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Zitate aus dem Buch:
Uwe Lehnert: Warum ich kein Christ sein will,
TEIA AG Berlin, 2009, ISBN 978-3-939520-70-2
(Unter dieser Internetadresse können Sie fast das gesamte Buch lesen: http://www.teialehrbuch.de/Kostenlose-Kurse/Warum-ich-kein-Christ-sein-will/index.html )

 

 

(12) Es geht um nichts Geringeres als um die Wesensfragen unserer Existenz hier auf dieser Erde, die sich so viele andere Menschen vor mir auch schon gestellt haben: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Worauf können wir hoffen? Wer will ich sein, wer sollte ich sein? Wer oder was gibt dem Ganzen einen Sinn? Das intensive Suchen nach Antworten, ja möglichst Gewissheit in diesen existenziellen Fragen drückte sich in der Phase des Abiturs in dem ernsthaften Wunsch aus, Theologie zu studieren. Die Ahnung, dass dies für mich zu keinem guten Ende fuhren würde, ließ diese Absicht aber wieder in den Hintergrund treten. Die damals verdrängte Frage nach meiner Einstellung zu Christentum und Kirche ist für mich nach dem Ende meines Berufslebens wieder bedeutsam geworden und wird ein zentrales Thema dieses Buches sein. Ich versuche, vor mir zu begründen und möchte anderen erklären können, warum ich kein Christ sein kann und auch nicht sein will.

 

(14) Vor allem ist es die streng logische und systematische Denkweise der heutigen Naturwissenschaften und ihre empirische Verankerung, die ich mir zum Vorbild genommen habe. Nur diese Denkweise und Forschungsmethodik hat die faszinierenden Erfolge der Astronomie, der Physik, der Biologie oder beispielsweise der Medizin ermöglicht. Nur Logik und Empirie sind meines Erachtens in der Lage, verlässliche Erkenntnisse über unsere Welt zu gewinnen. Dabei ist mir sehr wohl bewusst, dass es Bereiche gibt, über die die Wissenschaft prinzipiell nichts sagen kann. Und ich verkenne auch nicht, dass unsere Einsichtsfähigkeit immer auch zeitbedingte und vermutlich wohl auch prinzipielle Grenzen hat. Dennoch bilden nach meiner Überzeugung rational-logisches Denken und naturwissenschaftlich erarbeitetes Wissen die sicherste und intellektuell befriedigendste Basis für unser Denken und Handeln. Denn worüber man nichts Begründetes sagen kann, kann man allenfalls spekulieren.
Sich seines Denkvermögens zu bedienen, heißt deshalb für mich, nichts zu »glauben«, was dem Verstand und wissenschaftlicher Erkenntnis eindeutig widerspricht. Zwar kann auch Wissenschaft nicht alles erklären, aber Glaube erklärt gar nichts. Damit möchte ich religiösen Gedanken nicht von vornherein ihre Berechtigung absprechen, aber feststellen, dass der Glaube zum Verständnis unserer Welt meines Erachtens nichts beiträgt.

 

(15) Ich meine, dass es jedem erlaubt sein muss, an existenzielle Fragen mit jenem Verständnis heranzugehen, das man als »gesunden Menschenverstand« zu bezeichnen pflegt. Es kann doch nicht richtig sein, dass man nur nach einem mehrjährigen akademischen Studium der Theologie oder der Philosophie befähigt sein sollte, für sich gültige Antworten in Fragen des rechten Glaubens und eines erfüllten Lebens zu finden. Jeder Mensch, ob gebildet oder nicht, ob studiert oder nicht, ob geistreich oder einfach denkend, hat das Recht, nach den für ihn »richtigen« Antworten zu suchen. Die Kriterien allerdings, die ich an die Aussagen meines »Weltbildes« anlege, sind innere Stimmigkeit, sie dürfen sich also logisch nicht widersprechen, und sie sollten mit meinen Erfahrungen übereinstimmen, insbesondere dürfen sie derzeit als gesichert angesehenen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht zuwiderlaufen.

 

(21) Heutige Naturwissenschaftler gehen jedenfalls von der These aus, dass die Welt regelhaft strukturiert ist, wenigstens teilweise erkennbar und daher wenigstens teilweise durch Wahrnehmung, Nachdenken und Wissenschaft in Form von Hypothesen beziehungsweise Theorien erklärbar ist.
Noch einmal zurück zu PLATON. Mit seiner Auffassung, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen den Erscheinungen und den von ihm behaupteten »ldeen« gibt, stimmt der hypothetische Realismus insofern überein, als auch er feststellt, dass es oft eine erhebliche Differenz gibt zwischen den über unsere Sinnesorgane gewonnenen Anschauungen und der objektiven Natur der Dinge. Der Blick in den nächtlichen Sternenhimmel oder in einen Garten mit bunten Sträuchern und duftenden Blumen enthüllt uns nur einen Bruchteil dessen, was sich »hinter« den Erscheinungen tatsächlich verbirgt. Und das, was wir wahrnehmen und glauben zu erkennen, hat meist mit der objektiven Realität wenig Ähnlichkeit. Einerseits sind wir für die meisten Eigenschaften der uns umgebenden Natur »blind«, weil wir für diese Merkmale - wie zum Beispiel Ultraschall, Magnetismus, Radioaktivität - überhaupt keine Wahrnehmungsorgane besitzen. Andererseits »konstruiert« unser Gehirn beim Blick in die Natur Eigenschaften, wie etwa ein leuchtendes Grün oder einen betörenden Duft, die so objektiv gar nicht existieren, sondern Schöpfungen unseres Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparates sind.

 

(34) So gesehen ist Naturwissenschaft der Versuch, die uns durch die Natur beziehungsweise Evolution gesetzten Grenzen des Wahrnehmens und Erkennens zu überwinden. Wir »erweitern« unsere Sinnesorgane durch Mikroskope, Fernrohre, Mikrofone, Kameras, Messinstrumente usw. und wir »erweitern« unsere kognitive Informationsverarbeitungskapazität und Vorstellungsmöglichkeit durch Modelle, Mathematik und Computer. Die Naturwissenschaften machen sichtbar, was wir unmittelbar nicht sehen.

 

(37) Unser Erkenntnisvermögen, unsere Anschauung und Sprache haben sich evolutiv an den mesokosmischen Strukturen entwickelt und können in diesem »mittleren« Bereich erfolgreich eingesetzt werden, um Informationen über die Welt zu gewinnen, zu formulieren und anzuwenden. Mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden gelingt es, auch über den mikrokosmischen und makrokosmischen Bereich Erkenntnisse zu erlangen, diese immer wieder auf Gültigkeit zu testen und dadurch ständig zu verbessern. Alle Erkenntnisse sind aber immer hypothetisch, das heißt, wir können ihrer nie ganz sicher sein, sie können aber so lange als zutreffend gelten, wie sie nicht durch andere Erkenntnisse relativiert oder gar widerlegt werden. Es ist sogar objektive Erkenntnis möglich. Wir können aber der Objektivität oder Wahrheit auch objektiven Wissens nie absolut sicher sein, da alle Erkenntnis eben immer hypothetisch ist.

 

(56) Die Annahme, dass »das alles« schon immer da gewesen sein sollte, unbegrenzt in Zeit und Raum, aber auch die gegenteilige Vorstellung, dass »das alles« von einem Wesen, Gott genannt, erschaffen worden sein soll, das selbst aber unerschaffen sei, also schon immer und ewig existieren soll, erzeugt beim intensiven Darübernachdenken in meinem Kopf ein logisches Tohuwabohu und lässt in mir ein Gefühl entstehen, als ob mir der Kopf zerspringen würde. Es ist so, also ob die neurologischen Schaltkreise in diesem Moment »durchdrehen« und bei der Anwendung der erlernten Logik bloß einen antwortlosen Gedankenwirbel  erzeugen.  Die  Frage nach einer letztendlichen Ursache will nicht verstummen, aber sie überfordert unseren Verstand hoffnungslos.

 

(61) »Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse werden zwar in der Schule gelehrt; sie tragen auch einiges zum Verständnis der Natur, aber wenig zum Verständnis der Kultur bei. ... So bedauerlich es manchem erscheinen mag: Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht.« (Dietrich Schwanitz: Bildung – was man alles wissen muss; Eichborn AG, Frankfurt, 1999).
Hier zeigt sich - ich möchte das an dieser Stelle einmal so deutlich formulieren - die typische Ignoranz, ja Arroganz eines weit verbreiteten Typs von Geisteswissenschaftlern mit einem sehr traditionalistischen Bildungsbegriff, der nicht selten auch noch damit kokettiert, von »Physik und Mathematik keine Ahnung zu haben«. SCHWANITZ hätte stattdessen darüber nachdenken sollen, was er - und natürlich wir alle - zum Beispiel den Astronomen NIKOLAUS KOPERNIKUS (1473-1543) und JOHANNES KEPLER (1571-1630) sowie dem Philosophen, Mathematiker und Physiker GALILEO GALILEI (1564-1642) zu verdanken haben. Sie lösten durch das von ihnen vertretene heliozentrische System die von der Kirche behauptete Auffassung von der gottgegebenen Stellung der Erde als Mittelpunkt der Welt ab. Der Philosoph und Astronom GIORDANO BRUNO (1548-1600) ging noch darüber hinaus und behauptete schon damals, dass das Universum unermesslich groß sei und von unzähligen Sonnen wie die unsere erfüllt sei. An jedem Ort des Kosmos könnte man den Eindruck haben, im Mittelpunkt der Welt zu stehen. Von daher verbiete es sich, die Erde oder unser Sonnensystem als Zentrum einer göttlichen Naturordnung anzusehen.

