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Zum Verstehen und Verkündigen biblischer Texte
von Landesbischof i. R. Dr. Johannes Hempel

Das Verstehen und Weitergeben biblischer Texte besteht nicht nur in der Übertragung von Wörtern aus einer in eine andere Sprache, sondern auch aus „Fährarbeit": Gedanken von einem fremden Ufer an mein Ufer, in mein Leben herüberzuholen. Das Referat will auf diese Frage eingehen.

Gottes Willen aus der Bibel erkennen
„Zum Verstehen und Verkündigen der Bibel": Dieses Thema könnte man auch ganz anders formulieren, nämlich als Frage: Wie finde ich für uns heute den verbindlichen Willen Gottes heraus, wenn ich biblische Texte betrachte?
Zur Klärung dieser Frage, zur Beantwortung des Themas sollen fünf Thesen entfaltet werden.

Erste These:
Ein überkommener reformatorischer Lehrsatz besagt, daß die Bibel in sich selber klar ist, beziehungsweise sich selbst am besten auslegt.
Dieser Lehrsatz meint, wer biblische Texte verstehen will, muß sich vor sachfremden, menschlichen Eintragungen und Überfremdungen hüten. Er meint aber nicht, ein biblischer Text sei dann verstanden, wenn man lediglich seinen wortlautgemäßen Inhalt verstanden hat. Unser Thema geht davon aus. daß zum Verstehen der Bibel bestimmte Voraussetzungen gehören. Man könnte das bezweifeln und fragen: „Inwiefern?" Man könnte der Meinung sein, um die Bibel zu verstehen, muß man doch nur eine Bibel haben, lesen können und guten Willens sein. Das hieße dann praktisch: Es gibt keine besonderen Voraussetzungen. Der genannte reformatorische Lehrsatz: "Die Bibel ist in sich selber hinreichend klar und legt sich deshalb selber am besten aus", scheint in diese Kerbe zu schlagen. Er meint in gewisser Weise auch. es bedarf keiner besonderen Voraussetzungen, es gelten lediglich die normalen, die überall gelten, wo Menschen Aufgeschriebenes verstehen wollen.
Nun. dieser reformatorische Lehrsatz enthält eine bleibende, für alle Zeiten gültige Wahrheit, nämlich: „Die Bibel hat und behält in ihrem überlieferten  Wortlaut für alles menschliche Verstehen eine grundlegende und unaufgebbare Bedeutung." Wer etwas vom christlichen Glauben verstehen will. ist und bleibt auf die Bibel in ihrer vorliegenden Gestalt angewiesen. Und es liegt in diesem Lehrsatz auch mit Recht die Warnung bis heute: „Paßt auf, daß ihr das. was die Bibel im Wortlaut sagt. nicht nach eurem persönlichen Geschmack modelt, sondern als erstes und als letztes hört, hört, hört!"
Man kann diesen Lehrsatz aber auch mißverstehen. Er sagt nämlich zwar etwas Richtiges, aber er sagt nicht alles, was zum Thema Bibelverständnis zu sagen ist. Mißverstanden wird der Lehrsalz dann. wenn man meint, mit ihm sei alles gesagt: dann wird er nämlich umgebogen zu der vorhin genannten Auffassung: Zum Verstehen der Bibel bedarf es keiner besonderen Voraussetzungen. Und das will der Lehrsatz gar nicht sagen. Dann wird aus ihm die Meinung, der habe die Bibel am besten verstanden. der ihren Wortlaut am wörtlichsten nimmt.
Worin besteht nun aber die Unvollständigkeit dieses überlieferten reformatorischen Lehrsatzes? Darum geht es in den folgenden Thesen zwei bis vier.

Zweite These:
Die biblischen Texte überliefern uns, aufs Ganze gesehen, die Anrede des lebendigen Gottes, die, von Fall zu Fall immer neu, an bestimmte Menschen in bestimmter Zeit und bestimmter Situation erging, und zwar mit dem Ziel, diese Menschen für Gottes Herrschaftswirklichkeit zu gewinnen.
