkste Motiv den Ausschlag gibt, entsprechend den Gesetzen, welche die Statistik der Gemütsbewegungen bestimmen.

·         (86f.) Zwölftes Kapitel. Das Substanz-Gesetz.
Als das oberste und allumfassende Naturgesetz betrachte ich das Substanzgesetz, das wahre und das einzige kosmologische Grundgesetz; seine Entdeckung und Feststellung ist die größte Geistestat des neunzehnten Jahrhunderts, insofern alle anderen erkannten Naturgesetze sich ihm unterordnen. Unter dem Begriffe »Substanzgesetz« fasse ich zwei höchste allgemeine Gesetze verschiedenen Ursprungs und Alters zusammen, das ältere chemische Gesetz von der »Erhaltung des Stoffes« und das jüngere physikalische Gesetz von der »Erhaltung der Kraft« (Monismus, 1892, S. 14, 39). …
Gesetz von der Erhaltung des Stoffes (oder der »Konstanz der Materie«, Lavoisier, 1789): Die Summe des Stoffes, welche den unendlichen Weltraum erfüllt, ist unveränderlich. Wenn ein Körper zu verschwinden scheint, wechselt er nur seine Form …
Gesetz von der Erhaltung der Kraft (oder der »Konstanz der Energie«, Robert Mayer, 1842): Die Summe der Kraft, welche in dem unendlichen Weltraum tätig ist und alle Erscheinungen bewirkt, ist unveränderlich. …

·         (93) Man könnte die allgemeinsten Naturerscheinungen, welche die Physik als Naturkräfte oder als »Funktionen der Materie« unterscheidet, in zwei Gruppen teilen, von denen die eine vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) Funktion des Äthers, die andere ebenso Funktion der Masse ist, etwa nach folgendem Schema, das ich (1892) im »Monismus« aufgestellt habe:
Welt (= Natur = Substanz = Kosmos = Universum = Gott)

·         (95) Schöpfung der Substanz (kosmologischer Kreatismus).
Nach dieser Schöpfungslehre hat »Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen«. Man stellt sich vor, daß der »ewige Gott« (als vernünftiges, aber immaterielles Wesen!) für sich allein von Ewigkeit her ohne Welt existierte, bis er dann einmal auf den Gedanken kam, »die Weit zu schaffen«. Die einen Anhänger dieses Glaubens beschränken die Schöpfungstätigkeit Gottes aufs Äußerste, auf einen einzigen Akt; sie nehmen an, daß der extramundane Gott (dessen übrige Tätigkeit rätselhaft bleibt!) in einem Augenblick die Substanz erschaffen, ihr die Fähigkeit zur weitestgehenden Entwicklung beigelegt und sich dann nie weiter um sie gekümmert habe. Diese weit verbreitete Ansicht ist namentlich im englischen Deismus vielfach ausgebildet worden; sie nähert sich unserer monistischen Entwicklungslehre bis zur Berührung und gibt sie nur in dem einen Momente (der Ewigkeit!) preis, in welchem Gott auf den Schöpfungsgedanken kam. Andere Anhänger des kosmologischen Kreatismus nehmen dagegen an, daß »Gott der Herr« die Substanz nicht bloß einmal erschaffen habe, sondern als bewußter »Erhalter und Regierer der Welt« in deren Geschichte fortwirke. Viele Variationen dieses Glaubens nähern sich bald dem Pantheismus, bald dem konsequenten Theismus. Alle diese und ähnliche Formen des Schöpfungsglaubens sind unvereinbar mit dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes; dieses kennt keinen »Anfang der Welt«
Besonders interessant ist, daß E. Du Bois-Reymond in seiner letzten Rede (über Neovitalismus, 1894) sich zu diesem kosmologischen Kreatismus (als Lösung des größten Welträtsels!) bekannt hat; er sagt: »Der göttlichen Allmacht würdig allein ist, sich zu denken, daß sie vor undenklicher Zeit durch einen Schöpfungsakt die ganze Materie so geschaffen habe,[243] daß nach der Materie mitgegebenen unverbrüchlichen Gesetzen da, wo die Bedingungen für Entstehen und Fortbestehen von Lebewesen vorhanden waren, beispielsweise hier auf Erden, einfachste Lebewesen entstanden, aus denen ohne weitere Nachhilfe die heutige Natur von einer Urbazille bis zum Palmenwalde, von einem Urmikrokokkus bis zu Suleimas holden Gebärden, bis zu Newtons Gehirn ward. So kämen wir mit einem Schöpfungstage (!) aus und ließen ohne alten und neuen Vitalismus die organische Natur rein mechanisch entstehen