Worin bestand - neben der wissenschaftlichen Leistung - die geistig-kulturelle Bedeutung dieser Wissenschaftler? Man kann es in einem Satz sagen: Sie wagten es, ihre Einsichten und Beobachtungen über die Autorität der Kirche und der Bibel zu stellen, sie trauten sich, ihren Verstand zu be- nutzen und ihre empirischen Erkenntnisse gegen nur behauptete, angebliche Wahrheiten, wie sie zum Beispiel auch in den alten Schriften eines ARISTOTELES (384-322 v. Chr.) niedergelegt waren, zu setzen. Sie leiteten damit die entscheidende Wende im Denken jener Zeit ein und etablierten neben der Philosophie und Theologie die Naturwissenschaften als dritte prägende kulturelle Disziplin.

 

(69) In den Naturwissenschaften hat der Begriff der Theorie eine deutlich andere, durch bestimmte Merkmale genau definierte Bedeutung. Eine gute naturwissenschaftliche Theorie zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus: Präzision in den Begriffen und in der Aussage (was sich oft darin ausdrückt, dass die Theorie in mathematischer Form abgefasst ist), Möglichkeit zur Ableitung neuer Erkenntnisse und damit Möglichkeit zur exakten Voraussage von zukünftigen Ereignissen beziehungsweise Abläufen, und schließlich eindeutige Überprüfbarkeit der Theorie an der Wirklichkeit. Die Eindeutigkeit und Zuverlässigkeit einer naturwissenschaftlichen Aussage oder Theorie sind meines Erachtens somit ungleich höher einzuschätzen als dies bei Einsichten und Erkenntnissen im Bereich der Kultur- oder Geisteswissenschaften der Fall ist. …

Naturwissenschaftliche Aussagen werden zwar grundsätzlich als Hypothesen angesehen und müssen so formuliert werden, dass sie überprüft werden können. Sie können auch nur so lange Gültigkeit beanspruchen, wie sie nicht widerlegt worden sind. Das Prozedere der Naturwissenschaften garantiert aber höchstmögliche Zuverlässigkeit, zwar keine absolute, da eben alles Wissen prinzipiell hypothetisch ist, bei sorgfältiger Beachtung wissenschaftlicher Standards jedoch führt solches Vorgehen zum jeweils bestmöglichen Erkenntnisstand.

Kultur- und geisteswissenschaftliches Wissen besteht aus subjektiven Erfahrungen, Meinungen, Behauptungen, Wertmaßstäben, Sinnsetzungen und Deutungen, ferner auch aus so genannten Glaubensgewissheiten und Offenbarungen einzelner Menschen. Naturwissenschaftliches Wissen kann im Prinzip objektiver Natur sein, auch wenn wir niemals wissen können, ob eine Erkenntnis tatsächlich objektiv zutrifft, kulturelles Wissen ist subjektiver, allenfalls intersubjektiver Natur. Kennzeichnend für die Naturwissenschaft ist das Bemühen, die Welt objektiv zu beschreiben, den Einfluss des Subjekts also soweit wie irgend möglich auszuschließen, während es in den Kultur- und Geisteswissenschaften vor allem um das Wissen und die Erfahrung des Subjekts geht.

 

(80) Doppelspaltversuch …
Bei diesem Experiment wird einfarbiges Licht auf eine Platte gestrahlt, die einen Doppelspalt enthält. Der Doppelspalt besteht aus zwei parallelen, senkrecht angeordneten, schmalen, dicht beiinenader liegenden Schlitzen. Hinter dieser Platte befindet sich eine Projektionswand, die den Teil des Lichtes auffängt, der den Doppelspalt passieren kann …
Auf der Projektionswand zeigt sich ein Muster aus hellen und dunklen Streifen. Dieses Muster entsteht durch Überlagerung der durch die Öffnungen in der Platte gelangten Lichtwellen. Man bezeichnet diese Überlagerung von Wellen auch als Interferenz. Bei dieser Interferenz bilden sich Bereiche der Verstärkung aus (helle Streifen) sowie der Abschwächung bis hin zu völliger gegenseitiger Auslöschung (schwarze  Streifen). Das höchst Bemerkenswerte an diesem Versuch ist nun die Beobachtung, dass er nicht nur bei Lichtwellen zu diesem Interferenzmuster führt, sondern auch dann, wenn Elektronen, Neutronen, Protonen, Atome oder Moleküle benutzt werden, Mikroobjekte also, die sich sonst wie Teilchen verhalten. Ja selbst dann, wenn nur einzelne Elektronen oder Atome nacheinander die Versuchsanordnung durchfliegen, zeigen sich diese Interferenzmuster. Das heißt, dass auch diese klassischen Teilchen unter bestimmten Bedingungen Welleneigenschaften zeigen. Man spricht daher auch von Materiewellen. (Ein anschaulicher Begriff, der allerdings heute nicht mehr gebräuchlich ist).

 

(136)  Mit wenigen Ausnahmen (siehe z.B. die Reformationsbewegung des Calvinismus oder Luthers Lehre »Vom unfreien Willen« ist nach christlicher Lehre der Mensch mit einem freien Willen ausgestattet und kann sich in freier Selbstbestimmung für das Gute oder das Böse entscheiden. Die ihm gegebene Willensfreiheit lässt ihm - so die Lehre - die Wahl zwischen einem gottgefälligen oder gottabgewandten Leben. Dabei sind erhebliche theologische Argumentationskünste erforderlich, göttliche Allwissenheit logisch mit der individuellen Willensfreiheit zu vereinbaren. Denn wenn Gott alles weiß, dann weiß er auch, wie sich ein Mensch entscheiden wird. Das aber hieße, dass die Entscheidung im Voraus schon bekannt ist, also eigentlich schon feststeht. Wie ist dann aber noch eine freie Entscheidung durch den Menschen möglich? Dieser logische Widerspruch ist nur mit sehr viel Argumentationsakrobatik aufhebbar. Der österreichische Schriftsteller FRANZ KAFKA (1883-1924) brachte diesen Widerspruch auf die einfache Formel:

»Wie kann denn überhaupt jemand schuldig sein? Wir sind Gottes Geschöpfe. Wenn wir schuldig sind, was ist er dann?«

In theologischer Sicht lässt aber noch ein weiterer Aspekt die Freiheit der Willensbildung fragwürdig erscheinen. Kann es sich wirklich um eine freie Willensentscheidung handeln, wenn die beiden Entscheidungsalternativen so ungleich bewertet werden? Wendet sich der Mensch mit seiner Entscheidung von Gott ab, macht er sich der Sünde schuldig, im schlimmsten Fall droht ihm ewige Verdammnis. Angeblich hat Gott den Menschen mit der Freiheit ausgestattet, sich für ihn oder gegen ihn zu entscheiden. Gleichzeitig wird dem Menschen aber von theologischer beziehungsweise kirchlicher Seite sehr nachdrücklich bedeutet, dass nur das Ja zu Gott, der unbedingte Glauben an ihn die rechte Entscheidung darstellt. Die Verweigerung gottgefälligen Verhaltens gilt als Verrat an Gott. Kann man da noch von einer wirklich freien Willensbildung sprechen, wenn eigentlich folgsames Verhalten erwartet wird und die Alternative dazu eine strafbewehrte Sünde darstellt, im Extremfall sogar mit ewiger Verdammnis geahndet wird?

 

(143) In einem Punkt erheben wir uns vielleicht über die Natur: Wir sind im Begriff, ihrer Erbarmungslosigkeit auszuweichen, indem wir ihre Gesetze erkennen und so zu Mitgestaltern im Sinne von mehr Menschlichkeit werden können. Die heimliche Sorge vor den Fortschritten der Hirnforschung, die so manchen Vertreter der Willensfreiheit umtreibt, stellt sich mir dar als Hoffnung auf mehr einfühlendes und helfendes Verstehen im mitmenschlichen Umgang.