Deshalb sind biblische Texte ihrem Wesen nach auf konkrete Menschen in konkreten Situationen bezogen. Daß die biblischen Überlieferungen für den christlichen Glauben aller Zeiten in ihrem Wortlaut von größter Bedeutung sind, haben wir uns klargemacht. Jetzt aber gilt es zu entdecken. daß der Wortlaut der biblischen Überlieferung Botschaft für Menschen ist, das heißt nicht, Botschaft für alle Menschen aller Zeiten, für die Menschen als solche oder schlechthin; sondern das heißt: Botschaft für bestimmte Menschen, und zwar so bestimmte Menschen, dass es sie einmal wirklich gegeben hat, unverwechselbar, gegebenenfalls mit Namen zu nennen. Für solche, um dieser willen, wurde einst der Wortlaut formuliert. Man könnte hierfür zahllose Beispiele beibringen aus dem Alten, aus dem Neuen Testament, aus den Reden Jesu, aus der Verkündigung der Apostel und ihrer Schüler.
Immer geht es darum: Was Jesus, was die Evangelisten, die Apostel zu sagen hatten, ist Botschaft an konkrete Menschen. Um zu verdeutlichen, was damit gesagt ist, muß noch hinzugefügt werden: Was Jesus und die Apostel gesagt haben, das haben sie gesagt, um die konkreten Menschen für Gott zu gewinnen, für ein Leben mit der Wirklichkeit des barmherzigen Gottes zu gewinnen. Ein deutlicher Beleg hierfür findet sich im l. Korintherbrief, Kapitel 9, Vers 19-23, wo es zuletzt heißt: „Ich bin allen alles geworden, damit ich auf jede nur mögliche Weise etliche gewinne. Alles tue ich um des Evangeliums willen."
Ich kann es an einem Beispiel deutlich machen, was das heißt: Rede an konkrete Menschen, um sie zu gewinnen.
Nehmen wir an, jemand hat die Absicht, am kommenden Sonnabend nach Dresden zu fahren und die Gemäldegalerie zu besichtigen. Er trifft. indem er diesen Plan überdenkt, einen Freund und macht ihm davon Mitteilung, sagt ihm also den Plan, die Umstände und was er sich davon verspricht. Das ist eine einfache Mitteilung, dazu bedarf es nur der Sprache und des Willens, sich mitzuteilen. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn Herr Jemand die Absicht hat, den Freund zum Mitfahren zu bewegen, weil es ihm in Gesellschaft mehr Spaß macht. Dann wird er nämlich nicht nur länger oder lauter oder herzlicher reden, sondern er wird sich bemühen, so von seinem Plan zu reden, daß dem Freund das Lohnende der Partie einleuchtet. Das kann aber wohl nur so geschehen, daß er die Situation, in der sich sein Freund in bezug auf die Gemäldegalerie befindet, respektiert und nutzt. Wenn also der Herr Jemand weiß, daß sein Freund eine Vorliebe für Rembrandt hat, dann wird er wahrscheinlich sagen: Drei Rembrandtbilder, das Bild des bärtigen Alten und die Saskia-Bilder - und wenn es ein Christ ist, den er gewinnen will, wird er wahrscheinlich sagen, es sind auch biblische Themen dort von Rembrandt zu sehen. Damit will er ja nicht sagen, daß in der Gemäldegalerie nur Rembrandtbilder zu sehen oder nur Rembrandtbiider lohnend sind. Er redet situationsbezogen, um ihn zu gewinnen. Wäre der Freund einer, der von bildender Kunst so gut wie nichts versteht, würde der Herr Jemand wahrscheinlich völlig anders reden. Er würde um desselben Zieles und derselben Sache willen wahrscheinlich sagen: Dein Fehler ist, daß du es noch nie an der starken Stelle dieser Disziplin versucht hast. Fahr mal mit, erst nachher kannst du urteilen, und ich bin gern bereit, mit dir darüber zu reden. Situationsbezogene Rede!
