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Evolution Die Macht des Wandels

 

Darwins Evolutionstheorie stößt noch immer auf Ablehnung. Doch an der Existenz der Evolution selbst gibt es keinen Zweifel. Ihren weiteren Verlauf können wir sogar mitbestimmen

 

    Von: Josef H. Reichholf

    1.1.2009 - 12:37 Uhr

 

Um es gleich vorwegzusagen: Evolution ist keine Theorie, sondern eine Gegebenheit. Als solche kann sie ebenso wenig infrage gestellt werden wie die Kugelgestalt der Erde. Evolution ist weit weniger geheimnisvoll als die Schwerkraft oder der elektrische Strom. Die allermeisten Menschen können »Strom« nicht erklären und benutzen ihn dennoch ganz selbstverständlich.

 

Die Ablehnung entspringt dem uralten Konflikt zwischen Glauben und Wissen, zwischen Erschaffen und Werden, zwischen Religio und Ratio. Evolution wird als Kränkung empfunden, weil sie das Wunder Mensch einer Natur zuteilt, die alles andere als paradiesisch ist. Kräfte, die nicht zu bannen sind, toben im Innern der Erde, Vulkane brechen mit zerstörerischer Gewalt aus. Erdbeben, Stürme und Überschwemmungen richten schreckliche Verheerungen an, Dürren bringen Verwüstung, Insektenstiche den Tod. Was sich in der Natur abspielt, ist so schaurig wie schön.

 

Wer an eine Natur im Gleichgewicht glaubt, muss die Evolution ablehnen

 

Allein der Gedanke, ohne Sonderstellung einfach ein Teil zu sein von dieser Welt, ruft heftige emotionale Widerstände hervor. Ein Leben voller Mühsal und Ängste muss einen Sinn haben. Wozu sollte es sonst gelebt werden?

 

Dabei geht der Streit meistens gar nicht um die Evolution als solche, sondern darum, wie sie zu verstehen ist. Es geht um die Theorie der Evolution. Charles Darwin hat nicht »die Evolution« entdeckt, sondern eine umfassende Theorie entwickelt, die deren Verlauf erklärt. Sie beruht auf drei Hauptvorgängen. Jede Generation bringt etwas unterschiedliche Nachkommen hervor. Diese Variationen bilden die Basis für den zweiten Schritt, die (natürliche) Auslese oder Selektion. Ihr fallen eher solche Nachkommen zum Opfer, die nicht so gut zu ihrer Umwelt passen wie die anderen. Aber bei Weitem nicht alle Überlebenden sind damit automatisch die »Besseren« oder »Fittesten«. Denn sowohl bei der Entstehung von Variation als auch bei der Selektion ist immer Zufall mit im Spiel.

 

Ihm ist zu verdanken, dass weiter Spielraum bleibt, durchaus im wörtlichen Sinn. Neue Variation geht daraus hervor und ein weiterer Schritt von Selektion. Dabei ändert sich allerdings so gut wie nichts. Ohne den dritten Schritt könnte sich auch gar nichts wesentlich verändern, weil die Selektion nur dazu führt, dass die Variation nicht zu groß wird. Evolution kommt erst durch Änderungen in der Umwelt, in den Lebensbedingungen zustande. Ändert sich die Umwelt nicht, bleibt alles wie gehabt.

 

Darwin zog daraus den Schluss, dass sich die Lebewesen an die Umwelt anpassen. In seiner Theorie ist Anpassung das Hauptergebnis natürlicher Selektion. Sie wirkt umso stärker, je weiter sich die Umwelt vom bisherigen Gleichgewicht entfernt. Erreicht die Natur einen Gleichgewichtszustand, hört Evolution auf. Wer an die Beständigkeit der Schöpfung glaubt oder eine Natur im Gleichgewicht für den richtigen Zustand hält, muss Evolution ablehnen. Allenfalls wird sie als unbedeutende Randerscheinung akzeptiert, die an Äußerlichkeiten der Lebewesen mitunter ein wenig herumfeilt.

 

Variationen tauchen immer wieder auf. Wie sonst hätten Menschen aus Felsentauben oder Wölfen die Formenvielfalt der Haustauben oder aller Hunderassen züchten können, von riesigen Doggen bis zu Dackeln und Schoßhundzwergen? Die ganze Vielfalt steckte unsichtbar im Wolf, und wir wissen nicht, was im Stammvater der Hunde noch alles steckt. Auch Menschen zeigen eine große natürliche Variation – und betrachten sie als besonderes Gut, das ihre Individualität zum Ausdruck bringt.