 

(145) Zu solchen Provokationen des Verstandes gehören für mich zum Beispiel die angeblich grenzenlose Güte und Barmherzigkeit Gottes und das gleichzeitig zu beobachtende durch Mensch und Natur ausgelöste maßlose Leid auf dieser Welt. Dazu gehört die Behauptung, dass die von Gott kommende Botschaft eine Botschaft der erbarmenden Liebe sei, aber die Geschichte dieser Lehre ist durchzogen von einer blutigen Spur: Kreuzzüge, Ketzerverfolgungen, Inquisitionsgerichte, Hexenverbrennungen und Sklaverei mit Millionen dahingemetzelter, verbrannter oder sonstwie zu Tode gequälter Menschen. Und - um ein weiteres Beispiel zu nennen - Altes und Neues Testament als angebliches Gotteswort enthalten eine solche Fülle an grausamen, geradezu sadistisch zu nennenden göttlichen Bestrafungen und Strafandrohungen, dass entweder an der Menschenfreundlichkeit dieses Gottes oder an der behaupteten göttlichen Urheberschaft dieser Texte gezweifelt werden muss.

Ich kann mich mit solchen Widersprüchen nicht abfinden. Das wäre nur möglich, wenn mir diese Dinge gleichgültig wären. Sie sind es aber nicht, sie beschäftigen mich seit der Zeit des Konfirmandenunterrichts.

 

(147) Fragte ich einen katholischen oder evangelischen Mitmenschen, … worauf er sein christliches Bekenntnis begründe und was er für wichtig halte, wurden in der Regel die Zehn Gebote und die Bergpredigt genannt, der Glaube an Jesus Christus und natürlich an Gott.
Fragt man jetzt detaillierter weiter, dann wird nur in wenigen Fällen der Befragte ein klares, streng christliches Bekenntnis ablegen wollen, vielmehr wird deutlich werden, dass er über die meisten Fragen überhaupt noch nicht wirklich nachgedacht und keine eigene Entscheidung getroffen hat. Solche Fragen könnten die nach dem »persönlichen« Gott sein, also nach Gott als Person, nach dessen Ebenbild angeblich der Mensch geformt wurde, nach seiner ganz persönlichen Meinung zur so genannten Erbsünde, zur Sündenvergebung und Erlösung durch den Opfertod von Jesus Christus am Kreuz, nach dem Glauben an eine tatsächliche leibliche Auferstehung oder aber an die ewige Verdammnis in einer jenseitigen Hölle. Spätestens an dieser Stelle erwidern die meisten, dass sie sich darüber so genau noch keine Gedanken gemacht hätten oder das Ganze eher symbolisch verstünden oder eigentlich überhaupt als überholt, wenngleich aus moralischen Gründen als ganz nützlich erachteten, wenn nicht gar unverzichtbar für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

 

(153) An dieser Beweisführung (Gott als erste Ursache) kann Verschiedenes kritisiert werden. Zunächst kann man sich fragen, warum ein »unverursachter« Gott die erste Ursache sein sollte, warum nicht eine unverursachte Urkraft oder ein ungöttliches allgemeines Prinzip. Zudem kann man argumentieren, wenn Gott als unverursacht angenommen wird, warum kann dann nicht auch das Universum als unverursacht, also ohne Grund ewig bestehen. Hinzu kommt eine formal-logische Kritik, die auf die Widersprüchlichkeit der Argumentationsform zielt. Wenn man eingangs formuliert (in der so genannten Prämisse), dass aufgrund des Kausalitätsprinzips alles eine Ursache habe, dann kann man nicht plötzlich argumentieren, für den ersten Verursacher, also für Gott, gelte dieses Kausalitätsprinzip nicht. Auch lässt sich einwenden, dass eine unendliche Kausalkette denkbar sei, und das Universum von daher keine eigentliche anfängliche Ursache haben müsse

 

(158) Selbst der katholische Theologe HANS KÜNG (* 1928), Autor vieler mit Gott und Christentum befasster Bücher, bekennt seine Ratlosigkeit, wenn er in seinem Buch »Credo« schreibt:

»... ich gestehe darüber hinaus, dass ich nach Auschwitz, dem Gulag und zwei Weltkriegen erst recht nicht mehr vollmundig von >Gott, dem Allmächtigem reden kann, der da als >ab-soluter< Machthaber >los-gelöst<, unberührt von allem Leid, doch alles dirigiert, alles macht oder mindestens alles machen könnte, wenn er wollte, und der dann doch angesichts größter Naturkatastrophen und Menschheitsverbrechen nicht eingreift, sondern schweigt und schweigt und schweigt ... «.

Es ist aber nicht nur das verabscheuungswürdige Verhalten von Menschen, in viel größerem Maße ist es die Natur, die durch Krankheiten und Katastrophen die Ursache schlimmsten Elends darstellt. Lepra, Malaria, Pest und Krebs, um nur einige der verheerenden Krankheiten zu nennen, haben über die Jahrtausende Hunderte von Millionen Menschen erbärmlich dahinvegetieren lassen und um Lebensglück und Leben gebracht. Die Hilferufe nach oben zu Gott wendeten das Schicksal der Betroffenen nicht, erst moderne Wissenschaft und Medizin waren in der Lage, hier eine entscheidende, wenn auch noch keine vollständige Hilfe zu leisten.

 

(159) Anlässlich des Tsunami 2004 in Südostasien … traten die damals höchsten Vertreter der beiden großen christlichen Kirchen Deutschlands, KARDINAL LEHMANN und BISCHOF HUBER, am 9. Januar 2005 bei einem ökumenischen Gedenkgottesdienst im Berliner Dom auf. Beide rangen in ihren Predigten, rat- und hilfesuchend gen Himmel blickend, nach den hier noch möglichen Worten. KARDINAL LEHMANN verglich das Tsunami-Unglück mit der Sintflut der Bibel und erinnerte an frühere Naturkatastrophen, die Atombombenabwürfe, an Auschwitz und den Holocaust.

»Es gibt eben unsägliches, durch und durch unverständliches Leid. Auch die Bibel kennt die Klage gegen Gott.« Als Christ finde er keine andere Antwort als den Blick auf das Kreuz Jesu. Und er fragte laut und vernehmlich: »Gott, wo warst Du?«

Die Hilflosigkeit und die Bedrückung, die aus den Worten des Kardinals sprachen, fielen mir auf. Sie hatten nichts mehr von jener selbstsicheren, ja manchmal  selbstherrlichen Gottesgewissheit eines hohen kirchlichen Amtsträgers, der schon von Berufs wegen unbedingte Glaubenssicherheit ausstrahlen muss. Ich fand das menschlich und bewegend, weil es in seiner offen gezeigten Ratlosigkeit auf mich aufrichtig und wahrhaftig wirkte. Ein ähnlich bemerkenswertes Wort gibt es von PAPST JOHANNES PAUL II. anlässlich einer Generalaudienz im Jahr 2002:

»Es gibt neben dem Schwert und dem Hunger eine noch größere Tragödie, nämlich die des Schweigens Gottes, der sich nicht mehr offenbart und sich scheinbar in seinem Himmel eingeschlossen hat, so als sei er des menschlichen Tuns überdrüssig.«

Die Ausführungen der letzten fünf Seiten waren von der Frage geprägt, wer das Böse und das Leiden in unserem Leben verursacht und wer die Verantwortung dafür trägt - der Mensch, die Natur oder gar Gott? Den Menschen als den eigentlichen Sünder hinzustellen, wäre etwas zu einfach. Selbst wenn man ihm einen freien Willen unterstellte - »es stirbt kein Sperling ohne Gottes Willen«, wie Jesus einst verkündete. Mit dem freien Willen kommt eine andere, kaum lösbare Problematik hinzu: Warum gibt uns der allgütige Gott einen freien Willen, wenn er doch in seiner Allwissenheit wissen muss, dass wir ihn missbrauchen werden? Und was ist mit einem kleinen Kind, das krebskrank oder durch die Trümmer eines erdbebengeschüttelten Hauses qualvoll zu Tode kommt? Hatte es überhaupt schon eine Gelegenheit, aufgrund seines freien Willens Böses zu tun? Oder will man gar mit dem absurden Argument daher kommen, dass es schon durch die Erbsünde belastet und damit von vornherein schuldig sei?

Wenn - wie es geschrieben steht und täglich gepredigt wird - Gott die Eigenschaften Allmächtigkeit, Allwissenheit und Allgüte (im Sinne allumfassender Güte oder Barmherzigkeit) zukommen, dann bleibt es unverständlich, warum er all dies  geschehen lässt und gleichgültig »schweigt und schweigt und schweigt«. Im übrigen kommt der Mensch gegenüber Krankheiten und naturbedingten Katastrophen - wie oben schon festgestellt wurde - nur in weitaus geringerem Maß als Ursache für das Leiden in Frage. Krankheiten, Missbildungen, Seuchen und Naturkatastrophen bewirken ungleich mehr an Leid und Elend.

 

(164) Im christlichen Verständnis ist Gott moralisch vollkommen, hasst das Leiden, liebt den Menschen, ist unendlich barmherzig.