Situationsbezogene Rede ist also die gewinnende Rede, die aber nicht aus taktischen oder psychologischen Motiven erfolgt, sondern aus Liebe zur Sache.
In der Bibel liegen ähnliche Redeweisen vor. Ich möchte es an einem einzigen Beispiel sagen: „Jesus und der reiche Jüngling". „Was muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe?" so fragt der Jüngling. Jesus antwortet:  Halte  die  Gebote.  Situationsbezogene  Antwort.  Jesus  hat
gemerkt, der nimmt die Gebote ernst, dieser Jude. Er hätte zum Beispiel auch anders antworten können mit dem Gleichnis von der selbstwachsenden Saat, das wäre ihm durchaus zu sagen gewesen. Aber Jesus sagt es nicht mit einem Gleichnis, sondern direkt, um diesen Mann aufzureißen und zu gewinnen für die wahre Nachfolge. Mehr noch: Hätte der Jüngling an entscheidender Stelle nicht gesagt: Das habe ich doch von Jugend an gemacht, sondern meinetwegen bescheidener gesagt: Ja, indem du mir das so vorhältst, wird mir klar, eines habe ich bisher tatsächlich vergessen - dann hätte Jesus nicht geantwortet: Gehe hin und verkaufe alles, was du hast, und gib den Erlös den Armen, sondern wahrscheinlich: Dann denke noch mal weiter nach, du wirst noch mehr entdecken, was du versäumt hast, und dann komme wieder zu mir. Situationsbezogene Rede, gewinnende Rede, Rede nach Maß. Aus Liebe zur Sache.
Ein anderes Beispiel: Nehmen wir einmal an, der Apostel Paulus hätte seinerzeit die Kuverts verwechselt und den Römerbrief aus Versehen an die  Korinther und  den  l.  Korintherbrief aus  Versehen  nach  Rom geschickt. Was hätte das gegeben? Daß beide Gemeinden den Kopf geschüttelt hätten über die offensichtliche Zerstreutheit des alternden Apostels, wäre noch das geringste gewesen. Viel schwerwiegender wäre gewesen, daß weder die Römer noch die Korinther aus diesem Worte Gottes das Evangelium ihres Herrn hätten vernehmen können. Die Römer hätten wahrscheinlich gesagt: Was soll denn die Blutschande, die sexuelle  Laxheit,  was haben die denn zu tun  mit unseren  innertheologischen Streitigkeiten? Und die Korinther hätten wahrscheinlich gesagt: Ist ja großartig, wir werden gerecht allein durch den Glauben, ohne des Gesetzes Werke, dann können wir ja vergnügt weitermachen. Dahinter steckt ein ernstes Argument. „Wort Gottes ist Wort Gottes, wenn es gewinnende Rede ist, und gewinnende Rede heißt situationsbezogene Rede. Rede nach Maß."
Ein dritter Gesichtspunkt folgt.

Dritte These:
Zum Verstehen biblischer Texte gehört notwendig, über den wortlautgebundenen Inhalt hinaus die damalige Situation, das heißt zum Beispiel die damaligen Gemeindeverhältnisse, die theologische oder allgemein geistige Anschauungswelt, die besondere Art der Angeredeten usw. so genau wie möglich zu erfassen. Anders: Einen biblischen Text verstehen heißt, das Zusammenschmelzen von Botschaft, von Inhalt und Situation zu einer lebendigen, gewinnenden Rede zu durchschauen.
Zunächst ist das leicht einzusehen: Das Verständnis der Bibel hat doch besondere Voraussetzungen. Es genügt nicht, daß man eine Bibel hat und guten Willens ist, sondern um der Art der biblischen Texte willen gehört unbedingt dazu, die jeweilige damalige Situation mit zu verstehen. Warum?
Weil ich sonst den biblischen Wortlaut aus einer konkreten, gewinnenden Rede ummünze zu einer unpersönlichen Mitteilung, zu einer angeblich zeit- und situationsüberlegenen Lehre. Aber damit erwürge ich das Leben, das in ihm pulsiert hat. Ich ,,schächte" gewissermaßen den lebendigen Organismus und darf mich nicht wundern, wenn dann nur noch der Leichnam an der Stange hängt, Worte, nichts als Worte - mit Hamlet gesagt. Nun aber weiter.