·         (96) Schöpfung der Einzeldinge (ontologischer Kreatismus).
Nach dieser individuellen, noch jetzt herrschenden Schöpfungslehre hat Gott der Herr nicht nur die Welt im ganzen (»aus Nichts) geschaffen, sondern auch alle einzelnen Dinge in derselben. In der christlichen Kulturwelt besitzt noch heute die uralte semitische, aus dem ersten Buch Moses herübergenommene Schöpfungssage die weiteste Geltung; …
III. Heptamerale Kreation: die Schöpfung in sieben Tagen (nach Moses). Obgleich nur wenige Gebildete heute noch wirklich an diesen mosaischen Mythus glauben, wird er dennoch unseren Kindern schon in der frühesten Jugend mit dem Bibelunterricht fest eingeprägt. Die vielfachen, namentlich in England gemachten Versuche, denselben mit der modernen Entwicklungslehre in Einklang zu bringen, sind völlig fehlgeschlagen. Für die Naturwissenschaft gewann derselbe dadurch große Bedeutung, daß Linné bei Begründung seines Natursystems (1735) ihn annahm und zur Begriffsbestimmung der organischen (von ihm für beständig gehaltenen) Spezies benutzte: »Es gibt so viele verschiedene Arten von Tieren und Pflanzen, als im Anfang verschiedene Formen von dem unendlichen Wesen erschaffen worden sind Dieses Dogma wurde ziemlich allgemein bis auf Darwin (1859) festgehalten, obgleich Lamarck schon 1809 seine Unhaltbarkeit dargelegt hatte.

·         (156) Erdalter nach einer genauen geologischen Berechnung der neuesten Zeit mindestens 1400 Jahrmillionen (1,4 Milliarden JK); häufigste Schätzungen 100 bis 200 Millionen Jahre

·         (111ff) Fünfzehntes Kapitel. Gott und Welt.
Theismus: Gott und Welt sind zwei verschiedene Wesen … Vorstellung Gottes als des Außerweltlichen oder Übernatürlichen;
Pantheismus (All-Eins-Lehre): Gott und Welt sind ein einziges Wesen. Der Begriff Gottes fällt mit demjenigen der Natur oder der Substanz zusammen …
Daher ist notwendiger Weise der Pantheismus die Weltanschauung unserer modernen Naturwissenschaft. … Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde durch den großen Baruch Spinoza das System des Pantheismus in reinster Form ausgebildet. …
Atheismus („die entgötterte Weltanschauung“): Es gibt keinen Gott und keine Götter, falls man unter diesem Begriff persönliche, außerhalb der Natur stehende Wesen versteht. Diese „gottlose Weltanschauung“ fällt im wesentlichen mit dem Monismus oder Pantheismus unserer modernen Naturwissenschaft zusammen; sie gibt nur einen anderen Ausdruck dafür, indem sie die negative Seite derselben hervorhebt, die Nicht-Existenz der extramundanen oder übernatürlichen Gottheit. In diesem Sinne sagt Schopenhauer ganz richtig: „Pantheismus ist nur ein höflicher Atheismus. Die Wahrheit des Pantheismus besteht in der Aufhebung des dualistischen Gegensatzes zwischen Gott und Welt, in der Erkenntnis, dass die Welt aus ihrer inneren Kraft und durch sich selbst da ist. Der Satz des Pantheismus „Gott und die Welt ist eins“ ist bloß eine höfliche Wendung, dem Herrgott den Abschied zu geben.“

·         (118ff.) Sechzehntes Kapitel. Wissen und Glauben.