Da aber physisches und moralisches Übel zweifellos in der Welt in für menschliche Maßstäbe unfassbarer Größe existieren, bleibt als logische Konsequenz nur anzunehmen, dass entweder Gott nicht allmächtig ist oder nicht allgütig oder sich für die Welt und ihre Menschen nicht interessiert, also nicht willens ist, das Übel und das Böse zu verhindern. Was Menschen im christlich-abendländischen Bereich früher kaum zu denken wagten, dürfte dennoch die logisch befriedigendste Lösungsvariante darstellen: dass es nämlich diesen von uns mit menschlichen Eigenschaften versehenen Gott gar nicht gibt. Ein Argument gegen die Existenz eines Gottes überhaupt wären Leid und Elend in dieser Welt jedoch nicht!

In Diskussionen wird an dieser Stelle gern eingewandt, dass man die Güte Gottes nicht nach menschlichen Kategorien beurteilen dürfe. Aber – so möchte ich einwenden - was wäre das für ein Gott, der nicht einmal die bescheidenen Formen von Zuwendung und Gerechtigkeit kennt, die wir als Basis ganz elementaren mitmenschlichen Handelns empfinden und die im Zentrum des allgemein akzeptierten menschlich-moralischen Verhaltens stehen. Und noch ein weiterer Einwand wird an dieser Stelle vorgebracht. Gottes Wesen übersteige alles menschliche Erkenntnisvermögen, deswegen sei es anmaßend und geradezu hochmütig, mit den eigenen bescheidenen Verstandesmitteln die im Rahmen der so genannten Theodizee aufgeworfene Problematik bewältigen zu wollen. Hier könne man eben nur glauben.

 

(178) Anders als Bibel und Kirche uns weismachen wollen, sind moralische Prinzipien nicht von Gott dem Menschen in Form offenbarter Texte vorgeschrieben worden, sondern haben sich im Laufe der Menschheitsgeschichte auf evolutionärem Wege von selbst herausgebildet. Es haben sich in Jahrtausenden jene Regeln des Zusammenlebens herauskristallisiert, die das Überleben einer Gesellschaft am besten ermöglichten. Moral, also ein System von sittlichen Normen, das dem Mitmenschen und der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gut tut, hat sich auf diese Weise selbst konstituiert. Dass dem wohl so ist, dafür spricht die Tatsache, dass weltweit weitgehend dieselben Grundsätze gelten: Du sollst nicht töten, nicht lügen und betrügen, du sollst das Eigentum des Anderen respektieren, du sollst dem in Not Geratenen helfen und weitere, weltweit übereinstimmende Gebote. Dabei dürfte unbestritten sein, dass die behauptete Existenz eines höheren Wesens, das nach dem Tode angeblich gutes Verhalten belohnen und schlechtes bestrafen würde, solchen grundlegenden Normen höchste Autorität verlieh.

 

(187) Wenn Naturwissenschaftler sich als gläubig bezeichnen, dann ist es zumeist ein allgemeiner Gottesglaube, der sich als Glauben an eine nicht näher bestimmte umfassende göttliche Idee, an einen kosmischen Geist von Ordnung und Harmonie, an eine Macht als Urgrund und Ursache alles Seienden darstellt. Die wenigsten Naturwissenschaftler glauben an einen persönlichen Gott, so wie er in der Bibel beschrieben wird, der in die individuellen Geschicke eingreift, der durch Beten gnädig gestimmt werden kann und der auch ein Leben nach dem Tod verheißt. Die Elite der US-amerikanischen Naturwissenschaftler ist Mitglied in der National Academy of Science, die etwa 1800 Mitglieder zählt. Unter ihnen gelten besonders die Biologen als die größten Zweifler. 95 Prozent von ihnen geben an, Atheist oder Agnostiker zu sein.

ALBERT EINSTEIN (1879-1955) schrieb 1926 in einem Brief an den Physiker Max Born: »Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns doch nicht näher. Jedenfalls bin ich überzeugt davon, dass der nicht würfelt. «. EINSTEIN wollte mit dieser Formulierung seine Ablehnung der Quantentheorie untermauern. Aus diesen locker dahin geworfenen Worten wurde in der Öffentlichkeit der berühmte Ausspruch »Gott würfelt nicht«, der gern als Zitat verwendet wird, um zu belegen, dass er an Gott geglaubt habe. EINSTEIN bestreitet in einem 1954 geschriebenen Brief diese Auffassung:

»Es ist natürlich eine Lüge, was Sie über meine religiöse Überzeugung lesen, eine Lüge, die systematisch wiederholt wird. Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott und habe dies nie verhehlt, sondern habe es klar zum Ausdruck gebracht. Wenn es etwas in mir gibt, das religiös genannt werden kann, dann ist es die grenzenlose Bewunderung für die Struktur der Welt, so weit sie jedenfalls) die Wissenschaft erkennen kann. «

 

(191) Zu welchen theologischen Konstruktionen die Bedrückung über Gottes Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus führen kann, demonstriert uns der deutsch-amerikanische Philosoph und Religionswissenschaftler HANS JONAS (1903-1993). In seiner Schrift »Der Gottesbegriff nach Auschwitz«, die hier nur kurz erwähnt werden soll, hat er die These aufgestellt, dass Gott mit der Erschaffung des Menschen seine Macht selbst begrenzt habe. So sei er zwar allmächtig, habe aber, damit die Menschen nicht nur Marionetten seien, zugelassen, dass sie auch gegen ihn denken und handeln.

Ich sehe in dieser These nur den verzweifelten Versuch, die Existenz eines Gottes zu verteidigen, der menschlicher Logik und menschlicher Erfahrung immer mehr widerspricht. Eine solche Auffassung scheint mir unvereinbar zu sein mit der sonst verbreiteten Vorstellung von Gott als eines Wesens von reinster Moral und größter Barmherzigkeit. Kann man es wagen, einem Überlebenden des Holocaust, der Eltern und Geschwister grausam

verloren hat, eine solche Erklärung anzubieten, die nur erfunden wurde, um das Unbegreifliche logisch erscheinen zu lassen?

 

(192) Was bin ich nun? Bin ich ein Atheist, der Gottes Existenz strikt leugnet? Bin ich vielleicht doch eher ein Agnostiker, also einer, der das Göttliche für un- erkennbar hält, aber dessen Existenz nicht unbedingt verneint? Als ein mit Vernunft begabtes Wesen sehe ich mich jedenfalls nicht in der Lage, an den mir kulturell anerzogenen »lieben Gott« zu glauben. Denn wer einmal »vom Baum der Erkenntnis« gegessen hat, für den gibt es kein Zurück. Zu viele Widersprüche zwischen verkündeter Botschaft und erlebter Wirklichkeit tun meinem Verstand weh. Aber auch das weiß ich: Mein und unser aller Verstand ist begrenzt, vieles können wir nicht sehen, vieles nicht denken und begreifen, noch viel mehr nicht wissen, und wer weiß, wieviel wir nicht einmal erahnen?

So halte ich denn meinen Geist und meine Seele - so ich denn eine hätte - offen für Einsichten, die mir vielleicht bisher verborgen geblieben sind. Der Christ und der Muslim freuen sich auf den Himmel, der ihnen dereinst unendliche Freuden bescheren wird. Ich bin da bescheidener und freue mich darüber, ein wenn auch winziger Teil des Universums zu sein, der sich vorübergehend als ein »lch« empfinden und dieses unbegreiflichen Universums bewusst werden konnte. Vielleicht - so denke ich manchmal - hat ja das Universum uns Menschen hervorgebracht - aber das ist nun wirklich nur naives Phantasieren jenseits aller wissenschaftlichen Logik und Erkenntnis! - nur um sich durch uns seiner selbst bewusst zu werden.

 

(198) »Die Bücher des Alten Testaments stammen von Verfassern, durch die Gott zu den Menschen spricht und durch die das Volk Israel seinen Glauben an die Heilstaten und Verheißungen Gottes bekennt. Juden und Christen glauben an die Inspiration (Eingebung) dieser Bücher durch den Geist Gottes. ... Die Lehrer Israels haben das so empfangene Wort Gottes betend durchdacht, erläutert und erweitert. Schließlich fanden sich Männer, die der so weitergegebenen Überlieferung jene endgültige schriftliche Form gaben, die Jesus und die Urkirche als Heilige Schrift anerkannten und der Kirche anvertrauten.«

Und im Vorwort zum Neuen Testament der Einheitsbibel heißt es:

»Die im Neuen Testament ... enthaltenen urchristlichen Schriften wurden von der Kirche des 2. Jahrhunderts gesammelt, weil sie den Glauben der apostolischen und nachapostolischen Zeit auf zuverlässige Weise bezeugen. Nach Auffassung der Kirche sind sie unter dem Beistand des Heiligen Geistes abgefasst worden.«

Die katholische Kirche ist in ihrem neuesten, unter der Leitung des damaligen KARDINALS JOSEPH RATZINGER (*1927) (heute PAPST BENEDIKT XVI.) zusammengestellten und von PAPST JOHANNES PAUL II. 1992 herausgegebenen Katechismus noch deutlicher. Dort heißt es:

»Die Heilige Schrift ist Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet worden ist.« (S. 60) An anderer Stelle heißt es (S.