Wie erfaßt man die damalige Situation? Wie macht man das? Das ist nicht besonders schwer. Wir müssen herausbekommen, wie die damaligen Gemeindeverhältnisse waren, die damalige theologische oder allgemein geistige Anschauungswelt, und die persönliche Verfassung der Empfänger. Das läßt sich herausbekommen, indem man etwa einen deutschsprachigen biblischen Kommentar heranzieht oder mit der Konkordanz ähnliche Stellen durchsieht und die Unterschiede beachtet oder aber eine sogenannte „Einleitung" liest, das ist ein Spezialkommentar für Entstehungs- und Situationsfragen, oder daß man den erreichbaren Theologen fragt, der das ja wissen muß. Dann aber gelingt das Erfassen der Situation ziemlich mühelos. Warum, so können wir dann fragen, hat der Apostel Paulus hier davon und davon so geredet" Freilich, das macht Arbeit. Aber es ist eine ausgesprochen erfreuliche Form der Arbeit, weil man merkt, wie das uralte Wort lieben umschreibt.
Es könnte jetzt die Sorge entstehen, daß auf diese Weise der Wortlaut eines Abschnittes doch entkräftet wird. Wir denken ja oft: Was für eine bestimmte Situation gegolten hat, das kann ja wohl nicht für heule gelten.  Tatsächlich:  Situationsbezogenes  Verstehen  führt  manchmal  zu einem gewissen Abstand vom Wortlaut. Aber das ist kein zerstörerisches Unternehmen, sondern das ist ein positives Unternehmen, weil es deutlich macht, wo der eigentliche Inhalt liegt.
Wir sind jetzt am springenden Punkt unserer Überlegungen, jeder biblische Abschnitt hat bis heule etwas Unersetzliches und völlig Verbindliches. Aber das Verbindliche liegt heute oft hinter den gedruckten Worten. Der Wortlaut ist für uns heute oft das Exempel, das Beispiel, das Modell, wie Menschen gewonnen wurden für ein verbindliches Leben mit Gott. Insofern ist der Abstand vom Wortlaut, der manchmal entsteht, eine Brücke zu uns und eine erste Teilantwort auf die Frage: Wie finde ich in der Bibel Gottes für mich verbindlichen Willen?
Blicken wir zum Beispiel auf die ernsten Worte Jesu nach Mt.10, 34 37: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert" und „Ich  bin  gekommen,  den  Menschen  zu  entzweien  mit  seinem  Vater und die Tochter mit ihrer Mutter" Solche Rede des Herrn läßt wohl jeden erschrecken. Aber wir dürfen nicht übersehen, daß das eine besondere Rede für konkrete Menschen war. Wir dürfen nicht übersehen, dass das Jesus zu Juden gesagt hat, die vor lauter Generationenehrfurcht keinen Blick mehr hatten für Jesus. Die also bloß deshalb, weil er etwas Kritisches sagte gegen ihre Generationenverehrung, sagten, der kann nie der verheißene Messias sein, der Friedefürst von Jesaja 9.