·         (120) Hypothese und Glauben.
Der Erkenntnistrieb des hochentwickelten Kulturmenschen begnügt sich nicht mit jener lückenhaften Kenntnis der Außenwelt, welche er durch seine unvollkommenen Sinnesorgane gewinnt. Er bemüht sich vielmehr, die sinnlichen Eindrücke, welche er durch dieselben gewonnen hat, in Erkenntniswerte umzusetzen; er verwandelt sie in den Sinnesherden der Großhirnrinde in spezifische Sinnesempfindungen und verbindet diese durch Assozion in deren Denkherden zu Vorstellungen; durch weitere Verkettung der Vorstellungsgruppen gelangt er endlich zu zusammenhängendem Wissen. Aber dieses Wissen bleibt immer lückenhaft und unbefriedigend, wenn nicht die Phantasie die ungenügende Kombinationskraft des erkennenden Verstandes ergänzt und durch Assozion von Gedächtnisbildern entfernt liegende Erkenntnisse zu einem zusammenhängenden Ganzen verknüpft. Dabei entstehen neue allgemeine Vorstellungsgebilde, welche erst die wahrgenommene Tatsachen erklären und das Kausalitätsbedürfnis der Vernunft befriedigen.
Die Vorstellungen, welche die Lücken des Wissens ausfüllen oder an dessen Stelle treten, kann man im weiteren Sinne als »Glauben« bezeichnen. So geschieht es fortwährend im alltäglichen Leben. Wenn wir irgendeine Tatsache nicht sicher wissen, so sagen wir: Ich glaube sie. In diesem Sinne sind wir auch in der Wissenschaft selbst zum Glauben gezwungen; wir vermuten oder nehmen an, daß ein bestimmtes Verhältnis zwischen zwei Erscheinungen besteht, obwohl wir dasselbe nicht sicher kennen. Handelt es sich dabei um die Erkenntnis von Ursachen, so bilden wir uns eine Hypothese. Indessen dürfen in der Wissenschaft nur solche Hypothesen zugelassen werden, die innerhalb des menschlichen Erkenntnisvermögens liegen und die bekannten Tatsachen nicht widersprechen. Solche Hypothesen sind z.B. in der Physik die Lehre von Vibrationen des Äthers, in der Chemie die Annahme der Atome und deren Wahlverwandtschaft, in der Biologie die Lehre von der Molekularstruktur des lebendigen Plasma usw.
Theorie und Glaube.
Die Erklärung einer größeren Reihe von zusammenhängenden Erscheinungen durch Annahme einer gemeinsamen Ursache nennen wir Theorie. Auch bei der Theorie, wie bei der Hypothese, ist der Glaube (in wissenschaftlichem Sinne!) unentbehrlich; denn auch hier ergänzt die dichtende Phantasie die Lücke, welche der Verstand in der Erkenntnis des Zusammenhanges der Dinge offen läßt. Die Theorie kann daher immer nur als eine Annäherung an die Wahrheit betrachtet werden; es muß zugestanden werden, daß sie später durch eine andere, besser begründete Theorie verdrängt werden kann. Trotz dieser eingestandenen Unsicherheit bleibt die Theorie für jede wahre Wissenschaft unentbehrlich; denn sie erklärt erst die Tatsachen durch Annahme von Ursachen. Wer auf die Theorie ganz verzichten und reine Wissenschaft bloß aus »sicheren Tatsachen« aufbauen will (wie es oft von beschränkten Köpfen in der modernen sogenannten »exakten Naturwissenschaft« geschieht), der verzichtet damit auf die Erkenntnis der Ursachen überhaupt und somit auf die Befriedigung des Kausalitätsbedürfnisses der Vernunft.
Die Gravitationstheorie in der Astronomie (Newton), die kosmologische Gastheorie in der Kosmogenie (Kant und Laplace), das Energieprinzip in der Physik (Mayer und Helmholtz), die Atomtheorie in der Chemie (Dalton), die Vibrationstheorie in der Optik (Huygens), die Zellentheorie in der Gewebelehre [310] (Schleiden und Schwann), die Deszendenztheorie in der Biologie (Lamarck und Darwin) sind gewaltige Theorien ersten Ranges; sie erklären eine ganze Welt von großen Naturerscheinungen durch Annahme einer gemeinsamen Ursache für alle einzelnen Tatsachen ihres Gebietes und durch den Nachweis, daß alle Erscheinungen in demselben zusammenhängen und durch feste, von dieser einen Ursache ausgehende Gesetze geregelt werden. Dabei kann aber diese Ursache selbst ihrem Wesen nach unbekannt oder nur eine »provisorische Hypothese« sein. Die »Schwerkraft« in der Gravitationstheorie und in der Kosmogenie, die »Energie« selbst in ihrem Verhältnis zur Materie, der »Äther« in der Optik und Elektrik, das »Atom« in der Chemie, das lebendige »Plasma« in der Zellenlehre, die »Vererbung« in der Abstammungslehre – diese und ähnliche Grundbegriffe in anderen großen Theorien können von der skeptischen Philosophie als »bloße Hypythesen«, als Erzeugnisse des wissenschaftlichen Glaubens betrachtet werden; sie bleiben uns aber als solche unentbehrlich, so lange, bis sie durch eine bessere Hypothese ersetzt werden.

·         (133) Achtzehntes Kapitel: Unsere monistische Religion