65): »Gott hat die menschlichen Verfasser (Autoren) der Heiligen Schrift inspiriert. « Weiter: »Die inspirierten Bücher lehren die Wahrheit. Da also all das, was die inspirierten Verfasser ... aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt gelten muss, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte.« (Kursivdruck im Original!)

Festzuhalten bleibt also, dass nach Überzeugung insbesondere der katholischen Kirche die Bibel, und das meint nicht nur Neues sondern ebenso Altes Testament, vom Heiligen Geist inspiriert ist und somit Gottes Wort darstellt und ohne lrrtum(!) die Wahrheit lehrt. Betont sei in diesem Zusammenhang, dass der hier zitierte Katechismus der für alle katholischen Gläubigen verbindliche aktuelle Leitfaden der christlichen Glaubenslehre ist. Es handelt sich um eine Schrift, die von höchster Stelle herausgegeben wurde.

 

(204) Einerseits ist festzustellen, dass über die Jahrhunderte und bis heute Millionen und Abermillionen Menschen tröstenden Zuspruch und moralischen Halt durch Bibel und Kirche erfahren haben. Auch die unermesslichen, teilweise lebenslangen Mühen und großen Opfer, die Menschen auf sich genommen haben, um durch Gotteshäuser unübertroffener Größe, Gestalt und Schönheit ihre Gottergebenheit zu bekunden, zeugen von der Kraft dieses Glaubens. Und auch die kirchenmusikalischen Werke eines Bach, Mozart oder beispielsweise Mendelssohn Bartholdy mit ihrer Fähigkeit, den zuhörenden Gläubigen in eine überirdisch anmutende Welt zu entführen, können als Zeugnis eines »Geist und Seele in höchste Gefilde« tragenden Glaubens gedeutet werden.

Andererseits hat diese kraftvolle, unsere Welt prägende Glaubenslehre Unheil und Unglück in ebenso unfassbarer Dimension über die Menschen gebracht: Kreuzzüge, Glaubenskriege, Inquisition, Hexenverbrennungen, Verfolgung Andersgläubiger und Zwangsmissionierungen. Aber auch die seelischen Deformationen von ungezählten Menschen durch die permanente Drohung mit Hölle und ewiger Verdammnis, sollte denn das gottgefällige Leben verfehlt werden, gehen auf ihr Konto. Auch der derzeit immense geldwerte Grundbesitz der Kirchen und seine Herkunft sowie die weltweiten, teilweise dubiosen Finanzgeschäfte des Vatikan wären einer näheren Betrachtung wert, besonders unter dem Aspekt der von Jesus gepredigten Armut.

 

(226) Selbstverständlich enthält die Bibel auch Aussagen, die anerkennenswert in ihrer Absicht sind, menschliches Verhalten moralisch so zu beeinflussen, dass wir uns auch heute damit identifizieren können. Worte wie »Wer ohne Schuld ist, der hebe den ersten Stein« oder »Die Rache ist mein, spricht der Herr« oder das von Jesus abgelehnte alttestamentarische Rachedenken »Auge um Auge, Zahn um Zahn« zeugen in ihrer zu Frieden und Verständigung aufrufenden Ermahnung davon, dass die Bibel ein Buch ist, das aufgrund seiner Jahrtausende währenden Entstehungszeit auch kulturelle Schätze bedeutender Art enthält. Diese zweifellos ebenfalls vorhandenen Bibelstellen, denen ein auch unseren heutigen Moralvorstellungen entsprechender Rang nicht abzusprechen ist, können die archaisch-inhumanen und fragwürdigen Teile innerhalb dieser »unheiligen Schrift« jedoch in keiner Weise aufwiegen. Es macht doch auch einen Raubmörder nicht zu einem Heiligen, wenn man erfährt, dass er mit einem Teil des erbeuteten Geldes ein Waisenhaus finanziert. Soll sagen, dass es die Qualität bestimmter Aussagen oder Taten nicht zulässt, durch andere relativiert oder gar aufgehoben zu werden.

Das Nebeneinander von Aussagen unterschiedlichster moralischer Qualität erhärtet die für mich schon lange bestehende Überzeugung, dass die Bibel reines Menschenwerk ist, verfasst von Menschen unterschiedlichster moralischer Natur und Absicht. Was schließlich die selektive Vorgehensweise bei der hier getroffenen Auswahl betrifft, so kopiert sie lediglich die in Schule, Konfirmandenunterricht und Predigt seit jeher übliche Methode, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen und verhält sich damit in legitimer Weise kompensatorisch. Ich habe während meines bisherigen Lebens keine der hier von mir zitierten fragwürdigen Bibelstellen zu Gehör bekommen …

 

(227) An dieser Stelle höre ich dann oft das Argument, dass man die Bibel eben nicht so buchstabenfixiert lesen dürfe, vielmehr sei zu berücksichtigen, dass in ihr vielfach in Bildern und Allegorien im Verständnis der damaligen Zeit gesprochen werde und dass manches einfach als interpretationsbedürftige Dichtung zu verstehen sei. Solche Auffassung - so würde ich darauf antworten - mag moderner Theologensicht entsprechen, über fast zwei Jahrtausende jedoch haben die Menschen das so geglaubt, wie es geschrieben steht (beziehungsweise ihnen vorgelesen wurde) und auch wörtlich gemeint war. Und die meisten Menschen verstehen die Bibel - wenn sie denn in ihr lesen - auch heute noch so. Deswegen ist meines Erachtens nicht maßgebend, was moderne Textdeutung heute hineininterpretiert, sondern allein das, was Menschen ohne diese Interpretationsmuster diesem Text unmittelbar entnehmen. Denn Lehre, Praxis und Macht des Christentums wurden und werden durch den Originaltext der Bibel bestimmt und geformt und nicht durch das, was moderne Theologen an Interpretationen entwickelt haben oder an zeitgeistiger Deutung uns anbieten.

Auch heißt es oft, man dürfe die Aussagen der Bibel nicht mit heutigen Maßstäben beurteilen, man müsse vielmehr den geschichtlichen Rahmen dieser Zeit berücksichtigen. Die Menschenrechte, die wir als Leitbild immer vor Augen hätten, seien schließlich ein Ergebnis erst der jüngeren Zeit, deshalb sei es unangebracht, an die Texte der Bibel mit diesen heutigen Kriterien heranzugehen. Das ist gewiss richtig. Dennoch war bestimmt auch damals schon das von Gott befohlene Pfählen von Andersgläubigen (Num 25, 1-5) ein Akt schlimmster Barbarei und das Zerschmettern unschuldiger Kinder an Felsen (Psalmen 137, 8-9) nichts anderes als elender Mord.

 

(245) Kaum bekannt ist, dass die evangelischen Landesbischöfe und Landeskirchenpräsidenten von Sachsen, Hessen-Nassau, Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Anhalt, Thüringen und Lübeck am 17.12.1941 sich mit folgender Erklärung eindeutig hinter das nationalsozialistische Programm der Judenverfolgung stellten:

»Die nationalsozialistische deutsche Führung hat mit zahlreichen Dokumenten unwiderleglich bewiesen, dass dieser Krieg in seinen weltweiten Ausmaßen von den Juden angezettelt ist. Als Glieder der deutschen Volksgemeinschaft stehen die unterzeichneten deutschen Evangelischen Landeskirchen und Kirchenleiter in der Front dieses historischen Abwehrkampfes, der unter anderem die Reichspolizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden als der geborenen Welt- und Reichsfeinde notwendig gemacht hat. Schon Dr. Martin Luther erhob nach bitteren Erfahrungen die Forderung, schärfste Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen und sie aus deutschen Landen auszuweisen. Von der Kreuzigung Christi bis zum heutigen Tage haben die Juden das Christentum bekämpft oder zur Erreichung ihrer eigennützigen Ziele missbraucht oder verfälscht. Durch die christliche Taufe wird an der rassischen Eigenart des Juden, seiner Volkszugehörigkeit und seinem biologischen Sein nichts geändert. Eine deutsche evangelische Kirche hat das religiöse Leben deutscher Volksgenossen zu pflegen und zu fördern. Rassejüdische Christen haben in ihr keinen Raum und kein Recht. Die unterzeichneten deutschen Evangelischen Kirchen und Kirchenleiter haben deshalb jegliche Gemeinschaft mit Judenchristen aufgehoben. Sie sind entschlossen, keinerlei Einflüsse jüdischen Geistes auf das deutsche religiöse und kirchliche Leben zu dulden.«

 

(264) Schauen wir uns an, was der durch PAPST JOHANNES PAUL II. und KARDINAL JOSEPH RATZINGER (heute PAPST BENEDIKT XVI.) gemeinsam verantwortete Katechismus sagt und - für mich - als modernes Zeugnis archaischen, alttestamentarischen und unmenschlichen Denkens festhält:

»Die Rechtfertigung [d.h. Reinwaschung von unseren Sünden, U.L.] wurde uns durch das Leiden Christi verdient, der sich am Kreuz als lebendige, heilige, Gott wohlgefällige         Opfergabe dargestellt  hat und dessen  Blut zum  Werkzeug  der Sühne für die Sünden aller Menschen geworden ist.«