Wer übersieht, daß das gewinnende Rede war an solche Leute, der muß doch eigentlich zum Fanatiker werden, der muß doch also zu dem Ergebnis kommen: Das gilt für alle Zeiten Wort für Wort, das heißt zu deutsch: Wo ich heute Scheidung vollziehe, um des Glaubens willen Scheidung vollziehe, bin ich pauschal im Recht. Nun ist vielleicht bekannt, daß genau dieser Text einer der Lieblingstexte der mittelalterlichen Kreuzfahrer war. Man kann sich das vorstellen. Das haben die Kreuzzugspfarrer gepredigt: „Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu senden, sondern das Schwert." Also geht hin an die Wetzsteine und wetzt sie. „Zur Rechten sieht man wie zur Linken einen halben Türken niedersinken." Das war die Auslegung von Mt 10. Oder wie ein Gegentext: Röm 12, 17-21. Das ginge uns ja glatter ein: „Haltet Frieden mit jedermann." Das entspricht der modernen Humanitätsauffassung und außerdem unserer sächsischen Mentalität. Wer diesen Abschnitt Wort für Wort nimmt, wer also wiederum übersieht, daß das einer Gemeinde gesagt wurde, deren geistliche Qualität außerordentlich groß war und nicht bestritten werden sollte, die aber leider- nein typischerweise, denn wo viel Licht ist, da ist viel Schatten - über ihre theologischen Meinungsverschiedenheiten (Judenchristen - Heidenchristen) niemals hinwegkam, wer also übersieht, daß das solchen Christen gesagt war, die Streit hatten, angeblich um des Glaubens willen, vielleicht auch zum Teil wirklich um des Glaubens und um des Heiligen Geistes willen Streit hatten, wer diese Situation übersieht, der wird wahrscheinlich zum dauernden Nachgeher, zum dauernden Pflockzurückstecker. Der wird weich.
Auch hier: Situationsbezogene Rede ist nicht zerstörende Art der Bibelauslegung, sondern vielmehr verbindlich machende Art der Bibelauslegung.
Was ist das aber: „hinter dem gedruckten Wortlaut"? Das Bekenntnis der Urchristenheit war einfach: Jesus Christus Kyrios; frei übersetzt:
Jesus Christus, unser Herr. Und dies hieß Befreiung, und dies hieß Erbarmen, und dies hieß Liebe. Aber mit Begriffen, so unaufgebbar sie sind, war noch nichts gewonnen. Sondern: Was heißt das nun, in dieser Situation barmherzig sein, frei bleiben, Liebe üben" Dies kann zum Beispiel heißen, sich frei zu machen von unerträglichen Verwandtenbindungen, und dies heißt zum Beispiel auch hingehen zu dem, mit dem man Streit hat, und sagen: Entschuldige bitte, das war nicht so unbedingt die feine englische Art, und das war ziemlich borniert usw. Dasselbe kann beides heißen, obwohl es, von außen betrachtet, ein Widerspruch ist. Was es aber heißt, das ist von Fall zu Fall verschieden, oder, anders ausgedrückt, das hängt von der Situation ab.

Vierte These:
Gottes Anrede, wie sie in biblischen Texten überliefert ist, gilt nicht nur Menschen vergangener Zeit, sie will vielmehr auch möglichst viele Menschen unserer Zeit erreichen und gewinnen.
Deshalb schließt das Verstehen biblischer Texte unumgänglich die Bemühung ein. Gottes ergangene Anrede für Menschen und in Situationen unserer Zeit hinein umzusprechen. Dazu gehört neben dem aufmerksamen Hören auf den Text selbst die immer neue, gründliche Beschäftigung mit charakteristischen Problemen und Situationen unserer Zeit.
Wenn ich verstanden habe, wie Gott damals zu Menschen geredet hat, dann habe ich noch nicht verstanden, was er mir sagen will, und das darf nicht so bleiben. Das haben uns die Reformatoren, vorzüglich Luther, in den Katechismen eingehämmert: Gott als solcher ist uninteressant, mein Gott ist interessant.
Aber wie wird die Brücke gebaut von der konkreten Rede von damals zur konkreten Rede für uns heute? Es kann nicht anders sein, als daß wir versuchen, die konkrete Botschaft von damals in die konkrete Situation von heute umzusprechen. Aber was heißt das?
Zunächst: Es gibt weiterhin das einfältige Lesen und Beherzigen der biblischen Texte, der biblischen Botschaft. Es gibt weiterhin hoffentlich zum Beispiel das, daß einer früh die Herrnhuter Losung aufschlägt, begierig nach Gottes Wort, es in sich aufnimmt, ein bißchen über es nachdenkt, betet und dann getröstet in seinen Alltag hinausgeht. Nur Dummköpfe könnten ein Interesse haben, dieses einfältige Lesen und Beherzigen der Bibel madig zu machen.