 

Variation und Selektion gibt es also, aber können sie die Entstehung von »wirklich Neuem« erklären? Wie sollen aus Echsen Vögel geworden sein oder aus Affen Menschen? Um dieses Kernstück der Evolutionstheorie drehen sich die meisten Diskussionen. Darwin beantwortete diese auch ihn sehr bewegende Frage der äonenlangen Erdgeschichte. In einer endlosen Kette kleiner Schritte würden sich Veränderungen anhäufen, bis schließlich daraus, rückblickend betrachtet, Neues entstanden ist.

 

Die Geschichte des Lebens reicht wenigstens dreieinhalb Milliarden Jahre zurück. Doch die Fossilien passen nicht so recht in einen ganz allmählich-kontinuierlichen, »gradualistisch« genannten Vorgang. Es gab bisweilen heftiges Auf und Ab, auch viele andere Befunde weisen auf katastrophale Ereignisse hin. Diese verursachten Massenaussterben und anschließend ziemlich rasche Neuentwicklungen. Stephen Jay Gould prägte dafür den Begriff des »unterbrochenen Gleichgewichts« und kritisierte die vorschnelle Erklärung aller Eigenschaften der Organismen als »Anpassung«.

 

Eine andere Form von Selektion, von Darwin »sexuelle Selektion« genannt, bekräftigt die Vorbehalte gegen eine allzu umfassende »Anpassung«. Das Prachtgefieder vieler Vogelmännchen kann nicht in gleicher Weise Anpassung sein wie das schlichte Tarngefieder der Weibchen. Es muss recht weiten Spielraum geben – wie sonst könnten die unterschiedlichsten Tiere in denselben Lebensräumen miteinander existieren?

 

Zwischen dem Körper der Lebewesen und der Umwelt bleibt ein weiter Bereich, in dem sich das Leben abspielt. Der Körper mit seiner Innenwelt ist dabei weit wichtiger als die leblose Außenwelt. Die zunehmende Lösung von der Umwelt kennzeichnet die Evolution stärker als die Anpassung, wie sie Darwin erkannt hatte.

 

Erst ein Jahrhundert nach Darwin war die Erforschung des Erbguts so weit gediehen, dass man die Gründe für die Variation erkannte. Inzwischen lassen sich die verursachenden Gene einzeln verorten, auch in anderes Erbgut einbauen. Die Gentechnik lieferte die überzeugendsten Beweise für Darwins Sicht.

 

Die per Zufall auftretenden Änderungen im Genom, die Mutationen, sammeln sich mit der Zeit an, sodass sie wie eine Art Uhr benutzt werden können, um die Zeit zu messen, die seit der Trennung von Arten oder von größeren Stammeslinien verstrichen ist. Daraus geht zum Beispiel hervor, dass wir uns von den Schimpansen in nur gut einem Prozent genetisch unterscheiden und dass sich die Menschen- und die Schimpansenlinie vor etwa 5 bis 6 Millionen Jahren getrennt haben.

 

Eine geradezu unheimlich rasche Evolution hält die medizinische Forschung in Atem, weil sich Viren und Bakterien schneller weiterentwickeln als die Medikamente zu ihrer Bekämpfung. Im Bereich der Krankheiten ist Evolution der härteste, allgegenwärtige Gegner und kein Phantom, das sich erst in Jahrmillionen konkretisiert.

 

Bleiben nach den großen Einsichten im Jahrhundert der Biologie überhaupt noch grundsätzliche Fragen offen? Ganz sicher genug, um Generationen von Evolutionsforschern herauszufordern. So wissen wir zwar viel über den Partner des Genoms in der lebenden Zelle, den Stoffwechsel, aber viel zu wenig, um die Wechselwirkung zwischen beiden auch nur annähernd zu durchschauen. Gegenwärtig scheint es noch so, als würde die im Erbgut gespeicherte Information alles steuern. Doch erstens trifft die Annahme, dass jedem Gen eine Eigenschaft zukommt, nicht so direkt zu, wie anfänglich angenommen, und zweitens kann das Genom nur tätig werden, wenn ein Stoffwechsel stattfindet. Im Virus ist das Genom inaktiv, weder lebendig noch tot. Zu arbeiten fängt es erst an, wenn eine passende »Wirtszelle« gefunden ist.