An anderer Stelle heißt es:

»Auch die selige Jungfrau ging den Pilgerweg des Glaubens. Ihre Vereinigung mit dem Sohn hielt sie in Treue bis zum Kreuz, wo sie nicht ohne göttliche Absicht stand, heftig mit ihrem Eingeborenen litt und sich mit seinem Opfer in mütterlichem Geist verband, indem sie der Darbringung des Schlachtopfers, das sie geboren hatte, liebevoll zustimmte.« (Hervorhebungen von mir)

Diesen letzten, hervorgehobenen Halbsatz muss man zweimal lesen, um ihn in seiner Abartigkeit voll zu erfassen - oder sind meine Maßstäbe so völlig „verrückt“ …

 

(269) Und der Petersdom in seiner majestätischen Größe, das einmalige kirchenmusikalische Schaffen eines Johann Sebastian Bach oder das opfervolle Leben so vieler Menschen, die sich ausschließlich ihrem Gott und ihrem Glauben hingaben - alles das soll letztlich nur einer Einbildung geschuldet sein? Es fällt nicht leicht, darauf mit einem betonten »Ja« zu antworten. Aber haben wir Skrupel, dasselbe über Menschen auszusprechen, die einem anderen Glauben anhängen, über die Azteken oder Assyrer etwa, die seinerziet im Rahmen ihrer Glaubenssysteme ihre Götter auch mit größter Inbrunst und Überzeugung verehrten, …

 

(273) Die Vorstellung, dass das eigene Ende endgültig ist, dass das eigene Ich nie wieder die Möglichkeit haben wird, sich seiner und dieser Welt bewusst zu werden, dass ein Wiedersehen von geliebten Menschen nie mehr möglich sein wird, hat etwas sehr traurig Stimmendes an sich. Aber ist der Gedanke wirklich so unerträglich, dass man aus dem Nichts kommt, für einen kosmischen Augenblick dieser Welt gewahr wird und wieder im Nichts verschwindet? Ist es nicht vielmehr als etwas Unbegreifliches, Unfassbares, ja Unergründliches zu betrachten, dass die Gesetze dieses Kosmos aus dessen Bausteinen etwas zusammengefügt haben, das ein Bewusstsein von sich und dieser Welt entwickelt und das sich als ein einmaliges Ich erlebt? Unendlich viele andere Ichs sind denkbar, die aber nie die Gelegenheit hatten, in die Wirklichkeit einzutreten. Wir, die wir jetzt über unsere Endlichkeit nachdenken, hatten diese Chance, und wenn wir unser Leben gerne gelebt haben, dann können wir von einem einzigartigen Glück sprechen, über unsere Sinne und unseren Verstand etwas von der Existenz dieser Welt erfahren zu haben.

 

(275) Zu bedenken ist aber bei alledem, dass die Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, trotz ihrer höchst beeindruckenden Erfolge und der noch zu erwartenden und uns sicher auch noch sehr überraschenden Einsichten nicht in der Lage sind, auf bestimmte Fragen eine Antwort zu geben. Die Wissenschaft wird uns auf die Frage nach dem Sinn des Lebens eine Antwort schuldig bleiben. Auch die Frage, was ein erfülltes Leben sein könnte, „versteht“ die Wissenschaft nicht. Ebenso sind Probleme der Ethik keine Themen, die wie wissenschaftliche zu behandeln wären …

 

(276) Selbstverständlich gibt es Dinge, von denen - wie WILLIAM SHAKESPEARE (1564-1616) es damals schon formulierte - »sich unsere Schulweisheit nichts träumen lässt«, Dinge, die heute noch oder womöglich für immer außerhalb des für uns Erfahrbaren und Begreifbaren liegen, Dinge, die sich soweit jenseits des uns sprachlich-begrifflich Fassbaren bewegen, dass sie nicht einmal in den Horizont unseres Erahnens geraten. Eine Welt, die nur aus dem unmittelbar Erfahrbaren und Erkennbaren bestünde, wäre sicherlich um wesentliche Dimensionen verkürzt.

Die Wirklichkeit geht mit Sicherheit über das uns - wenigstens heute noch - als denkende und fühlende Menschen Zugängliche hinaus. Fragen, die man - wie erwähnt - als religiöse bezeichnen könnte, die unseren Alltag transzendieren, die auf etwas verweisen, das sich unserem Erkenntnisstreben  verschließt, sind so legitim wie Fragen des täglichen Lebens. Aber gegen die Antworten der christlichen Religion auf solche uns bewegenden Fragen wehre ich mich vehement. Was ich vor allem nicht hinnehmen will, ist, dass die Antworten auf das uns Unbegreifliche unseren Erfahrungen, Erkenntnissen und bewährten Denkmustern diametral entgegengesetzt sein sollten, dass sie als um so tiefsinniger und glaubwürdiger gelten sollten, je mehr sie unserem Verstand widersprechen. »Credo, quia absurdum - ich glaube, weil es widervernünftig ist«, wie es in dem schon erwähnten theologischen Diktum heißt …

Der Naturwissenschaft wird von seiten der Kirche gern vorgeworfen, dass sie in ihrem Erklärungsanspruch anmaßend und überheblich sei. Die dogmatisch definierte Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen der Lehre, die das l. Vatikanische Konzil 1870 beschloss, ist tatsächlich anmaßend und überheblich.

Wie überraschend ist hier die Position des derzeitigen DALAI-LAMA (* 1935), des geistlichen und früher auch politischen Oberhaupts des tibetischen Volkes. Im Vorwort seines Buches »Die Welt in einem einzigen Atom« formuliert er folgende erstaunliche Auffassung:

»Das Vertrauen, das ich in diesen Dialog [mit den Naturwissenschaften, U.L.] setze, beruht auf meiner grundlegenden Überzeugung, wonach das Verständnis der Wirklichkeit in den Naturwissenschaften - genau wie im Buddhismus - durch kritische Untersuchungen gewonnen wird. Sollte die Wissenschaft abschließend nachweisen können, dass gewisse Behauptungen des Buddhismus falsch sind, müssen wir die Erkenntnisse der Wissenschaft annehmen und überholte Anschauungen revidieren.«

Solche Offenheit und Flexibilität eines Religionsführers ist der Kirche unbekannt. Wer seinerzeit erkannte, dass die Erde nicht im Mittelpunkt der Welt steht und wagte, dieses Wissen auch öffentlich kund zu tun, wurde - wenn er der Kirche unterstand - verbrannt. Wer als Mediziner darauf verwies, dass ein Mann keineswegs eine Rippe weniger hat, jene nämlich, aus der Eva geschaffen worden sein sollte, hatte ebenfalls sein Leben verwirkt. Die DARWINsche Evolutionstheorie war in den Augen der Kirche Teufelswerk, wurde schließlich aber im Jahr 1996 von der katholischen Kirche als wissenschaftliche Erklärung für die Entwicklung der Arten und letztlich des Menschen anerkannt. Diese Anerkennung erfolgte allerdings nur unter der Bedingung, dass Gott die Entwicklung auf den Menschen als Ziel gelenkt und ihm im Gegensatz zum Tier eine unsterbliche Seele verliehen habe. (Zwischenfrage: Ab wann eigentlich verfügte der aus dem Tierreich sich entwickelnde »ebenbildliche« Mensch über eine Seele? Schon vor 100000 Jahren, schon als inzwischen ausgestorbener Neandertaler oder erst sehr viel später?)

Rückblickend betrachtet hat die Kirche in ihren Auseinandersetzungen mit der Wissenschaft ein Rückzugsgefecht nach dem anderen angetreten und stets endgültig verloren. PAPST BENEDIKT XVI. (*1927) ist vorsichtiger geworden. In einer Rede im September 2006 in der Universität Regensburg über Glauben und Vernunft beanspruchte er für Gott nur noch die Rolle als Erstbeweger und Sinnstifter.