Es liegt mir daran, dies einfach einmal deutlich auszusprechen. Aber es muß hinzugefugt werden, daß das einfältige Lesen und Beherzigen der Bibel in unserer Zeit nicht mehr ausreicht, und zwar um unserer Normal- und Hauptsituation willen nicht mehr ausreicht. Denn die Haupt- und Normalsituation unserer Epoche ist, daß die meisten Menschen ohne Evangelium leben, theoretisch und praktisch. Diese Situation bedeutet: In unserer Zeit haben wir biblische Texte noch nicht verstanden, wenn wir ihren Wortlaut verstanden haben, weil die Situation von damals nicht mehr die Situation von heute ist.
Anders ausgedrückt: Verständnis der Bibel kann in unserer Zeit nicht mehr nur der Vertiefung des persönlichen Glaubens dienen und nicht mehr nur der Vertiefung des Glaubens der vorhandenen Gemeinde, sondern muß vielmehr dienen wollen und abzielen auf den Beginn neuen Glaubens bei den anderen, Kirche für andere, das heißt im Blick auf Bibelverständnis: permanent für sie verstehen, für sie auslegen, für sie sprechen, die ohne Evangelium leben, theoretisch und praktisch. Unsere Kardinalfrage, ich sage unsere, ist nicht mehr: Hast du die Bibel verstanden, sondern: bist du imstande, das, was du verstanden hast, weiterzusagen, daß es verstanden wird?
Daraus ergibt sich: In unserer Zeit ist die naheliegende und die normale Form der Vertiefung des eigenen Glaubens das Sachgespräch über den Glauben mit Nichtglaubenden. Einfacher gesagt: Unsereiner kommt heutzutage am besten im Glauben weiter, wenn er das Gespräch aufnimmt und führt mit den Menschen, die nicht glauben. Das ist vielleicht unsere Form der Heiligung, nicht die einzige, aber eine wichtige.
Also „Umsprechen in unsere Situation". Wie macht man das? Daß man dabei auf den biblischen Wortlaut immer wieder hören muß, haben wir hoffentlich und eindeutig deutlich gemacht, und es sei nochmals vermerkt. Aber nun: Es gehört dazu Situationserkundung. Die Situation der Menschen von heute ist nicht mehr die der biblischen Zeit. Sie ist nur in einer so tiefen Tiefenschicht noch gleich, daß man sie schon gar nicht mehr nach oben kriegt im alltäglichen Verkehr. Währenddessen und daneben gilt aber: Es sind schwerwiegende grundsätzliche Unterschiede.
Eben zwischen dem Unglauben unserer Zeit und dem falschen Glauben der griechischen oder jüdischen Umwelt von damals. Paulus, wenn er Evangelium in Athen verkündigt, konnte seinen ersten Rundgang durch die Stadt immerhin zusammenfassen in dem Satz: „Ich habe gesehen, daß ihr die Götter gar sehr fürchtet." Ein Rundgang durch unsere Städte ergibt eine andere Beobachtung, und diese andere Situation müssen wir in Rechnung stellen. Und nun gilt, daß wir Christen normalerweise die Situationen der Menschen unserer Zeit nur unzu- reichend kennen. Vielleicht bestreiten wir das. Aufs Ganze gesehen wird es gelten. Das ist einfach die Folge davon, daß wir wenige sind, demzufolge wenig Kontakte mit Nichtchristen haben, wahrscheinlich aber auch gar nicht gewöhnt sind, die Situationserkundung für sehr wichtig zu halten. Heute ist die Situationserkundung eine dringende Aufgabe für die christlichen Gemeinden, sicherlich eine vorletzte, aber trotzdem eine dringliche. Man könnte sagen, die wichtigste Voraussetzung für das Umsprechen des Evangeliums außer dem Hören auf die Bibel.
Wenn ich heute gewinnend reden will, nach Maß reden will, dann muß ich wissen, wo den Betreffenden der Schuh oder der Hosenbund drückt.