 

Spiegelt sich darin womöglich der Ursprung des Lebens? Hatten sich vor rund vier Milliarden Jahren »Informationsträger« mit »Stoffwechslern« zusammengefunden und so die erste Zelle und das Leben hervorgebracht – stand eine Symbiose am Anfang? Der Schwerpunkt der gegenwärtigen Forschungen liegt klar aufseiten der Informationsträger. Sie sind die Vorstufen des Erbgutes. Aber wie differenziert sie auch ausgebildet sein mögen, sie benötigen einen Stoffwechsel, um »lebendig« zu werden. Umgekehrt braucht der Stoffwechsel nicht unbedingt ein Genom zur Steuerung. Das zeigen unsere roten Blutkörperchen. Sie haben keinen Zellkern mit Genom, bleiben aber nach ihrer Bildung rund 100 Tage lebensfähig. Sie sollten viel gründlicher untersucht werden.

 

Wir müssen also wahrscheinlich noch weit mehr vom Stoffwechsel verstehen, um hinter das Anfangsgeheimnis des Lebens zu kommen. Aus lebloser Materie ging das Lebendige hervor, als drei Grundeigenschaften zusammenpassten: die chemischen Reaktionen, eine hinreichend beständige, aber wandelbare Information und genügend Abgeschlossenheit durch eine Trennung von »innen« und »außen«. Durch die Wandelbarkeit der Informationsträger ist Evolution möglich geworden.

 

Warum aber entstand das Leben nur einmal auf der Erde und nicht mehrmals? Gab es die besonderen Rahmenbedingungen nur in einer ganz bestimmten Zeit auf der jungen Erde? Für das gegenwärtige Leben kennen wir die Begrenzungen, die Stoffwechsel und Energiefluss vorgeben. Leben kann sich nicht beliebig entfalten. Die Evolution ist »kanalisiert«. Deshalb erscheint sie uns gerichtet, weil nicht alles möglich ist.

 

Der Anfang des Lebens war ein Phasenübergang aus der leblosen Natur in die Sphäre des Lebendigen. Gab es einen weiteren Phasenübergang zum »Geistigen«, musste die Evolution zwangsläufig Geist hervorbringen? Handelte es sich bei der Entstehung des Geistes um eine Emergenz, um ein plötzliches Auftauchen? Oder war das stofflich nicht fassbare Geistige von Anfang an Begleiterscheinung und Wesensmerkmal der Materie an sich? Die Meinungen zu diesen Grundfragen gehen weit auseinander. Wer sich gleichsam von oben, von der philosophischen Betrachtungsweise nähert, wird die spontane und einmalige Emergenz bevorzugen. Hingegen geht die vergleichende Verhaltensforschung von einer begleitenden Entwicklung aus und schreibt dem Geist selbst eine Evolution zu. Geist zu haben ist kein Privileg des Menschen, und die biologische Evolution ist nur Teil einer allumfassenden Evolution, die im Kosmischen begonnen hat, sich über das Leben fortsetzt und im Geist des Menschen sich des Geistes selbst bewusst geworden ist.

 

Die Natur ist nicht gerade menschenfreundlich

 

Die »großen Fragen« finden sich, wie könnte es anders sein, an den Grenzen. Dort, wo Physik und Chemie lebendig werden oder Lebendes stirbt und wo Gehirne nachweisbar Gedanken produzieren, da gibt uns die Evolution nach wie vor die größten Rätsel auf. Zudem laufen Entwicklungen in der Kultur so erstaunlich ähnlich wie die biologische Evolution ab, dass sich beide, Evolutionsbiologie und Kulturwissenschaften, gegenseitig herausgefordert fühlen.

 

Das Ziel naturwissenschaftlicher Forschung ist fortschreitende Annäherung an die Wirklichkeit. Um die Realität geht es ihr und nicht um Wahrheit. Skepsis und Kritik treiben die Kenntnisse voran. Wo es irgend geht, soll das Experiment die Annahme bekräftigen oder widerlegen. Wo nicht, wie in historischen Zeitläufen, werden übereinstimmende Befunde und erfüllte Vorhersagen in die Waagschale der Plausibilität geworfen. Darin entspricht die wissenschaftliche der juristischen Vorgehensweise: Beweise durch Fakten und erdrückende Indizien ergeben das Urteil.