 

(280) Und noch etwas ist von großer Merkwürdigkeit: Wenn Gott uns wirklich etwas zu sagen hat, warum sagt er es uns nicht selbst? Ganz direkt und unmittelbar und nicht durch selbsternannte Vertreter vermittelt. Warum bedarf es einer Priesterkaste, die über die Jahrhunderte oft genug gezeigt hat, wie sie die - teilweise durchaus beherzigens- und bedenkenswerten - Forderungen der Bergpredigt wie Barmherzigkeit, Nächstenliebe oder Verzicht auf nicht lebensnotwendigen Reichtum verraten hat und statt dessen eher am Ausbau ihrer Macht interessiert war. Wenn Gott wirklich auf unserer Seite steht, warum zeigt er uns das nicht so unmissverständlich, dass es nicht der Interpretationshilfe sich in so vielfacher Weise widersprechender »Zwischenhändler« bedarf? In seiner Allmacht und Weisheit dürfte es ihm nicht schwerfallen, Mittel und Wege zu finden, uns unmittelbar und glaubhaft anzusprechen. Eine solche direkte göttliche Ansprache würde wohl jeden Menschen überzeugen und machte dann die riesigen kirchlichen Verkündigungsbetriebe und die Heerscharen von Vertretern, die Gottes Wort glauben erklären zu müssen, überflüssig. Würde Gott in seiner angeblichen Fürsorge sich klar und eindeutig offenbaren, dann wären so zahllose mörderische Auseinandersetzungen zwischen seinen Anhängern unterblieben, weil sie ihn dann nicht alle unterschiedlich verstanden hätten; dann wäre so unermesslich viel menschliches Leid entfallen, weil sein aufklärendes Wort den gnadenlosen Verfolgungen in seinem Namen dann Einhalt geboten hätte. Warum äußert er sich in seiner angeblich unendlichen Liebe zu uns nicht deutlich und verständlich? Warum »schweigt und schweigt und schweigt er«? (Hans Küng) Und wenn er angeblich spricht, warum sind dann seine Worte so vieldeutig, dass sie der Interpretation seiner Propagandisten bedürfen, die dann mit vielen und sich widersprechenden Stimmen sprechen? So viele ungezählte, in den Himmel empor gestreckte, um Hilfe flehende Arme wären nicht ohne hörbare Antwort geblieben, wenn er wirklich für uns da wäre. Deswegen nein und nochmal nein zu einer solchen meinen - ich betone ausdrücklich: meinen – Verstand beleidigenden Religion.

 

(284) Für Touristen sind solche an historischen Orten stattfindenden sakralen Veranstaltungen besonders beliebte Ziele. Es spielt dabei überhaupt keine Rolle mehr, ob man selbst noch eine Beziehung zu dem beobachteten Kult hat, allein das Schauspiel interessiert, es wird als gefilmter Erlebnisbericht mit nach Hause genommen. Die Dome in Berlin und Köln, in Mailand und Rom sind für sehr viele Menschen nur noch als ästhetisches Kulturobjekt von Interesse, so wie wir das beispielsweise bei einem Tempel aus altägyptischer oder babylonischer Zeit schon immer empfunden haben. Der Glaube an das Göttliche spielt hier keine oder kaum noch eine Rolle, stattdessen stellen sich eher Bewunderung, allenfalls eine gewisse Nachdenklichkeit ein. Für nicht mehr kirchlich gebundene Menschen ist das Christentum in seiner rituellen, baulichen und musikalischen Ausprägung Kultur geworden, deren religiöser Ursprung oftmals nur noch als ergänzende Information wahrgenommen wird.

Sollte man nun redlicherweise als erklärter Nichtchrist alles Christliche aus seinem Alltag und Jahresablauf verbannen? Wie steht man als Nichtchrist zu kirchlicher Trauung und kirchlicher Beerdigung? Lebensstationen, denen die Kirche ihren eigenen Stempel aufgedrückt hat, für die sie einen würdevollen Rahmen bietet, der selbst von Kirchenfernen mangels gleichwertiger Alternative oft genug noch in Anspruch genommen wird. Auch die dem Jahreszyklus Abwechslung und Farbe verleihenden Zeiten wie Ostern, Pfingsten, Advent und Weihnachten sind christlich geprägte Tage im Jahr, auch wenn zum Beispiel Ostern ursprünglich ein heidnisches Frühlingsfest war und Weihnachten auf die germanische Sonnenwendfeier beziehungsweise auf das am gleichen Tag begangene römische Staatsfest der Geburt des Sonnengottes zurückgeht, also ebenfalls nicht-christlichen Ursprungs ist.

Ich denke, dass es falsch und unhistorisch gedacht wäre, den ganzen einmaligen Reichtum an Traditionen, Musik, Malerei und Architektur ablehnen, gar verachten zu wollen, der im Laufe der Jahrhunderte entstand und der Phantasie und der Schöpferkraft gläubiger Menschen zu verdanken ist. Es käme einer Bilderstürmerei von talibanischer Gesinnung gleich und würde die Zeitlosigkeit von Kunst verkennen, wollte man sich dieses kulturellen Erbes nur deswegen entledigen, weil der Grund seines Vorhandenseins –jedenfalls für mich und jene, für die der christliche Glaube seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat - eine gedankliche Konstruktion war. Man kann ohne Verlust an ideeller und materieller Kultur die europäische, ganz wesentlich durch das Christentum geprägte Geschichte nicht einfach zurückdrehen und an einem selbst definierten Punkt neu beginnen lassen. Die überwältigend großen, auch die Vielzahl weniger mächtiger, dennoch einfach schöner Kirchenbauten, die phantasiereichen und vielfach unerreichten Malereien und Skulpturen als Zeugnis christlicher Frömmigkeit und Ergebenheit, vor allem die von Menschen selbst unterschiedlichster religiöser oder weltanschaulicher Auffassung fast wie ein himmlisches Geschenk empfundene geistliche Musik eines Bach, Händel, Mozart, Bruckner oder beispielsweise die unvergleichlich schönen gregorianischen Gesänge stellen einen unschätzbaren Wert schon für sich allein dar. Eine Vielzahl solcher Werke ist Bestandteil meiner Musik-CD-Sammlung. Sie abzulehnen, nur weil der Grund ihres Erschaffenwerdens für viele Menschen nicht mehr existiert, würde den Eigenwert von Kunst ignorieren. Die Verzweiflung und die Hoffnung, die Trauer und die Freude, die menschliche Sehnsucht nach Halt und Trost, die eine Messe oder Kantate zum Ausdruck bringt, kann auch ohne ihren Bezug zur christlichen Verkündigung erlebt und verstanden werden. Kirchliche Kunst kann auch in einem nicht-gläubigen Menschen das Gefühl aufkommen lassen, dass es Fragen gibt, die über uns hinausweisen, auf die

jeder seine eigenen Antworten finden muss, dass es etwas gibt, das uns im Innern bewegt, unser Verstand aber kaum in Worte fassen kann.

 

(286) Denn auch ein gläubiger Christ erfreut sich ja an griechischer, an ägyptischer oder vielleicht alter mittelamerikanischer religiöser Kunst und bewundert sie, unabhängig davon, dass er die damit seinerzeit verehrten Götter heute als Phantasiegebilde betrachtet. Diese Werke haben sich für ihn als Betrachter losgelöst von ihrem jeweiligen konkreten religiösen Motiv.

 

(287) Was dieser Form eines wieder verweltlichten Weihnachtsfestes fehlen würde, ist eine das Gefühl ansprechende, gemeinschaftlich erlebte Feierlichkeit. Dass sich zu Weihnachten regelmäßig die Kirchen füllen, ist für mich weniger Zeichen einer jährlich einmal aufflackernden Frömmigkeit, sondern vielmehr der unbewusst sich äußernde Wunsch nach einer gefühlsmäßigen Überhöhung eines solchen Tages, die in uns eine Ahnung aufsteigen lässt, dass das Leben aus mehr besteht als aus der rationalen Bewältigung des täglichen Lebens, dass es Fragen gibt, die unser Wissen über die Welt und uns übersteigen, die sich der Beantwortung entziehen und doch als Fragen immer da sind. Es fehlt eine Form von Feierlichkeit, die das Gemüt - oder wenn man es lieber so ausdrücken möchte: die Seele - anspricht, ohne den Verstand zu kränken.

Deswegen sei noch einmal betont: Die Ablehnung der christlichen Religion bedeutet für mich keinesfalls auch Ablehnung einer Art religiöser oder spiritueller Dimension überhaupt, einer Dimension also, die jenseits unserer Erkenntnis und Erfahrung liegt, unsere Alltagslogik übersteigt und damit über die uns rational zugängliche Welt hinausweist. Ob diese »jenseitige Welt« uns immer verschlossen bleiben wird, weil unseren Verstand prinzipiell übersteigend oder ob wir sie über wissenschaftliches Erforschen zunehmend zum Diesseits machen können, ist für mich derzeit nicht entscheidbar. Die Anerkennung einer unsere erkenn- und erlebbare Wirklichkeit transzendierenden Dimension bedeutet aber andererseits keinesfalls auch Zustimmung zu den nur noch historisch zu begreifenden naiven Vorstellungen von einem Himmel, einer Hölle und einem richtenden Gott, der zu Paradies oder ewigen Verdammnis verurteilt. EINSTEIN hat es etwas pathetisch so formuliert:

»Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen. Einen Gott, der die Objekte seines Schaffens belohnt und bestraft, der überhaupt einen Willen hat nach Art desjenigen, den wir an uns selbst erleben, kann ich mir nicht einbilden.«

Für viele Menschen ist jedoch die Bibel immer noch ein Buch, das ihr Gefühl beziehungsweise ihren Glauben in Worte fasst, dass es eine Wirklichkeit gibt, die jenseits unserer Einsicht liegt. Die Bibel oder genauer gesagte das was sie aufgrund selektiver Zitierpraxis als Bibel ansehen (ohnehin fast nur die bekannten Passagen aus dem neuen Testament!), mag daher unsicheren Menschen eine Hilfe bei der Suche nach metaphysischer Orientierung sein. Deswegen möchte ich auch sagen: Wer sich als eigentlich mündiger Mensch überfordert fühlt und sich nicht traut, auf seinen Verstand zu bauen, sich stattdessen nach einer Autorität sehnt, die ihm sagt, was er zu tun hat, der mag mit seinem christlichen Glauben, wie er sich ihn auch zurecht gelegt haben mag, besser fahren. Ich begegne dem berühmten »alten gläubigen Mütterchen« mit Verständnis und Respekt. Und würde ich gefragt, ob es siel vor der Hölle fürchten müsste, würde ich zu einer frommen Lüge greifen und sagen, dass Gott jeden Menschen, der sich ehrlich bemüht hat, ein guter Mensch zu sein, bestimmt zu sich aufnehmen würde. Warum einen Menschen mit der eigenen Überzeugung »beglücken«, wenn man ihn dadurch in Unsicherheit oder gar Verzweiflung stürzen würde.