Das Umsprechen ist also die Bemühung, im gleichzeitigen Hören auf den gedruckten biblischen Text und die konkrete Situation die befreiende Gegenwart des barmherzigen Herrn heute zu verdeutlichen. Das ist ein schöpferischer Akt. Er ist immer ein Stück Wagnis. Man kann damit das Ziel verfehlen. Aber all diese Gefahren sind nicht größer als die Gefahr, die wir gemeinhin als Gefahr noch nicht einmal erkannt haben, nämlich sich da herzustellen und biblischen Wortlaut zu wiederholen und dann denken, man habe nun das Fällige getan.
Es wird deutlich, daß es dazu einer Gruppe bedarf, daß es dazu der Kameraden im Geiste Gottes bedarf, die die Überlegungen mittragen, mitverantworten  und hinterher hart zurückfragen, wie es war, wie es gelang oder mißlang, um dann das nächste Mal zu versuchen, es besser zu machen. Halten Sie das vielleicht noch ein klein wenig manchen Pannen hier bei unserer Arbeit zugute. Dies kann schlecht einer für sich tun.
Beispiel Mt 10: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert." Was sagt das in unserer Situation" Zunächst einmal muß man wohl sagen, die Menschen unserer Epoche kranken nicht an neurotischer Vater-und-Mutter-Verehrung, sondern die Bedrohung liegt eher andersherum. Wer also einmal Mt 10 mit einem Jugendkreis bearbeiten will, von dem er ganz genau weiß, daß neun von zehn mit ihren Eltern in verborgener oder offener Fehde leben, kann bitte nicht sagen: „Er ist gekommen, das Schwert zu senden", sondern müßte mit dieser Gruppe in ein ganz ruhiges Sachgespräch eintreten, warum die meisten gegen ihre Eltern sind, und müßte dann gemeinsam mit ihnen abwägen, inwieweit sie recht haben, Mt 10 also für sich in Anspruch nehmen könnten, oder nicht recht haben und Röm 12 für sich in Anspruch zu nehmen hätten. Und nur, wer in dieses schöpferische Niemandsland hineingeht, vor dem keiner Angst haben soll, weil es zweiseitig abgesichert ist: durch Gottes Wort und durch die Partnerschaft der Gruppe, den kann die Botschaft treffen. Wer in dieses Niemandsland nicht aufbricht, der liest und verkündigt Worte, nichts als Worte, von denen jeder sagen muß: Mit mir hat das nichts zu tun.
Umgekehrt: Wer über Röm 12 zu arbeiten hätte mit einer Gruppe ausgesprochen gereifter Menschen, die also im stillen unter der Devise leben, die viel für sich hat: „Reden ist Silber. Schweigen ist Gold: und weil das, was ich sage, ohnehin nicht vollkommen sein kann, sage ich am liebsten gar nichts", der müßte über Mt 10 besser reden und Röm 12 zurücktreten lassen.
Und deshalb habe ich diese beiden Abschnitte hier gegenübergestellt.
Nicht, damit man anfängt, in einer überlegenen Weise die Dinge zu einer großen Harmonie zusammenzubauen, dort ein bißchen abzustreichen und dort ein bißchen abzustreichen, und am Ende geht das schon irgendwie. Auch nicht, um zu verzweifeln und zu sagen: Ich werde ja schizophren, sondern um ganz einfach zu entdecken, und zwar fröhlich zu entdecken: Umsprechen in die Situation, das ist die lebendige Sprache des lebendigen Herrn.
Fs folgt die letzte These.

Fünfte These:
Das situationsbezogene Verstehen biblischer Abschnitte garantiert keineswegs, daß Glauben entsteht. Der Glaube an das Evangelium ist und bleibt Werk des Heiligen Geistes, welcher sich methodisch nicht kanalisieren läßt.
Aber der Heilige Geist erübrigt auch keineswegs die möglichst sachgemäße  menschliche  Bemühung  um  das  Verstehen  biblischer Abschnitte. Deshalb: das situationsbezogene Verstehen muß nicht vom Heiligen Geist geführt sein. Aber das lediglich wortlautbezogene Nachsprechen biblischer Texte widerspricht ihrer Art, die durch das Wirken des Heiligen Geistes zustande kam.