 

Genau das ist die Grundmethode der Evolutionsforschung. Sie kann nicht die Geschichte erneut ablaufen lassen, um zu sehen, ob es so kommen musste, wie es gekommen ist. Doch genügend experimentell geprüfte Teilstücke und plausible Vergleiche erfüllen diese Forderung. Rückblickend ist es durchaus möglich, zu analysieren, warum sich dieses oder jenes ereignet hat und was die Ursachen gewesen sind. Vorhersagen lässt sich die Geschichte jedoch nicht. Die Evolutionsforschung stimmt in dieser Hinsicht weitestgehend mit der Geschichtsforschung überein. Sie kann Ursachen aufdecken, Entwicklungen plausibel erklären, aber die Zukunft nicht vorhersagen. Wissenslücken als Kritik gegen solche Forschungen anzuführen ist unangebracht. Die Wissenschaft hat nie Vollständigkeit beansprucht. Im Gegenteil! Lückenloses Wissen gibt es nirgends.

 

Nochmals: Evolution ist keine Theorie, sondern Realität. Weder das Leben in seiner großartigen Vielfalt noch die Flüsse, Berge und Meere sind so geschaffen worden, wie sie sind. Versteinerungen im Kalk hoher Berge sind keine Launen der Natur, sondern Zeugen aus ferner Vergangenheit, als das Gestein noch Schlamm im Meer war. Die vielen ausgestorbenen Lebewesen und all das Grausige, Unangenehme und Lebensbedrohende sind wie auch der Tod keine Fehler, die ein intelligenter Schöpfer zwischendurch gemacht hat, sondern Teil der Natur, die sich fortwährend verändert.

 

Und dabei nicht gerade menschenfreundlich ist. Viel zu viele Menschen können noch kein menschenwürdiges Leben führen. Das Humane verlangt größtmöglichen Widerstand gegen die blinde natürliche Selektion durch Krankheiten, Hunger, Naturkatastrophen und innerartlich-aggressive Vernichtung. Für eine bessere Zukunft sollen all diese Formen der natürlichen Auslese überwunden und Krankheiten möglichst besiegt werden.

 

Ob der Mensch dann seine eigene Weiterentwicklung in die Hand nehmen und gezielt steuern soll, an dieser Frage scheiden sich die Geister. Was soll und was darf nicht gemacht werden, auch wenn es machbar geworden ist? Auf solche Fragen geben die Forschungsergebnisse zum Werden der Organismen keine Antworten, sondern allenfalls Hilfestellungen. Das erlangte Wissen bedarf der Wertung.

 

Die Evolutionsforschung liefert uns die Schlüssel zum Verständnis für vieles, auch zum Wesen des Menschen, was ohne Kenntnis von Geschichte und Vorgeschichte unverständlich bliebe. Daraus folgt jedoch nicht, dass es so – und nur so – richtig ist und so bleiben müsse. Die Evolution ist zukunftsblind. Gänzlich Neues kann durch biologische Evolution nicht entstehen. Besseres können wohl nur wir ersinnen.

 

Doch auch der Mensch sollte sich bewusst sein, dass er ein Gewordener und »unterwegs« ist, noch nicht am Ziel angekommen. Wohin der Weg führt, bleibt offen. Zu einem neuen Menschen? Zu einem besseren? Die eigene Herkunft zu kennen entwürdigt nicht. Niemand wird sich ausschließlich exzellenter Vorfahren rühmen können. Wer sich unserer Verwandtschaft zu den Primaten, die wir abschätzig »Affen« nennen, schämt, sollte besser nicht zu sehr im eigenen Stammbaum nachforschen. Die Vergangenheit ist kein grundsätzliches Hindernis für eine bessere Zukunft.

 

Das Leben hat Katastrophen größten Ausmaßes überwunden. Mit gewaltigen Verlusten zwar, aber erfolgreich. Die Botschaft der Evolutionsforschung ist daher im Grundsatz optimistisch. Als wahrscheinlich erste Lebewesen auf der Erde könnten wir Menschen sogar den Beweis erbringen, dass Evolution nicht blind bleiben muss.

 

Der Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf leitet die Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung in München. Der hier abgedruckte Text ist eine gekürzte Fassung seines Nachworts zu »Triebkraft Evolution«

 

 

 

    Quelle: DIE ZEIT, 18.09.2008 Nr. 39

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