Wir Menschen sehnen uns nach Sicherheit, Es scheint so zu sein, dass manche Menschen besser mit Lebenskrisen wie Tod und schwerer Krankheit umgehen können, wenn sie ein starker Glaube erfüllt. Viele Menschen fühlen sich daher vom Christentum, vom jüdischen oder muslimischen Glaubet oder anderen Glaubenssystemen angezogen, die auf jede Lebenssituation scheinbar eine Antwort haben. Diese Menschen finden es beruhigend, wem aus einer als heilig angesehenen Schrift immer eine passende Weisheit zitiert werden kann, die als Lebenshilfe deutbar ist. Je einfacher diese Vorschriften, um so besser; sie machen einfaches Denken und Handeln in einer unüberschaubar gewordenen Welt möglich. Diese Menschen lieben Lebensregeln, die Tag und Jahr strukturieren, und unterwerfen sich gern verpflichtenden, Demut zeigende Riten. Es ist dies die Sehnsucht nach Halt und Orientierung und die Hoffnung auf Belohnung, die aus einerjenseitigen Welt versprochen wird.

 

(303) Solche sehr generell gehaltenen Fragen wie die nach dem Urgrund alles Seins, nach dem Woher und Wohin unserer Existenz, nach einem Weiterleben einer vermuteten Seele über den körperlichen Tod hinaus, nach einer möglichen außerweltlichen Orientierung unseres Denkens und Handelns bilden wohl den Ursprung aller Religionen. Menschen stellten sich solche, den Horizont ihrer Alltagswelt überschreitende Fragen seit jeher, unabhängig zunächst von irgendeinem spezifischen religiösen System. Auch ein Mensch mit einer naturalistisch ausgerichteten Weltsicht wird solchen Fragen nicht von vornherein die Berechtigung absprechen und sie als sinnlos bezeichnen. Seine möglichen Antworten würden allerdings so ausfallen, dass sie logischen Kriterien und empirischer Erfahrung nicht widersprechen, Merkmale also, die auf wesentliche Aussagen des biblisch-christlichen Glaubenssystems schwerlich zutreffen.

 

(304) (H.v.Ditfurth) »Als Aberglaube muss eine Überzeugung angesehen werden, die nachweislich unhaltbare Behauptungen einschließt (indem sie z.B. konkret vorliegenden oder nachprüfbaren Erfahrungen widerspricht).«

Ich habe hier die Einstellung von HOIMARV. DITFURTH ausführlicher dargestellt, nicht so sehr, um mich mit seinem Buch auseinander zu setzen, sondem weil er mir typisch zu sein scheint in seiner Haltung gegenüber Christentum und Kirche für eine ganze Klasse von Intellektuellen. Er repräsentiert jene nicht gerade kleine Schar Intellektueller, die in souveräner Manier und ganz allgemein für christlich-religiöse Positionen eintritt, im konkreten Fall jedoch Festlegungen und klare Aussagen vermeidet, stattdessen in Gesprächen dann gern auf die Zeitgebundenheit biblischer Texte verweist, auf die symbolisch gemeinte Bedeutung von sakralen Handlungen, auf die gesellschaftliche Notwendigkeit einer jenseitigen absoluten moralischen Instanz, überhaupt auf die kulturellen Leistungen des Christentums. Ganz allgemein wird der Eindruck vermittelt, dass christliche Lehre und moderne Wissenschaft sehr wohl vereinbar seien, obwohl man insgeheim, wenn man ehrlich zu sich selbst ist, die Unvereinbarkeit allenthalben mindestens ahnen müsste.

 

(326) Abschließend noch dies: Ich habe in diesem Buch mit grundsätzlicher Kritik an Kirche und Christentum nicht gespart und habe meine Ablehnung dieser Religion sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Was ich aber mit Respekt anerkenne, ist die praktische Hilfe, der tatsächlich »Leid mindernde und Glück vermehrende« Dienst von ungezählten Pfarrerinnen, Pfarrern, Nonnen, Diakonissen und anderen Menschen, die aufgrund ihrer christlichen Einstellung Nächstenliebe praktizieren. Auch andere Religionsgemeinschaften könnten hier genannt werden. Die Motive unseres Handelns mögen mitunter ganz unterschiedliche sein, es zählt allein, was der Schriftsteller ERICH KÄSTNER (1899-1974) einst so formulierte: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter - sie steht im Lukas-Evangelium in Kapitel 10, Vers 25-37 - ist hier ein schönes Beispiel für Nächstenliebe: Dem Andern selbstlos helfen, weil er leidet, gleichgültig von welcher Stammeszugehörigkeit oder religiösen Auffassung er ist. In einer solchen Praxis sehe ich eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit auch mit einem mir ansonsten fernstehenden christlichen Glauben.

 

(328) Das in Kapitel V, 3 »lst Moral ohne Gott möglich?« dargestellte Prinzip Faimess mit den Beurteilungskriterien »fair« beziehungsweise »unfair« bei der Lösung von Interessenkonflikten, die zwischen Menschen natürlicherweise bestehen, scheint mir ein sehr gelungener, dem Menschen gerecht werdender Ansatz zu sein. Im Zentrum meines humanistischen Konzepts steht jedenfalls für mich der Satz, der in den Ohren vieler Menschen wie eine Provokation klingen mag, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei und nicht eine vermeintlich über uns stehende jenseitige Instanz.

Nun könnte man einwenden, dass das Faimess-Prinzip mit seinen Kriterien »fair« und »unfair« ebenso willkürlich gesetzt sei wie das oben abgelehnte Schuldprinzip, das aus den Kriterien »gut« und »böse« folgt. Der Einwand ist berechtigt, tatsächlich ist auch diese Setzung willkürlich erfolgt. Auch der Satz, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, ist lediglich die Spiegelung der Behauptung, dass ein göttliches Gesetz die oberste Richtschnur menschlichen Verhaltens sei. Es ist daher an dieser Stelle notwendig, sich darüber klar zu werden, wie menschliche Normen, Gesetze und Verhaltensregeln zu Stande kommen: Sie werden in der Tat gesetzt beziehungsweise gefordert oder aus übergeordneten, ebenfalls gesetzten Normen und Regeln abgeleitet. Sind sie deshalb willkürliche Setzungen? Ja und nein. Sie sind insofern willkürlich, als sie letztlich nicht logisch oder wissenschaftlich bewiesen oder widerlegt werden können wie zum Beispiel ein mathematischer Satz oder ein physikalisches Gesetz. Sie müssen dennoch nicht beliebig sein, weil sie mit dem Anspruch - ebenfalls eine Setzung! – verknüpft sein können, unmittelbar einsichtig und in ihren Konsequenzen zustimmungsfähig zu sein.

Wir können uns das am Beispiel der so genannten Menschenrechte verdeutlichen. Die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« wurde 1948 von den Vereinten Nationen verkündet und ist damit Grundlage des heute gültigen Völkerrechts geworden. Der Grundgedanke dieser Erklärung kommt gleich in den ersten drei Artikeln zum Ausdruck, dass nämlich

»alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind« (Artikel l),

und zwar »ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand« (Artikel 2),

und »jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person« (Artikel 3).

Allgemeine Menschenrechte wurden erstmals in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 formuliert. Dort heißt es ebenso bestimmend:
»Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden, worunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit sind.«

Bemerkenswert erscheint mir, dass schon damals das »Streben nach Glückseligkeit« als ein selbstverständliches Menschenrecht angesehen wurde.

Betrachtet man diese beiden Menschenrechts-Erklärungen näher, so wird man feststellen, dass sie lediglich Forderungen und Bekenntnisse darstellen. Diese können nicht bewiesen, sie können nur verlangt oder behauptet werden.

 

(352) Ich selbst verwende für mich den Begriff Atheist nicht, obwohl von meiner Einstellung her eine solche Bezeichnung zutreffend wäre. Ich definiere meine Weltanschauung weniger in Abgrenzung gegen eine Auffassung …