Wir nehmen abschließend noch kurz das Wort zu einem innerkirchlichen Problem, so wie die l. These zu einem innerkirchlichen Problem Stellung nahm.
Man hört gelegentlich: Wo kommt bei eurem Reden vom Umsprechen eigentlich der Heilige Geist vor? Oder: Ihr setzt menschliche Methoden an die Stelle des göttlichen Geistes. Manche sehen in der Bemühung, Gottes Wort in unsere Situation umzusprechen, eine unnötige, ja wohl letztlich gar ungläubige Nervosität, die Gottes Wort aufhelfen will, das doch keiner Hilfe bedarf.
Deshalb noch als Klärung:
Es gibt keine Methode, die Glauben erübrigt oder garantiert, weil es keine Methode gibt, die den Heiligen Geist erübrigt oder garantiert. Auch im Blick auf, gestatten Sie dieses Wort, unsere Methode gilt: „Der Geist weht, wo er will!" Das heißt, dass, sollte er bei uns wirken, wir nicht wissen, woher er kommt und wohin er fährt.
Aber der Heilige Geist, von dem alles abhängt, erübrigt auch nicht unsere menschliche Bemühung. Es scheint gerade für manche überzeugten Christen, von deren Einsatz wir sonst leben und deren Erkenntnis wir sonst nur schätzen können, es scheint gerade für manche überzeugten Christen ein heimliches Dogma zu bestehen, daß der die größte Chance hat, den Heiligen Geist zu bekommen und zu verbreiten, der die Bibel in möglichster Wortlaut-Treue glaubt und weitergibt. Und dazu wäre ganz einfach zu sagen, daß dies auch eine bestimmte Methodengläubigkeit wäre, die auch zur Buße gerufen werden muß: ,,Der Geist weht, wo er will, und wenn er weht, wissen wir nie, woher er kommt und wohin er fährt und warum er ausgerechnet zu uns gekommen ist."
Es wäre also Entscheidendes gewonnen, wenn wir uns zusammenfänden unter der Bitte: „Kyrie eleison" oder zu deutsch: „Erbarme dich, komm, Schöpfer Geist!"
Schließlich aber: Die dargelegte Art situationsbezogener Schriftauslegung ist keine moderne Erfindung. - Das stimmt einfach nicht. Es ist einfach eine Wiederentdeckung im Wesen der Bibel selbst angelegter Art. Das wollten die beiden Abschnitte Mt 10 und Röm 12 zeigen.
In einer Zeit, in der die meisten Menschen dem Christentum irgendwie verpflichtet waren, konnte man die Bedeutung der Situation verhältnismäßig unbeschadet vergessen. Heute aber, wo die meisten Menschen ohne Evangelium leben, erinnert uns Gott durch diese Situation, die mit seiner Genehmigung entstanden ist, an die von ihm selber gewollte und angelegte Art seines guten Wortes.
Es ist also der Widerspruch zwischen Gottes Verheißung und unserer Wirklichkeit, der uns nach vorn zwingt, und nicht irgendwelche Sucht nach Neuerungen, Es kommt darauf an, das Evangelium so auszusprechen, daß Menschen, fernab von ihm, seine Bedeutung für ihr tatsächliches Leben bemerken. Was daraus wird, bleibt abzuwarten.
Wir können nur darum bitten, daß etwas daraus wird, aber wir können auch wirklich bitten, daß heißt, nicht bloß seufzen, sondern hoffend erwarten, daß etwas daraus wird!
 

(Der vorstehende Beitrag wurde veröffentlicht in: Gott glauben - gestern, heute, morgen: Reflexionen über christliche und kirchliche Existenzweisen: Festschrift zum 70. Geburtstag von Landesbischof i. R. Dr. Dr. h.c. Leich. Weimar 1997. Wir danken dem Wartburg Verlag. Weimar, für die freundlich erteilte Abdruckgenehmigung.)
(Amtsblatt der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens, 31.3.1998 S.B13ff)